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Jérôme Ferrari

DAS PRINZIP

Roman

JÉRÔME FERRARI

DAS PRINZIP

ROMAN

Aus dem Französischen von

Christian Ruzicska und Paul Sourzac

Titel des französischen Originals :

Erste Auflage

Gestaltung und Satz:

Der Herr, dessen Orakel

sich in Delphi befindet, sagt nichts, verbirgt nichts,

sondern deutet an.

HERAKLIT, Fragment 93

Und Er sprach zu mir: Zwischen dem Wort

und dem Schweigen liegt ein Isthmus,

auf dem sich das Grab der Vernunft befindet

und die Gräber der Dinge.

AL NIFFARI, Le Livre des Haltes

Inhalt

POSITION

POSITION 1: HELGOLAND

POSITION 2: AUSSERHALB DER BLEIBE, AUF EINEM RUINENFELD

POSITION 3: IN DER NEBELKAMMER

POSITION 4: ZWISCHEN DEM MÖGLICHEN UND DEM WIRKLICHEN

GESCHWINDIGKEIT

ENERGIE

ZEIT

ANMERKUNG DES AUTORS

POSITION

POSITION 1: HELGOLAND

DREIUNDZWANZIG JAHRE waren Sie alt, und hier, auf dieser trostlosen Insel, auf der keine einzige Blume blüht, war es Ihnen zum ersten Mal gegeben, Gott über die Schulter zu schauen. Da war kein Wunder geschehen, gewiss nicht, in Wirklichkeit nicht einmal etwas, das von nah oder fern betrachtet der Schulter Gottes auch nur geähnelt hätte, um jedoch Klarheit darüber zu gewinnen, was in jener Nacht geschehen war, können wir, niemand weiß dies besser als Sie, allein wählen zwischen einer Metapher und dem Schweigen. Für Sie war es zunächst das Schweigen, und die Blendung eines Taumels, weit wertvoller als Glück.

Sie konnten nicht schlafen.

Sie hatten, ganz oben auf der steinigen Spitze eines Felsens sitzend, darauf gewartet, dass die Sonne aufgehe über der Nordsee.

Und eben so stelle ich Sie mir heute vor, auf Helgoland, des Nachts, mit schlagendem Herzen, derart lebendig, dass ich mich beinahe zu Ihnen gesellen könnte, zu Ihnen, dessen Name, verloren in der Eintönigkeit einer unendlichen Bibliographie so vieler anderer deutscher Namen, für mich zunächst kein anderer war als derjenige eines merkwürdigen und unverständlichen Prinzips.

Seit drei Jahren schon befassten Sie sich in München, Kopenhagen, Göttingen mit derart entsetzlich schwierigen Problemen, dass selbst der arglose und optimistische junge Mann, der Sie waren, so manches Mal, wie seine Leidensgefährten wohl auch, den Tag verflucht haben dürfte, da er die wahnsinnige Idee hatte, sich mit Atomphysik auseinanderzusetzen. Immer häufiger lieferten die Experimente mit den bestverankerten Kenntnissen der klassischen Physik nicht nur unvereinbare, sondern überdies noch eklatant widersprüchliche Ergebnisse, absurde und doch unwiderlegbare Ergebnisse, die es untersagten, sich ein auch nur annähernd vernünftiges Bild oder überhaupt gar ein Bild dessen zu machen, was sich im Inneren eines Atoms abspielt. Auf Helgoland aber, wohin Sie sich mit von Allergien entstelltem Gesicht begeben hatten, um Schutz zu finden vor den Pollen und vielleicht auch vor der Hoffnungslosigkeit, da haben Sie gewusst, dass die gesegnete Zeit der Bilder für immer der Vergangenheit angehörte, wie dies seit eh und je ja für die Zeit der Kindheit gilt: Sie haben Gott über die Schulter geschaut und es war Ihnen durch die zarte materielle Oberfläche der Dinge hindurch der Ort erschienen, da sich deren Materialität auflöst. An diesem geheimen Ort, der noch nicht mal ein Ort, heben sich die Widersprüche zugleich mit den Bildern und deren vertrautem Fleische auf; kein Überbleibsel der Welt besteht mehr, das die Sprache des Menschen beschreiben könnte, kein ferner Widerschein, allein nur die fahle Form der Mathematik, still und furchterregend, die Reinheit der Symmetrien, der abstrakte Glanz der ewigen Matrix, all die unfassbare Schönheit, die schon immer darauf wartete, sich vor Ihren Augen zu enthüllen.

Ohne Ihren Glauben an die Schönheit hätten Sie vielleicht nicht die Kraft aufgebracht, Ihren Geist seit nunmehr drei Jahren ununterbrochen bis an jene äußerste Grenze zu führen, wo die Ausübung des Denkens körperlich schmerzvoll wird, und Ihr Glaube war derart tief, dass ihn weder der Krieg noch die Demütigung der Niederlage noch die blutigen Erschütterungen der gescheiterten Revolutionen hatten ins Wanken bringen können. Das erste Mal, als Sie Ihren Vater in Uniform erblickten, zwölf Jahre waren Sie alt, da musste die metallene Spitze seines Helms Sie an die furchteinflößende Beherztheit archaischer Helden gemahnt haben, und als er sich niederbeugte, um im Augenblick des Abschieds seine beiden Söhne, Ihren Bruder Erwin und Sie, Werner, zu küssen, erschauderten Sie da nicht ob des epischen Hauchs der Geschichte, der soeben vor Ihren Augen Professor August Heisenberg in einen Krieger verwandelt hatte? Auf dem Bahnhof drückten die Abschiedsgrüße, die Lieder, die Tränen und die Blumen etwas Höheres aus als lediglich naive oder brutale Freude, die Gewissheit nämlich, Teil eines gemeinsamen Schicksals zu sein, das einem abverlangte, die Gefahr in Kauf zu nehmen, ihm sein Leben zu opfern, zog doch alles individuelle Leben aus ihm seinen Wert und Sinn, ja, die mitreißende Empfindung, nichts anderes mehr zu sein als der fleischliche Teil eines geistigen und grandiosen Ganzen, und wie Sie Ihren Vater und Ihre beiden Cousins fortgehen sahen, da haben Sie vielleicht bedauert, zu jung zu sein, um sie zu begleiten. Aber der erste Ihrer Cousins fiel, und als der zweite zurückkam auf Urlaub von der Front, erkannten Sie ihn nicht wieder.

Erahnten Sie da, was es kosten kann, Gott über die Schulter zu schauen?

Denn Gott, was auch immer diese Metapher bezeichnen mag, ist zugleich auch der Herr des Schreckens, und es gibt einen Taumel des Schreckens, mächtiger vielleicht als der des Schönen. Es ist der Taumel, der die Menschen erfasst angesichts der abgetrennten Gliedmaßen, des Gestanks der im Schlamm eingeschmolzenen Leichen mit den wimmelnden, wie lebendiger Teig aus den Wunden hervorquellenden Engerlingen und dem roten Auge der Ratten, die im Schatten offener Brustkörbe nisten, heftiger aber noch angesichts der Tiefe der Abgründe, die sie bergen, ohne es zu wissen.

Man streckt in der Nacht der Schützengräben die Hand nach seinem Gewehr aus und erkennt darin eine archaische Geste, unendlich älter als die Geschichte, eine fundamentale und wilde Geste, deren Wesen die Granaten, das Gas, die Panzer, die Flugzeuge und all die monströsen Anstrengungen der Moderne nicht verändert haben, da nichts sie je ändern wird.

Man rennt bis zur Atemnot, fällt kopfüber nach vorn und sieht sein eigenes Blut dahinströmen, späht voller Angst nach dem Auftauchen weißer Spuren von Hirn, aber da ist nur Blut, und Leutnant Jünger erhebt sich und nimmt seinen Lauf wieder auf, das Herz überbordend vom Rausch des Jägers in Erwartung der Ekstase jenes Momentes, da das nackte Gesicht des Feindes aus der Erde auftauchen wird, damit endlich, verliebt und tödlich, der Kampf beginnen kann, den man so sehr ersehnt und von dem sich einer nicht mehr erheben wird.

Der Taumel des Schreckens ähnelt manchmal demjenigen der Schönheit. Man ist Teil eines Ganzen, größer, als man es sich hätte ausmalen können, größer als die Mittelmäßigkeit der Träume von Behaglichkeit und Frieden, größer als die Nationen im Krieg, doch so übermäßig groß, dass die Spannung, in der es die Menschen hält, sich nur halten kann, indem sie diese zerbricht. Die Erregung fällt schlagartig ab, und der Rausch, der Schleier vergeht, nichts bleibt einem, als wiederum zu rennen und seinen kreatürlichen Schrecken herauszubrüllen, um den grauenhaften Tod zu fliehen, um zu fliehen auch denjenigen, zu dem man geworden, auf der Suche nach einer Zuflucht, die es nirgends gibt, und Leutnant Jünger erreicht zitternd den deutschen Graben wieder; mit Tränen in den Augen schreibt er in sein Tagebuch: Wann hat – wann endlich hat dieser Scheißkrieg ein Ende?

Vielleicht haben Sie in der Abstumpfung, die Ihren Cousin bei seiner Rückkehr von der Front hat unkenntlich werden lassen, flüchtig die Existenz von Dingen erahnt, von denen man besser nichts weiß. Auch der Schrecken kann Gegenstand werden einer unwiderstehlichen Begierde, so wie es jenen widerfuhr, die eben erst dessen Taumel am eigenen Leib verspürt hatten, Leutnant Jünger und Ihr Cousin, vielleicht Ihr Vater, selbst wenn er nie darüber spricht – Sie aber, wie hätten Sie es wohl erfahren können?

Der Krieg war zu Ende.

Das Leben ging mit seinen Ängsten, seinen unzähligen Trauerfällen, seinen Hoffnungen und Rachegelüsten auf schmerzhafte Weise weiter, doch auch die Schönheit wurde wieder sichtbar und Ihre Augen wussten sie zu erkennen als die Göttin in der unendlichen Mannigfaltigkeit ihrer sterblichen Formen, die Sie sämtlich liebten. Ich hoffe, dass Sie ab und an die Möglichkeit hatten, sich dessen bewusst zu werden, der Großteil der Menschen besitzt diese ungeheure Chance nicht: Nur für ein oder zwei Erscheinungsformen der Schönheit sind die meisten Menschen empfindsam und so blind gegenüber allen anderen, dass sie nicht einmal deren schlichte Möglichkeit erfassen. Für Professor Ferdinand von Lindemann, der eingewilligt hatte, Sie an der Universität München zu empfangen, besaß die Mathematik das exklusive Privileg der Schönheit, und wer auch immer beabsichtigt, so wie Sie es ihm gegenüber soeben schüchtern als Wunsch geäußert hatten, diese ernsthaft studieren zu wollen, der musste von der Evidenz dieser ewigen Wahrheit durchdrungen sein. Es verwundert also kaum, dass er Ihnen, da Sie ihm in einer verwegenen Anwandlung von Offenherzigkeit gestanden hatten, gerade ein Werk der Physik zu lesen, das zudem noch den abscheulichen Titel Raum–Zeit–Materie trug, einen angeekelten Blick zuwarf, als hätte er jäh an Ihrem Körper die schändlichen Merkmale einer gemeinen Krankheit erkannt, bevor er Ihnen bedeutete, dass Sie für die Mathematik für immer verloren seien, während sein Hund, ein Kläffer, der sich unter seinem Schreibtisch verkrochen hatte und auf den er im Laufe einer langjährigen Vertrautheit rätselhafterweise seinen Sinn für Ästhetik übertragen hatte, plötzlich zu bellen begann, damit auch er so den Grad Ihrer Schändlichkeit bezeugte. In Lindemanns Augen verdienten Physiker, und waren es auch bloß achtzehnjährige potenzielle Physiker, nicht die geringste Wertschätzung, und zwar nicht nur aufgrund ihrer notorisch ungenierten und entwürdigenden Anwendung der Mathematik, sondern vor allem, da sie niedrige Wesen waren, derart korrumpiert von ihrem allzu emsigen Umgang mit der wahrnehmbaren Welt, dass sie schamlos ihr beinahe perverses Interesse kundtaten für etwas so Verachtenswertes wie die Materie.

Hätte Professor von Lindemann nicht so aufbrausend reagiert und sich Zeit genommen, Sie zu befragen, er hätte zugeben müssen, dass er sich Ihnen gegenüber soeben ungerecht verhalten hatte, da Sie im Grunde selbst nie an die Materie glaubten. Die Darstellung von Atomen in Form von kleinen, mittels willfähriger Häkchen aneinandergebundener, fester runder Körper in Ihren Schulbüchern schien Ihnen schlagartig von Naivität oder Betrug zu zeugen, was im einen wie im andern Fall auf dem Gebiet des Wissens unverzeihlich ist. In dem Augenblick, da Franz Ritter von Epp an der Spitze der Freikorps aus Württemberg nach München kam, um dort die Räterepublik zu zerschlagen, hatten Sie sich, die Kämpfe links liegen lassend, in der Milde des Frühlings auf einem Dach niedergelegt, um Platon zu lesen, und dabei entdeckt, wie der Demiurg mit der Kombination einer kleinen Anzahl grundlegender geometrischer Formen die Welt erschafft. Trotz der Abscheu, die Ihnen diese willkürlich scheinende Behauptung zunächst eingeflößt hatte, die sich mit der ungerechtfertigten Autorität einer prophetischen Offenbarung voller Hochmut gegenüber der geduldigen Arbeit der Vernunft ausdrückte, konnten Sie diese doch nicht vergessen und erkannten schließlich mit einer Art Entsetzen in den Elementardreiecken des Timaios den metaphorischen Ausdruck einer Ihrer tiefsten Überzeugungen wieder, die Sie nie zuvor formuliert hatten und von der Ihnen noch nicht einmal bewusst war, dass diese, derart tief greifend, die Ihre war: Das, was die Substanz der Welt ausmacht, ist nicht materiell.

Legte sich Ihr Entsetzen wieder oder wurde es im Gegenteil auf die Spitze getrieben, als Sie begriffen, wie vertraut Ihnen dieses immaterielle Etwas war? Hatten Sie nicht stets in seine rätselhafte Nähe die Transparenz der mathematischen Formen gebracht, die Musik und die Dichtung, die Gipfel der Alpen, bei gleißender Sonne, herausragend aus einem Nebelschlund, wie auch all die zahllosen Wege der Schönheit? Es war immateriell, doch so greifbar, dass es Ihnen unmöglich war, seine Wirklichkeit anzuzweifeln: Es hatte die Schreckgespenster des Krieges verscheucht und Ihre Freude wiederbelebt, während Sie im Hof der Burg Prunn Bachs Chaconne in d-Moll von einer Sologeige erklingen hörten; es hatte die Ruinen von Pappenheim erleuchtet, über die ganz für Sie allein die Sommernacht hereinbrach anno 1920; und hätten Sie mit ihm zuvor nicht schon Bekanntschaft geschlossen, Sie hätten es auf Helgoland vielleicht nicht wiedererkannt, obgleich es überall anwesend war entlang der schroffen Steilküsten, in der Monotonie der Brandung und, vor allem, strahlender denn je, in den Matrizen der neuen Quantenmechanik.

Über diese Anwesenheit kann man freilich nichts sagen und benannt werden kann sie folglich nicht.

Derjenige, der sich weigert, sich zum Schweigen zu entschließen, kann sich nur mittels Metaphern ausdrücken.

1922, als Niels Bohr Ihnen in Göttingen mit unendlicher Anteilnahme darlegte, dass Ihre Berufung zum Physiker zugleich auch eine Berufung zum Dichter sei, da teilte er Ihnen nichts mit, was Sie selbst nicht schon gewusst hätten.

Aber schauen Sie, was es damit auf sich hat: Drückt man sich mittels Metaphern aus, verdammt man sich zur Ungenauigkeit, und wenn man sich weigert, dies zuzugeben, dann läuft man darüber hinaus Gefahr zu lügen. Ich habe geschrieben, dass Sie, Werner Heisenberg, auf Helgoland, dieser so trostlosen Insel, dass nicht einmal eine Blume auf ihr blüht, im Alter von dreiundzwanzig Jahren und zum ersten Mal Gott über die Schulter schauten.

Aber ich muss mich jetzt präzisieren:

Es war nicht die Schulter Gottes.

Und es war nicht das erste Mal.

POSITION 2: AUSSERHALB DER BLEIBE, AUF EINEM RUINENFELD

ICH BITTE SIE, schämen Sie sich nicht. Nicht Sie. Es war nicht Professor von Lindemanns kleiner Hund, vor dem Sie die Flucht ergriffen im Jahre 1920, es war der gleich allen dämonischen Kreaturen leicht groteske und abstoßende Bote, den das Schicksal erwählt hatte, um Sie brutal zur Ordnung zu rufen und wieder auf jenen Weg zu bringen, der der Ihre war, den zu wählen Ihnen nicht zustand, und sollten Sie auch Gefahr laufen, Ihre Seele zu verlieren bei einem faulen Handel. Im Seminar zur theoretischen Physik von Arnold Sommerfeld bellte Sie niemand wutschnaubend an, niemand schaute von oben auf Sie herab, niemand versuchte, Sie zu demütigen. Sie waren zu Hause angekommen, ebendort, wohin Ihnen zu folgen ich mich über so geraume Zeit schämte, waren Sie es doch, dem ich die schlimmste Erniedrigung meines Lebens verdanke.

Soweit ich dies wissen kann, liegt in der Natur der Dinge zunächst alles, was erlernt werden muss. Die Traditionen, die Gesetze, die Geschichte der Irrtümer und der Triumphe. Die Arbeiten geliebter Meister, der lebenden, der toten, derjenigen, die in Ihnen weiterleben wollen, derjenigen, die es hinnehmen, dass Sie diese hinter sich lassen. Es gilt, seinen Platz einzunehmen in der unermüdlichen Konstruktion eines unendlichen Gebäudes, gemeinsames Werk der Menschen, der lebenden wie der toten, in der Hoffnung, vielleicht seinerseits dort etwas zu hinterlassen, das den Wert besäße, erlernt zu werden. Ausreichend Kraft gilt es anzusammeln, um in den Kampf zu ziehen, wenn Feuer droht und mit nochmaliger Anstrengung wiederaufgebaut werden muss, rettend dabei, was gerettet werden kann.

Sie aber, Sie begannen mit dem Kampf auf einem Ruinenfeld.

Sie begannen mit dem Feuer.

Auf dem Gebiet, das Sie wählten, konnte nichts gerettet werden. Alle Anstrengungen des Wiederaufbaus führten zu schwankenden und wackeligen theoretischen Gedankengebäuden, die geradewegs den mystischen Visionen eines Geistesschwachen zu entstammen schienen, und doch war es unmöglich, sich an einer zu Asche verwandelten Geschichte festzuklammern. Seit Max Planck das universelle Wirkungsquantum entdeckt hatte, diese unheilvolle Konstante h, die innerhalb weniger Jahre mit der bösartigen Rasanz eines untilgbaren Virus die Gleichungen der Physik infiziert hatte, schien die Natur verrückt zu spielen: Unauffällige Bruchstellen verursachten Risse in der uralten Kontinuität der Energieströme, das Licht wimmelte nur so von seltsamen körnigen Gebilden, und zugleich begann die Materie, als wäre dies nicht schon genug, in einem gespenstischen Lichthof von Interferenzen wild zu strahlen. Die Grenzen, die man für unantastbar hielt, verschwammen zunächst, dann zerstoben sie. Ein und dasselbe Phänomen erschien je nach Versuchsanordnung, unter die man es stellte, mal als Welle, mal als Teilchen, wo doch selbstverständlich nichts auf der Welt das eine und zugleich das andere sein konnte, und je mehr Zeit verging, desto deutlicher wurde, dass diese entsetzliche Dualität keinesfalls die Ausnahme bildete, sondern die Regel, eine Regel, von der niemand auch nur das Geringste verstand. Allein die verzweifelte Gewissheit blieb, dass das Atom kein Sonnensystem in Miniaturform war, in dessen Innerem liebenswerte Elektronen friedlich ihren Orbit um den gutmütigen Kern beschrieben: Das Atom verwandelte sämtliche Träume, selbst die ehrwürdigsten unter ihnen, die Träume von Leukipp und Demokrit, die Träume von Anaxagoras, jene des Lord Rutherford, in Albträume, es war ein Konzentrat an Unsinn und Irrglauben, ein Sumpfland, in dem die Vernunft stecken blieb; und doch war es dieses Sumpfland, auf dem es eine neue Bleibe zu errichten galt, eine Bleibe, in der es wieder möglich wäre zu leben.