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Über den Autor
Klaus Kordon, geboren 1943 in Berlin, war Transport- und Lagerarbeiter, studierte Volkswirtschaft und unternahm als Exportkaufmann Reisen nach Afrika und Asien, insbesondere nach Indien. Heute lebt er als Schriftsteller in Berlin. Bei Beltz & Gelberg erschienen zahlreiche seiner Romane, die in viele Sprachen übersetzt wurden, darunter die Kinderbücher Brüder wie Freunde, Die Reise zur Wunderinsel, Kiko und Marija im Baum.
Zweimal wurde er mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Für sein Gesamtwerk erhielt er den Alex-Wedding-Preis der Akademie der Künste zu Berlin und Brandenburg und den Großen Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur.
Jasmin Schäfer, geboren 1981, lebt als freie Illustratorin in Hamburg. Sie studierte dort an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Illustration. Bisher veröffentlichte sie das Bilderbuch Der Kragenbär und illustrierte Klaus Kordons Weihnachtsgeschichte Am 4. Advent morgens um vier.
Impressum
Dieses E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich
(ISBN 978-3-407-82060-0)
www.beltz.de
© 2015 Beltz & Gelberg
in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Frank Griesheimer
Einbandillustration: Jasmin Schäfer
Einbandgestaltung: Franziska Walther
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-74557-6
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Herr Nino kommt geflogen
Auf einem hohen Berg inmitten eines großen, sehr felsigen Gebirges wohnte einmal ein Mädchen. Das Mädchen hieß Lina, der Berg wurde Ziegenberg genannt, weil es dort früher einmal viele wilde Ziegen gegeben hatte.
Aber das war lange her. Jetzt grasten auf dem Ziegenberg nur noch Kühe, grunzten Schweine und krähten Hähne. Und die Ziegen, die jetzt dort lebten, trugen ein Glöckchen am Hals und gehörten Linas Eltern oder einer anderen Bergbauernfamilie. Dafür aber gab es viele wilde Tiere. Vor allem Gämsen, Murmeltiere, Füchse und Hasen. Und dazu unzählige große und kleine Vögel, die in den Felsen oder Bäumen nisteten.
Viele Kinder wohnen auf Bergen, auf dem Ziegenberg aber war Lina das einzige Kind. In den anderen Bergbauernhöfen lebten nur alte Leute. Deren Kinder waren längst erwachsen und ins Tal hinuntergezogen – in die kleine Stadt mit dem schönen Namen Waldkirchen, in der Lina zur Schule ging. Und einen Hof gab es, der war ganz und gar unbewohnt.
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Es gibt Kinder, die auch mal gut mit sich allein sein können. Lina gehörte nicht dazu. Sie liebte es, mit anderen Kindern zu spielen. An manchen Tagen am liebsten von morgens bis abends. Weshalb sie sich vom ersten Schultag an gern zur Schule bringen ließ. Und das, obwohl es die ganze Autofahrt über in engen Kurven steil bergab ging. Sodass ihr davon fast jedes Mal ein bisschen schlecht wurde. Der Ziegenberg war ja so hoch, dass die Bergspitze oft im herrlichsten Sonnenschein lag, wenn über dem Tal die dicksten und dunkelsten Regenwolken hingen.
Immer rundherum ging es, wenn Linas Mam oder ihr Paps sie zur Schule brachte. Kurve um Kurve. Manchmal musste sogar unterwegs angehalten werden, damit Lina aussteigen und tief Luft holen konnte, um sich nicht übergeben zu müssen. Ihre Eltern durften erst weiterfahren, wenn es ihr wieder besser ging.
Ach ja! Lina nannte ihre Eltern nicht Mami oder Papi, Mutti oder Vati oder rief sie beim Vornamen. Für Lina waren sie »Mam« und »Paps«. Sie hatte in vielen Dingen ihren ganz eigenen Kopf.
Was Linas allergrößter Wunsch war? Mit ihren Eltern ins Tal hinunterzuziehen. Dort, in Waldkirchen, hätte sie sich nachmittags mit ihren Freundinnen und Freunden treffen können, um mit ihnen ins Kino oder Eis essen zu gehen oder irgendwelche tollen Spiele zu spielen. Doch waren ihre Mam und ihr Paps nun mal Bergbauern und wollten es bleiben. Lina musste sich damit trösten, dass sie ja später, wenn sie erwachsen war, in die Stadt ziehen konnte.
Nur schade, dass das noch so lange dauerte.
So war es, bis Lina das erste Mal große Ferien hatte. Aber auch über die Ferien konnte sie sich nicht recht freuen. Jetzt wurde ja alles nur noch schlimmer. Andere Kinder fuhren mit ihren Eltern weit weg, ans Meer oder sogar in irgendwelche fernen Länder. Linas Eltern konnten nicht weg. Die Hühner, Kühe und Schweine mussten ja auch während der Ferien versorgt werden.
Ehrlich gesagt: Linas Eltern wollten auch gar nicht weg. Sie liebten den Sommer auf dem Ziegenberg, liebten den Wald und die Blumenwiesen und all die vielen steilen Felsen, über die immer wieder Gämsen sprangen oder von denen alle möglichen großen Vögel ins Tal hinunterspähten. Und ganz besonders liebten sie den großen, herrlich kühlen und türkis glitzernden Bergsee. All die vielen schneebedeckten Gipfel der noch höheren Berge spiegelten sich darin.
Na ja, im Sommer und Herbst mussten sie sich ihren Bergsee mit den Wanderern und Mountainbikern teilen. Aber mitnehmen konnten die Touristen weder die Berge noch den See noch die schöne Aussicht. Wenn die Leute aus den Städten die Natur liebten und nichts zerstörten oder zu viel Müll liegen ließen, durften sie ruhig kommen. Es durften nur nicht allzu viele werden.
Nein, Linas Eltern störte es nicht, dass sie nicht irgendwo ans Meer oder in ein fernes Land reisen konnten. Lina aber hatte Angst, dass es furchtbar langweilige große Ferien werden könnten. Was sollte sie denn tun den ganzen Tag? Etwa immer nur Tannenzapfen sammeln, sich einen Blumenkranz binden und aufs Haar legen oder Bertel, dem alten, schon halb blinden und längst schwerhörigen Hofhund, das Fell kraulen?
So was machte nicht lange Spaß. Nein, es blieb ihr gar nichts anderes übrig, als vormittags den Eltern im Stall oder auf den Viehweiden zu helfen und nachmittags auf ihrem Lieblingsfelsen zu sitzen und mit missmutigem Gesicht ins Tal hinab oder zum Beerenberg hinüberzuschauen.
Ihr Lieblingsfelsen lag etwas abseits vom Hof, am Rand einer Kuhweide. Sie musste, wenn sie zu ihm wollte, über mehrere niedrige Felsen kraxeln. War sie aber oben angelangt, dann saß sie dort wie auf einem Thron. Zu ihren Füßen viele bunte Blumen: Alpenrosen, Anemonen, Glockenblumen und viele, viele mehr.
Stadtkinder hätten das alles wohl wunderschön gefunden. Vor allem der Blick ins Tal hätte sie begeistert. Von Linas Felsen aus gesehen war Waldkirchen ja nicht größer als eine Spielzeugstadt. Der hohe Kirchturm, das lang gestreckte Rathaus neben dem oft sehr belebten Marktplatz, die jetzt so leer und verlassen daliegende Schule und all die Dächer der anderen Häuser grüßten zu ihr hoch. Busse, Lastwagen und Autos quetschten sich durch die alten Gassen, und quer durch die kleine Stadt rauschte der Wildbach, als wollte er vor lauter Lebenslust übersprudeln.
Na, und gleich gegenüber von Linas Felsen lag der noch viel höhere Beerenberg, der eigentlich Naschberg hätte heißen müssen, weil er ein wirklicher Beerenberg war. Ganze Felder rot leuchtender Walderdbeeren wuchsen dort, wunderschön blaue Heidelbeeren und noch mehr schwarz glänzende Brombeeren, die es in so großer Höhe eigentlich gar nicht mehr geben dürfte. Der Beerenberg aber war ein ganz besonderer Berg, da war vieles anders als üblich. Oft lief Lina mit ihrer Mam oder ihrem Paps oder allen beiden mit großen Körben dort hinüber, um süße Beeren zu pflücken, aus denen ihre Mutter Marmelade machte, die sie an die Touristen verkaufte.
Aber jeden Tag Beeren pflücken? Das machte genauso wenig Spaß wie jeden Tag Bertel kraulen, Tannenzapfen sammeln oder Blumenkränze binden. Außerdem hatten ihre Eltern für solche Ausflüge nur selten Zeit.
Die ganze erste Ferienwoche über gab es nichts, was Lina hätte aufheitern können. Eines Nachmittags aber – sie saß mal wieder auf ihrem Lieblingsfelsen und die schlechte Laune in ihrem Bauch war längst zu einem Ballon geworden, der jeden Moment zu platzen drohte –, da kam mit einem Mal ein kleiner blauer Vogel angeflogen. Er flog einmal um Lina herum, flog zweimal um sie herum und setzte sich nach dem dritten Mal auf den untersten Zweig der Eberesche, die gleich neben dem Felsen wuchs, und sah sie neugierig an.
Lina starrte genauso neugierig zurück. Was war denn das für einer? So einen komischen kleinen Kerl hatte sie ja noch nie gesehen. Ganz klein war er, aber von einem so strahlenden Blau, wie es der Himmel nur an ganz besonders sonnigen Tagen zeigte. Seine schwarzen Äuglein zwinkerten lustig, sein Schnabel war zitronengelb.
»Wer bist du denn?«, fragte sie verwundert. Doch auf eine Antwort hoffte sie nicht.
Was aber tat dieser kleine Kerl? Er spazierte auf seinem Ast weiter nach vorn, um ihr näher zu sein, und antwortete höflich: »Gestatten, mein Name ist Nino – Nino Pipandrelli! Ich bin fremd in der Gegend. Doch gefällt es mir hier gut, deshalb werde ich vielleicht noch ein bisschen bleiben.«
Wie von einer Wespe gestochen, sprang Lina auf. Hatte ihre Fantasie ihr einen Streich gespielt? Dieser kleine blaue Vogel – er konnte sprechen? Zwar hatte er nur getschilpt, doch – wie verrückt! – sie hatte jedes seiner Worte verstanden.
»Wieso erschrickst du denn?«, wunderte sich der kleine Blaue. »Hast du etwa Angst vor mir? Das musst du nicht, ich hab noch niemandem was getan.«
Angst? Vor so einem Winzling? Nein, Angst hatte Lina nicht. Ihr war nur ein wenig unheimlich zumute. Ein Vogel, der sprechen konnte? So was durfte es doch eigentlich gar nicht geben.
»Willst du mir denn nicht sagen, wie du heißt?«, tschilpte der kleine Blaue munter weiter. »Das gehört sich doch so, wenn zwei einander kennenlernen.«
»Li… Lina«, konnte Lina nur stottern.