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Michel Houellebecq

Ausweitung der Kampfzone

Roman

Aus dem Französischen
von Leopold Federmair

Verlag Klaus Wagenbach Berlin

Inhalt

Erster Teil

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Zweiter Teil

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Dritter Teil

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Die französische Originalausgabe erschien 1994 unter dem Titel Extension du domaine de la lutte im Verlag Maurice Nadeau in Paris.

Ausweitung der Kampfzone erschien erstmals 1999 als Quartbuch im Verlag Klaus Wagenbach.

E-Book-Ausgabe 2015

© 1994 Maurice Nadeau
© 1999, 2006, 2012 für die deutsche Ausgabe:
Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN 978 3 8031 4182 8
Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 2689 4

Erster Teil

Eins

»Die Nacht ist fortgeschritten, der Tag nähert sich.
Befreien wir uns also von den Werken der Finsternis, kehren wir zurück zu den Waffen des Lichts.«

Römerbrief, XIII, 12

Am Freitagabend war ich bei einem Arbeitskollegen eingeladen. Ungefähr dreißig Leute, alles mittlere Führungskräfte, fünfundzwanzig bis vierzig Jahre alt. Irgendwann begann plötzlich so eine kleine Verrückte sich auszuziehen. Erst hat sie ihr T-Shirt ausgezogen, dann den BH, dann ihren Rock, wobei sie unglaubliche Grimassen schnitt. Ein paar Sekunden lang drehte sie sich, nur mit dem Höschen bekleidet, im Kreis, und als ihr nichts mehr einfiel, begann sie sich wieder anzuziehen. Sie ist sonst ein Mädchen, das mit keinem ins Bett geht. Was das Absurde ihres Auftritts unterstreicht.

Nach meinem vierten Glas Wodka wurde mir ziemlich schlecht, ich musste mich hinlegen und ließ mich auf einen Haufen Kissen hinter dem Sofa fallen. Kurze Zeit später setzten sich zwei Frauen auf dieses Sofa. Keine Schönheiten, im Gegenteil: die beiden dicken Würstchen unserer Abteilung. Sie gehen zusammen essen und lesen Bücher über die Sprachentwicklung bei Kindern und ähnliches Zeug.

Sie fingen gleich an, die Neuigkeiten des Tages durchzugehen, dass nämlich ein Mädchen unserer Abteilung in einem superscharfen Minirock zur Arbeit gekommen war, der ihr gerade eben den Hintern bedeckte.

Und wie fanden sie das? Sie fanden das ausgezeichnet. Ihre Silhouetten zeichneten sich an der Wand über mir ab wie bizarr vergrößerte chinesische Schatten. Ihre Stimmen schienen von hoch oben zu kommen, ein wenig so, als spräche der Heilige Geist. Allerdings ging es mir in diesem Moment wirklich nicht gut.

Fünfzehn Minuten lang reihten sie Plattitüden aneinander: dass sie das Recht hat, sich nach ihrem Geschmack zu kleiden, dass sie deshalb noch lange nicht darauf aus ist, alle Typen zu verführen, dass sie sich bloß in ihrer Haut wohlfühlen will, sich selber gefallen will usw. Die letzten bestürzenden Überreste nach dem Fall des Feminismus. Irgendwann habe ich diese Worte sogar mit lauter Stimme ausgesprochen: »Die letzten bestürzenden Überreste nach dem Fall des Feminismus.« Aber sie haben mich nicht gehört.

Auch mir war dieses Mädchen aufgefallen. Sie war nicht leicht zu übersehen. Sogar der Abteilungsleiter hatte einen Ständer.

Vor dem Ende der Diskussion bin ich eingeschlafen, aber ich hatte einen unangenehmen Traum. Die beiden Würstchen standen Arm in Arm auf dem Gang, der unsere Abteilung durchläuft, sie warfen die Beine in die Luft und sangen aus vollem Hals:

»Wenn ich meinen Arsch verneige,

Will ich nicht verführen!

Wenn ich Schenkelhaare zeige,

Will ich mich vergnügen!«

Das Mädchen mit dem Minirock stand in einer Türöffnung, aber diesmal trug sie ein langes schwarzes Kleid, wirkte mysteriös und zurückhaltend. Sie betrachtete die beiden lächelnd. Auf ihren Schultern saß ein riesiger Papagei, der den Abteilungsleiter darstellte. Von Zeit zu Zeit streichelte sie ihm mit lässiger, aber fachkundiger Hand das Bauchgefieder.

Als ich erwachte, merkte ich, dass ich auf den Teppich gekotzt hatte. Die Party ging dem Ende zu. Ich verbarg das Gekotzte unter einem Haufen Kissen, dann rappelte ich mich hoch und wollte versuchen, nach Hause zu fahren. Da erst fiel mir auf, dass ich meinen Wagenschlüssel verloren hatte.

Zwei

Jede Menge Marcels

Der übernächste Tag war ein Sonntag. Ich habe das ganze Stadtviertel abgesucht, aber der Wagen blieb unauffindbar. Ich erinnerte mich nicht im Geringsten, wo ich ihn abgestellt hatte; alle Straßen schienen mir gleichermaßen in Frage zu kommen. Die Rue Marcel Sembat, Marcel Dassault ... alles Marcel. Rechteckige Wohnhäuser, in denen die Leute wohnen. Ein heftiges Gefühl von Gleichförmigkeit. Aber wo war mein Wagen?

Während ich zwischen all diesen Marcels umherstreifte, überkam mich immer mehr ein Widerwille gegen die Autos und überhaupt gegen die Dinge dieser Welt. Seit ich ihn gekauft habe, hat mir mein Peugeot 104 nichts als Ärger beschert: verschiedenste, kaum verständliche Reparaturen, kleine Zusammenstöße ... Natürlich geben sich die gegnerischen Fahrer in diesen Fällen locker, sie zücken ihre Formulare für gütliche Einigung und sagen: »Okay, nicht so schlimm«, aber im Grunde werfen sie einem hasserfüllte Blicke zu. Ziemlich widerwärtig ist das.

Außerdem, wenn man die Sache genauer betrachtete, fuhr ich ohnehin mit der Metro zur Arbeit; an den Wochenenden fuhr ich kaum noch ins Grüne, weil mir keine Ziele einfielen; hatte ich Ferien, so entschied ich mich meistens für eine organisierte Reise, manchmal für einen Aufenthalt im Club. »Wozu dieses Auto?«, wiederholte ich mir ungeduldig, als ich in die Rue Emile Landrin bog.

Dennoch kam mir erst beim Einbiegen in die Rue Ferdinand Buisson der Gedanke, Anzeige wegen Diebstahls zu erstatten. Zahllose Autos werden heutzutage gestohlen, vor allem in der nahen Banlieue; die kleine Geschichte würde ohne Weiteres verstanden und geschluckt werden, sowohl von der Versicherungsgesellschaft als auch von meinen Arbeitskollegen. Oder sollte ich ihnen etwa gestehen, dass ich meinen Wagen verloren hatte? Man würde mich unweigerlich für einen Witzbold halten, für nicht ganz normal oder für einen Hanswurst. Nein, das wäre nicht klug. Wenn es um so etwas geht, sind Scherze überhaupt nicht gefragt; bei diesen Dingen kommt man zu seinem guten oder schlechten Ruf, Freundschaften festigen sich oder zerbrechen. Ich kenne das Leben, ich bin es gewohnt. Wenn einer zugibt, dass er seinen Wagen verloren hat, erklärt er praktisch seinen Austritt aus dem Gemeinwesen; Diebstahl klingt entschieden besser.

Später am Abend wurde meine Einsamkeit schmerzlich spürbar. Beschriebene Blätter, leicht befleckt von einem Rest Saupiquet-Thunfisch auf katalanische Art, übersäten den Küchentisch. Es handelte sich um Notizen zu einer Tiererzählung. Die Tiererzählung ist ein literarisches Genre wie andere auch, vielleicht sogar höher zu bewerten; wie dem auch sei, ich schreibe Tiererzählungen. Diese hier trug den Titel »Gespräche zwischen einer Kuh und einem Fohlen«; man könnte sie als ethische Betrachtung bezeichnen; angeregt wurde sie durch einen kurzen, berufsbedingten Aufenthalt im Pays de Léon. Hier ein charakteristischer Ausschnitt: »Betrachten wir zuerst die bretonische Kuh. Das ganze Jahr über denkt sie nur ans Weiden, ihr glänzendes Maul senkt und hebt sich mit beeindruckender Regelmäßigkeit, und kein ängstliches Zittern trübt den pathetischen Blick ihrer hellbraunen Augen. Das alles scheint sehr bedeutend; das alles scheint sogar auf eine tiefe existentielle Einheit zu verweisen, auf eine in mehrerlei Hinsicht beneidenswerte Einheit zwischen ihrem Dasein und ihrem Sein. Doch leider sieht sich der Philosoph in diesem Fall bei einem Fehler ertappt, und seine Schlussfolgerungen, obgleich auf eine tiefe und richtige Intuition sich gründend, werden von schweren Gebrechen befallen, wenn er nicht zuvor daran gedacht hat, sich naturkundliche Kenntnisse anzueignen. Tatsächlich ist das Wesen der bretonischen Kuh ein doppeltes. Zu gewissen Zeiten des Jahres, die der unerbittliche Ablauf des genetischen Programms auf das Genaueste festlegt, vollzieht sich in ihrem Wesen eine erstaunliche Veränderung. Ihr Muhen wird kräftiger und anhaltender, und die harmonische Struktur dieses Muhens verändert sich so sehr, dass es manchmal auf verblüffende Weise an gewisse Klagelaute erinnert, wie sie den Menschenkindern entfahren. Die Bewegungen der Kuh werden schneller, nervöser; mitunter trippelt sie. Sogar ihr Maul, das doch in seiner glänzenden Regelmäßigkeit wie geschaffen schien, um die absolute Dauer einer mineralischen Weisheit widerzuspiegeln, verzieht und verzerrt sich unter der schmerzhaften Wirkung eines übermächtigen Begehrens.

Des Rätsels Lösung ist sehr einfach, nämlich wie folgt: Der bretonischen Kuh steht der Sinn danach (und sie manifestiert auf diese Weise – der Gerechtigkeit halber sei es gesagt – das einzige Begehren ihres Lebens), ‹sich stopfen zu lassen›, wie es in der zynischen Sprache der Viehzüchter heißt. Die Züchter stopfen die Kuh, auf mehr oder minder direkte Weise; die Spritze der künstlichen Besamung kann, wenn auch um den Preis gewisser emotionaler Komplikationen, zu diesem Zweck den Stierpenis ersetzen. In beiden Fällen beruhigt sich die Kuh und kehrt zu ihrem bedächtig meditativen Urzustand zurück, mit dem einen Unterschied, dass sie ein paar Monate später einem entzückenden Kälbchen das Leben schenken wird. Was, nebenbei gesagt, für den Züchter ein gutes Geschäft ist.«

Natürlich symbolisierte der Viehzüchter Gott. Von einer irrationalen Zuneigung zum Fohlen getrieben, versprach er diesem schon im nächsten Kapitel die ewige Lust zahlloser Hengste, während die Kuh, der Sünde des Hochmuts schuldig, nach und nach zu den traurigen Freuden der künstlichen Befruchtung verdammt wurde. Das pathetische Muhen des Horntiers erwies sich als ungeeignet, das Urteil des Großen Baumeisters ins Wanken zu bringen. Einer Abordnung von Schafen, die sich solidarisch erklärt hatten, erging es nicht besser. Der in dieser kurzen Erzählung auftretende Gott war, wie man sieht, kein barmherziger Gott.

Drei

Die Schwierigkeit ist, dass es nicht genügt, wenn Sie genau den Regeln entsprechend leben. Es gelingt Ihnen ja (wenn auch oft nur ganz knapp, aber alles in allem schaffen Sie es doch), den Regeln entsprechend zu leben. Ihre Steuererklärung ist in Ordnung. Die Rechnungen werden pünktlich bezahlt. Sie gehen nie ohne Personalausweis aus dem Haus (nicht zu vergessen: das kleine Etui für die Scheckkarte ...).

Trotzdem haben Sie keine Freunde.

Die Regeln sind komplex und vielfältig. Außerhalb der Arbeitsstunden sind da die Einkäufe, die Sie wohl oder übel erledigen müssen, die Bargeldautomaten, von denen Sie Geld abheben müssen (und vor denen Sie oft Schlange stehen). Vor allem sind da die verschiedenen Zahlungen, die Sie den Institutionen zukommen lassen müssen, die die verschiedenen Aspekte Ihres Lebens verwalten. Zu allem Überfluss können Sie auch noch krank werden, was zusätzliche Kosten und Formalitäten mit sich bringt.

Dennoch bleibt ein Stück Freizeit übrig. Was tun? Wie sie nützen? Vielleicht sich den Mitmenschen widmen? Aber im Grunde interessieren die Mitmenschen Sie kaum. Platten hören? Das war einmal eine Lösung, aber im Lauf der Jahre mussten Sie einsehen, dass Musik Sie von Mal zu Mal weniger berührt.

Basteln, im weitesten Sinne, könnte ein Weg sein. Aber in Wahrheit kann nichts die immer häufigere Wiederkehr jener Augenblicke verhindern, in denen Ihre absolute Einsamkeit, das Gefühl einer universellen Leere und die Ahnung, dass Ihre Existenz auf ein schmerzhaftes und endgültiges Desaster zuläuft, Sie in einen Zustand echten Leidens stürzen.

Trotzdem haben Sie immer noch keine Lust zu sterben.

Sie haben ein Leben gehabt. Es gab Augenblicke, in denen hatten Sie ein Leben. Natürlich erinnern Sie sich nicht mehr genau daran; aber es gibt Fotografien, die es beweisen. Wahrscheinlich war das in Ihrer Jugendzeit oder ein wenig später. Wie groß war damals Ihr Lebenshunger! Die Existenz schien Ihnen reich an ungeahnten Möglichkeiten. Sie hätten Schlagersänger werden oder nach Venezuela gehen können.

Was noch überraschender ist, Sie hatten eine Kindheit. Sehen Sie sich ein siebenjähriges Kind an, das mit seinen Spielzeugsoldaten auf dem Wohnzimmerteppich spielt. Bitte sehen Sie aufmerksam hin. Seit der Scheidung hat es keinen Vater mehr. Seine Mutter, die einen wichtigen Posten in einer Kosmetikfirma bekleidet, sieht es eher selten. Trotzdem spielt das Kind mit seinen Miniatursoldaten und bekundet für diese Figuren aus der Welt des Krieges ein lebhaftes Interesse. Sicher, es fehlt ihm bereits ein wenig an Zuneigung; aber wie es sich mit ganzer Seele für die Welt interessiert!

Auch Sie haben sich für die Welt interessiert. Das ist lange her; versuchen Sie bitte, sich daran zu erinnern. Das Gebiet der Vorschriften hat Ihnen nicht mehr genügt; Sie konnten nicht länger im Gebiet der Vorschriften leben; also mussten Sie in die Kampfzone eindringen. Versetzen Sie sich bitte genau an diesen Zeitpunkt zurück. Es ist lange her, nicht wahr? Erinnern Sie sich: Das Wasser war kalt.

Jetzt sind Sie weit weg vom Ufer. O ja, wie weit weg Sie vom Ufer sind! Lange Zeit haben Sie an die Existenz eines anderen Ufers geglaubt; jetzt nicht mehr. Trotzdem schwimmen Sie weiter, und jede Ihrer Bewegungen bringt Sie dem Ertrinken näher. Sie bekommen keine Luft mehr, Ihre Lungen brennen. Das Wasser kommt Ihnen immer kälter vor, immer bitterer kommt es Ihnen vor. Sie sind nicht mehr ganz jung. Sie werden sterben, jetzt gleich. Es ist nichts. Ich bin da. Ich lasse Sie nicht fallen. Lesen Sie weiter.

Erinnern Sie sich noch einmal an Ihr Eindringen in die Kampfzone.

Die folgenden Seiten bilden einen Roman. Ich verstehe darunter eine Abfolge von kleinen Geschichten, deren Held ich bin. Es ist wirklich nicht eine Entscheidung für einen autobiographischen Stil; so oder so bleibt mir keine andere Wahl. Wenn ich nicht aufschreibe, was ich gesehen habe, werde ich ebenso leiden – vielleicht sogar ein wenig mehr. Nur ein wenig, das will ich betonen. Das Schreiben bringt kaum Erleichterung. Es zieht Linien nach und grenzt ab. Es führt die Spur eines Zusammenhangs ein, eine Ahnung von Realismus. Man watet zwar immer noch in einem blutigen Nebel, doch gibt es wenigstens ein paar Anhaltspunkte. Das Chaos ist nur noch ein paar Meter entfernt. Ein schwaches Ergebnis, schon wahr.

Welch ein Kontrast zur absoluten, wunderbaren Macht des Lesens! Ein Leben lang nichts als Lesen, das hätte meine Wünsche erfüllt; ich wusste es schon mit sieben Jahren. Die Beschaffenheit der Welt ist schmerzhaft und ungeeignet; ich glaube nicht, dass sich daran etwas ändern lässt. Wirklich, ein mit Lesen ausgefülltes Leben hätte mir besser gepasst.

Ein solches Leben war mir nicht vergönnt.

Vor kurzem bin ich dreißig geworden. Nach chaotischem Beginn verlief mein Studium ziemlich erfolgreich; heute bin ich eine mittlere Führungskraft. Als Programmierer in einem EDV-Dienstleistungsbetrieb verdiene ich netto das Zweieinhalbfache vom Mindestlohn; das ist eine ganze Menge Kaufkraft. Im Schoße meiner Firma wird sie mit der Zeit deutlich ansteigen; es sei denn, ich entschließe mich wie viele andere, bei einem unserer Kunden einzusteigen. Im Großen und Ganzen kann ich mit meiner gesellschaftlichen Stellung zufrieden sein. In sexueller Hinsicht dagegen sieht es weniger berauschend aus. Ich habe mehrere Freundinnen gehabt, aber immer nur für kurze Zeit. Da ich nicht besonders schön oder charmant bin und zudem häufig unter Depressionen leide, entspreche ich dem, was die Frauen in erster Linie suchen, nicht im Geringsten. Auch habe ich bei den Frauen, die mir ihre Organe geöffnet haben, immer einen leichten Widerwillen gespürt; im Grunde war ich für sie nicht viel mehr als ein Notbehelf. Nicht gerade ein idealer Ausgangspunkt für eine dauerhafte Beziehung.

Seit meiner Trennung von Véronique vor zwei Jahren habe ich nicht eine einzige Frau kennengelernt. Die schwachen und inkonsequenten Versuche in dieser Richtung haben bloß zu vorhersehbaren Misserfolgen geführt. Zwei Jahre, das erscheint als eine lange Zeit. Aber in Wirklichkeit vergehen sie, vor allem wenn man arbeitet, sehr schnell. Das wird Ihnen jeder bestätigen: zwei Jahre vergehen sehr schnell.

Vielleicht sind Sie, geneigter Freund und Leser, ja selbst eine Frau. Das kann schon vorkommen; machen Sie sich nichts daraus. Außerdem ändert es wenig an dem, was ich Ihnen zu sagen habe. Bei mir gibt es für jeden Geschmack etwas.

Nun will ich Sie nicht mit feinsinnigen psychologischen Darstellungen bezaubern. Es geht mir nicht darum, Ihnen durch Raffinesse und Humor Beifall zu entlocken. Es gibt Autoren, die ihr Talent zur subtilen Beschreibung verschiedenartigster Seelenzustände, Charakterzüge usw. benutzen. Zu ihnen gehöre ich nicht. Die Anhäufung realistischer Details, durch die vor dem inneren Auge des Lesers differenzierte Figuren entstehen sollen, ist mir immer als, entschuldigen Sie, wenn ich das sage, reines Gewäsch erschienen. Daniel, der mit Hervé befreundet ist, aber eine gewisse Abneigung gegen Gérard verspürt. Das Phantom Paul, das sich in Virginia verkörpert; die Venedigreise meiner Kusine ... Damit könnte man Stunden zubringen. Was dasselbe ist, wie wenn man Hummer beobachtet, die in einem Aquarium aufeinander herumkriechen (es genügt dazu, in ein Fischrestaurant zu gehen). Im Übrigen verkehre ich wenig mit Menschen.

Im Unterschied dazu werde ich, um mein Ziel zu erreichen, das mehr ins Philosophische geht, vor allem Streichungen vornehmen müssen. Ich werde vereinfachen müssen. Schlag um Schlag eine Menge Details vernichten. Dabei wird mir das simple Spiel der Bewegung der Zeitgeschichte helfen. Vor unseren Augen uniformiert sich die Welt; die Telekommunikation schreitet unaufhaltsam voran; neue Apparaturen bereichern das Wohnungsinventar. Zwischenmenschliche Beziehungen werden zunehmend unmöglich, was die Zahl der Geschichten, aus denen sich ein Leben zusammensetzt, entsprechend verringert. Und langsam erscheint das Antlitz des Todes in seiner ganzen Herrlichkeit. Das dritte Jahrtausend lässt sich gut an.

Vier

Bernard, oh Bernard

Als ich am nächsten Montag wieder ins Büro kam, erfuhr ich, dass meine Firma soeben ein Software-Paket an das Landwirtschaftsministerium verkauft hatte und dass ich dazu bestimmt worden war, die Einführung zu übernehmen. Dies wurde mir von Henry La Brette angekündigt (ihm liegt viel an dem »y«, wie auch an der Trennung seines Familiennamens). Henry La Brette ist wie ich dreißig Jahre alt und mein unmittelbarer Vorgesetzter; unsere Beziehungen sind im Allgemeinen von einer dumpfen Feindseligkeit geprägt. Als wäre es ihm ein persönliches Vergnügen, mir Ärger zu machen, hat er mir gleich zur Begrüßung eröffnet, dass dieser Vertrag mehrere Dienstreisen nötig machen würde: nach Rouen, nach La Roche-sur-Yon und wer weiß wohin noch. Diese Reisen sind für mich immer ein Albtraum gewesen; Henry La Brette weiß das genau. Ich hätte antworten können: »Na gut, dann kündige ich.« Aber ich habe es nicht getan.

Lange bevor das Wort in Mode kam, hat meine Firma eine regelrechte »Unternehmenskultur« entwickelt (Schaffung eines Logos, Verteilung von Sweat-Shirts an die Angestellten, Motivationsseminare in der Türkei). Wir sind ein leistungsstarker Betrieb, der auf seinem Gebiet einen beneidenswerten Ruf genießt; in jeder Hinsicht ein guter Laden. Es versteht sich von selbst, dass ich hier nicht aus einer Laune heraus kündigen kann.

Es ist zehn Uhr morgens. In einem weißen, ruhigen Büro sitze ich einem Typ gegenüber, etwas jünger als ich, der vor kurzem in die Firma eingetreten ist. Ich glaube, er heißt Bernard. Seine Mittelmäßigkeit ist schwer zu ertragen. Er redet ununterbrochen von Geldanlagen und Gewinnchancen: Investmentgesellschaften, Pfandbriefe, Bausparverträge ... alles wird durchgegangen. Er rechnet mit einem Zinssatz, der eine Spur höher liegt als die Inflationsrate. Langsam geht er mir auf die Nerven; es gelingt mir nicht, eine Antwort zu finden. Sein Schnurrbart bewegt sich.

Als er das Büro verlässt, kehrt die Stille zurück. Wir arbeiten in einem vollkommen verwüsteten Stadtteil, der vage an eine Mondlandschaft erinnert. Irgendwo im 13. Arrondissement. Wenn man mit dem Bus kommt, könnte man wahrhaftig meinen, der dritte Weltkrieg sei gerade vorbei. Aber nein, es handelt sich bloß um einen Sanierungsplan.

Unsere Fenster gehen auf eine nahezu grenzenlose, mit Bretterzäunen gespickte Schlammwüste. Ein paar Betonskelette. Stillstehende Kräne. Die Atmosphäre ist ruhig und kalt.

Bernard kommt zurück. Um die Stimmung aufzuheitern, erzähle ich ihm, dass es in dem Haus, wo ich wohne, schlecht riecht. Mir ist aufgefallen, dass die meisten Leute diese Stinkgeschichten gern hören; und tatsächlich habe ich heute Morgen im Treppenhaus einen widerlichen Gestank gerochen. Was macht bloß die Putzfrau, die sonst immer so eifrig ist?

Er sagt: »Da muss irgendwo eine tote Ratte sein.« Die Vorstellung scheint ihn, weiß Gott warum, zu amüsieren. Sein Schnurrbart bewegt sich leicht.

Armer Bernard, in gewisser Weise. Was kann er schon mit seinem Leben anfangen? CDs in der FNAC kaufen? Ein Typ wie er müsste eigentlich Kinder haben. Hätte er Kinder, könnte man hoffen, dass am Ende noch etwas zustande kommt aus diesem Gewimmel von kleinen Bernards. Aber nein, er ist nicht einmal verheiratet. Bloß eine trockene Frucht.

Im Grunde ist er nicht einmal zu bedauern, der gute, liebe Bernard. Ich glaube sogar, dass er glücklich ist – in dem Maß, das ihm zusteht, natürlich. In seinem Bernard-Maß.

Fünf

Kontaktaufnahme

Später vereinbarte ich einen Termin im Landwirtschaftsministerium. Am Telefon war ein Mädchen namens Catherine Lechardoy. Das Software-Paket hingegen nannte sich »Sycomore«. Die richtige Sykomore ist ein von den Möbeltischlern geschätzter Baum, der außerdem einen süßen Saft liefert und in bestimmten Gegenden der gemäßigt kalten Zone wächst; er ist besonders in Kanada verbreitet. Das Sycomore-Programm ist in Pascal geschrieben, mit bestimmten Routinen in C++. Pascal ist ein französischer Schriftsteller des 17. Jahrhunderts, Verfasser der berühmten Pensées