Das Gold von Innsmouth:
David A. Sutton

Talman bedachte mich mit einem skeptischen Blick. Er hielt mich nicht für ernsthaft verrückt, höchstens für ein bisschen durchgeknallt.

»Nun, George«, sagte er schließlich, »ich glaube, du hast in deinem sonnigen Kentucky zu viel von diesem Whiskey getrunken, den sie da brennen!«

Ich hatte fünf Jahre lang im Süden gelebt, so viel stimmte schon mal. Aber was den Whiskey anging, den rührte ich niemals an. Talman und ich waren seit bestimmt 20 Jahren enge Freunde. Diese langlebige Verbindung war aus unserer gemeinsamen Liebe für die Tierwelt Nordamerikas entstanden. Über die Jahre hatten wir gemeinsam mehrere Expeditionen ins Landesinnere von Amerika absolviert, einmal auch in die waldreiche Wildnis im Norden Kanadas.

Irgendwann hatte ich mein Zuhause aufgrund meiner Lehrverpflichtungen wieder verlegen müssen, aber so, wie es sich entwickelte, fand ich mich fünf Jahre später glücklicherweise – oder unglücklicherweise – wieder in meinem geliebten Boston. Der Nachteil bestand darin, dass ich keine Arbeit mehr und damit auch sehr wenig Geld hatte.

Wir saßen im zur Straße hin offenen Untergeschoss einer Bar in der Nähe der Charles Street im Back-Bay-Viertel und tranken kaltes Bier. Es war Oktober und der Himmel bewölkt, aber die Luft noch mild. Die Bäume, die den Gehsteig säumten, fingen gerade an, sich in flammengekrönte herbstliche Leuchtfeuer zu verwandeln. Ich nickte meinem Kameraden zu und lächelte. Sein grauer Haaransatz verriet inzwischen recht unmissverständlich, dass er Mitte 40 war. Ich ignorierte seine Anspielung auf den Bourbon geflissentlich und fragte: »Fred, weißt du noch, früher? Wir sind beim kleinsten Anlass losgezogen, ab in die Berge. Es brauchte nur einen winzigen Hinweis aus vierter Hand. Wenn es um eine seltene Art oder etwas Merkwürdiges ging, sind wir los, auch wenn es unwahrscheinlich schien, dass wir das Viech je zu Gesicht bekommen.« Ich versuchte, ihm meine Geschichte schmackhaft zu machen. Um jeden Preis.

»Stimmt«, erwiderte er. »Früher sind wir immer sofort aufgebrochen. Aber weißt du, George, noch nie hat irgendwer in New England Vielfraße gesehen. Nördlich der Hudson Bay, klar, eventuell noch in Labrador, aber nicht so weit im Süden. Die Viecher sind wirklich selten.«

Er benutzte den geläufigen Namen für das Tier, über das wir uns unterhalten hatten – den Bärenmarder. Und natürlich hatte er recht, diese Spezies war extrem selten und ließ sich bestimmt nicht in Massachusetts blicken. Aber ich suchte nach einem Vorwand, der bewaldeten Küste um Newburyport einen Besuch abzustatten. Also wirkte ich weiter auf ihn ein: »Ich habe es aus zuverlässiger Quelle. An der Staatsgrenze zu New Hampshire wurden Bärenmarder gesichtet, und ich würde diese Exkursion zu gerne machen, wenn …«

»In Ordnung, George«, unterbrach er mich und nahm noch einen Schluck Bier. »Ich leihe dir die 2000 Dollar. Das sollte deine Ausgaben decken. Und du kannst meine Campingausrüstung benutzen.«

Ich war entzückt, versuchte aber, meine Begeisterung nicht allzu deutlich zu zeigen. »Und was ist mit dem Toyota?« George war ein zu guter Freund, um mich hängen zu lassen, aber mit dieser Bettelei bat ich förmlich um einen Tritt in den Hintern. Andererseits war das Allradauto sein Zweitwagen, also konnte er darauf bestimmt eine Woche oder so verzichten.

Er starrte mich eine geschlagene Minute lang bloß an. Unter dem prüfenden Blick seiner grauen Augen – Augen, denen das jahrelange Beobachten von Tieren einen geschärften Blick verliehen hatte – fühlte ich mich wie ein Kaninchen, das gerade von einem Wiesel hypnotisiert wurde. Mein Herz tat einen Satz und ich befürchtete schon, er würde sein Versprechen zurücknehmen und mir gar nichts leihen.

Dann lächelte er. »Und den japanischen Wagen. Ich muss ein Volltrottel sein!«

»Du wirst es nicht bereuen, Fred. Ich weiß das wirklich zu schätzen. Und das Geld ist ja auch nur geliehen. Ich zahl es dir zurück, sobald ich mein Leben wieder in der Spur habe.« Ich merkte genau, dass ich anfing, dummes Zeug zu reden. »Noch ein Bier?« Jetzt konnte ich ihn ja mit meinen letzten paar Dollar einladen.

»Klar«, sagte er. »Aber ich zahle.« Als er bei der Kellnerin bestellt hatte, wandte er sich an mich: »Wie wär’s mit einer kleinen Wette, George? Doppelt oder gar nichts. Wenn du diesen verdammten Bärenmarder zu Gesicht bekommst und ein Foto von ihm schießt, schenk ich dir das Geld. Wenn es dir nicht gelingt, schuldest du mir vier große Scheine.«

Das konnte ich kaum ausschlagen, auch wenn ich wusste, dass ich die Wette verlor. Niemand bekam außerhalb eines Museums einen Bärenmarder in den Wäldern von New England zu sehen. Dennoch tat ich so, als müsste ich darüber nachdenken. Früher hatten wir regelmäßig gewettet, hier 50, da 50, und wer den Vogel oder die Schlange als Erster sah, gewann. Meine Antwort war der Rolle angemessen, die ich spielte: »Das wird mich nur anspornen, noch gründlicher zu suchen, aber ich halte meine Quellen für absolut zuverlässig. Ich bin dabei!«

Während ich in den nächsten Tagen das Geld von Talman bekam und den Kombi mit allerhand Ausrüstung belud, verschlechterte sich das Oktoberwetter. Zunächst lag nur ein Frösteln in der Luft, um alle Welt wissen zu lassen, dass der Winter vor der Tür stand. Schließlich brach ich auf. Startpunkt war Talmans Haus in einem Vorort von Boston. Bis zum Schluss blieb er davon überzeugt, dass ich mich auf einer sinnlosen Jagd nach der südlichsten Sichtung des gefährlichsten Raubsäugetiers der Welt befand. Wenn er die Wahrheit gekannt hätte …

In Wirklichkeit peilte ich als Ziel meiner Expedition die Salzmarschlandschaft rund um das verlassene Städtchen Innsmouth an. Und ich wollte keinesfalls ein Tier jagen.

Ich war auf der Jagd nach Gold.

Sie halten mich aller Voraussicht nach für ernsthaft verrückt, aber lassen Sie mich den Rest erzählen, dann werden Sie verstehen, warum mich das gute alte Goldfieber gepackt hatte. Und ein bisschen auch der Ruf der Wildnis.

Innsmouth war ein Küstenstädtchen an der Mündung des Manuxet, zwischen Ipswich und Newburyport. Sicher hatte es irgendwann einmal seine Blütezeit erlebt, aber nun lag es ziemlich verlassen da. Auf der Landseite erstreckte sich ein breiter Streifen Marschland; eine öde, menschenleere Gegend. Im 17. Jahrhundert hatte man einen Großteil des uralten Waldgebiets in der Gegend abgeholzt, was dazu führte, dass der Wind den Sand immer weiter ins Landesinnere blies. Der Boden verwandelte sich nach und nach in Morast. In jüngerer Vergangenheit hatte die Klimaerwärmung den Meeresspiegel um mehrere Zentimeter ansteigen lassen. Das mag sich nicht nach viel anhören, sorgte aber dafür, dass sich das Land dauerhaft in Sumpfgebiet verwandelte. Der dichte Wald in der Umgebung verstärkte die Abgeschiedenheit von Innsmouth noch weiter, aber das spielte ohnehin keine Rolle mehr. Die schlechten Erträge beim Fischen in den vergangenen 80 bis 90 Jahren hatten dazu geführt, dass die Stadt ihren Bewohnern nicht genug Arbeit bot. Deswegen hatte sie sich in eine Geisterstadt verwandelt.

Ich verließ den Fitzgerald Expressway in Richtung Norden und fuhr entlang der Küste auf der Route 95 durch immer wilderes, schön anzuschauendes Terrain. Kleine verschlafene Neuengland-Dörfer und Bäume, deren Herbstlaub rot und golden leuchtete, vermittelten mir ein Gefühl von Sicherheit und Bodenständigkeit. Es gibt keinen schöneren Anblick als den des Herbstes in diesem Bundesstaat. Als ich an der Ausfahrt nach Arkham vorbeifuhr, erinnerte mich das an die Nachforschungen, die ich dort betrieben hatte, gleich nachdem ich aus Middlesboro nach Hause zurückgekehrt war. Ich dachte an die Ergebnisse meiner Untersuchungen und das, was ein Bekannter mir erzählt hatte: Bill Poynter kannte sich bestens mit Verschwörungstheorien aus und vertiefte sich hobbymäßig in Regierungsakten, die im Zuge des Gesetzes über die Auskunftspflicht öffentlicher Einrichtungen offiziell freigegeben wurden.

Und so war er auch derjenige gewesen, der mir als Erster von der Sache erzählt hatte, wegen der ich nun so verzweifelt in das Marschland von Innsmouth reisen wollte. Wir waren oft gemeinsam etwas trinken gegangen unten in Middlesboro, denn wir arbeiteten dort für das gleiche Lehrinstitut. Wir unterhielten uns lang und breit über unsere jeweiligen Hobbys. Seins bestand darin, in den Regierungsschriften nach Tratsch und Skandalen zu wühlen. Und eines Tages erzählte er mir von einer Großrazzia des FBI, die 1928 in einem kleinen Städtchen namens Innsmouth stattgefunden hatte.

»Die offizielle Version des FBI lautete, dass es ihnen darum ging, die Schnapsbrenner zur Strecke zu bringen«, hatte Poynter erklärt. »Innsmouth war ein Zentrum der illegalen Schnapsherstellung und des Schnapshandels. Damals herrschte immerhin Prohibition.«

Den mysteriösen Unterton in seiner Stimme hätte es gar nicht gebraucht, ich wäre auch so neugierig geworden. »Aber es gab einen anderen Grund für die Razzia, oder?«

»Du sagst es. Geo …« Er verwendete immer nur die ersten Buchstaben meines Namens als Anrede, sodass es klang, als sei ich die Vorsilbe einer unausgesprochenen Wissenschaft der Erde. »Die hatten da ganz andere Fische zu fangen, zumindest einige der ranghohen Agenten. Es ging um nichts Geringeres als darum«, und hier wurde sein Ton verschwörerisch, »einen ganzen Raum voller Gold auszuräumen, das in der Obed-Marsh-Raffinerie lagerte. Sie mussten es sich nur holen.«

Poynters Geschichte klang nicht allzu verrückt, ganz im Gegensatz zu anderen Gerüchten, die ich über Innsmouth gehört hatte. Er erzählte mir weiter, dass die Leute vom FBI ihren Haufen Gold irgendwo im Sumpf außerhalb der Stadt versteckt hatten, wo er bis heute unentdeckt auf einen Finder wartete.

»Aber wieso sind die Agenten nicht zurückgekommen, um ihre Beute zu holen, nachdem Gras über die Sache gewachsen war?«, fragte ich.

»Anscheinend hat es eine Menge Ärger und Aufhebens gegeben«, erwiderte er. »Sieht aber ganz so aus, als hätten sie das Versteck einfach nicht wiedergefunden, insbesondere nachdem Agent Mahoney, der Kerl, der das Hinterland wie seine Westentasche kannte, sich dummerweise ein paar Monate später erschießen ließ – und das bei einer Razzia in Boston, die überhaupt nichts mit Innsmouth zu tun hatte.«

In meinem Kopf spukten lauter unbeantwortete Fragen herum, also nahm ich Poynters Bericht zunächst nicht wirklich für bare Münze. Aber später fand ich heraus, dass es in Innsmouth eine Goldhütte gab und dort Schmuckstücke hergestellt wurden, die ebenso opulent wie fremdartig wirkten. Ihre unverkennbare Optik basierte wohl auf religiösen Symbolen und Motiven aus der Südsee. Die Tatsache, dass Innsmouth über eine Goldfabrik verfügte, besiegelte die Sache für mich. Innsmouth war ausgestorben. Niemand lebte mehr dort. Die Ernte des Meeres war ausgeblieben; die erschöpften Fischvorkommen hatten die Schleppnetzfischer ins Landesinnere getrieben, wo sie nach anderer Arbeit suchten. Und zuvor hatte der Golddiebstahl den zweiten wesentlichen Wirtschaftszweig des Ortes zerstört. Vielleicht hatten ein paar unehrliche FBI-Agenten die Schnapsbrenner-Razzia als Vorwand benutzt, um ihr eigenes, unerlaubtes Interesse an Obed Marshs Gold zu verbergen. Möglicherweise lag dieser Schatz noch am selben Ort, an dem man ihn 1928 versteckt hatte. Mit etwas Glück wurde ich bald Millionär. Die Gelegenheit schien mir zu verlockend, um sie sausen zu lassen, ohne es zumindest versucht zu haben.

In gemächlichem Tempo fuhr ich die Küste hinauf. Zum ersten Mal seit Monaten fühlte ich mich entspannt. Ich warf einen Blick in den Rückspiegel und stellte fest, dass ich viel besser aussah als in den letzten Monaten. Meinem Gesicht haftete schon immer diese wettergegerbte Optik an, daran lag es nicht, aber die Erlebnisse des letzten Jahres ließen mich eher wie 50 als wie 40 aussehen. Nun aber blickten meine blauen Augen scharf und hellwach in die Gegend, wirkten nicht länger abgestumpft. Die Krähenfüße waren ebenso verschwunden wie die fahlen Wangen. Fast jedenfalls. Meine blonden Haare waren gewaschen und sahen ordentlich aus, nicht mehr fettig und wirr.

Auf dem Beifahrersitz lag die Kamera, die ich mir besorgt hatte. Das, wonach ich suchte, brauchte nicht fotografiert zu werden, aber in den Wäldern bekam ich sicher Tiere zu Gesicht, die es verdienten, festgehalten zu werden. Mein Ziel lag etwa 60 Meilen von Boston entfernt, aber es ging mir so prächtig, dass ich ganz langsam fuhr, hier und dort anhielt und einige Fotos schoss, um mich mit der Canon-Kompaktkamera vertraut zu machen. Ein kleines Städtchen etwa lockte mit den typischen Neuengland-Bauten der Jahrhundertwende und weckte damit Erinnerungen an Arkham. Im vergangenen Sommer hatte ich eine gute Woche dort verbracht und die letzten Tage draußen im Freien übernachtet, weil meine schwindenden Finanzen nahezu vollständig aufgezehrt waren. Bei meinen Recherchen in der Bibliothek der Miskatonic University hatte ich mir einen guten Überblick über die Annalen von Innsmouth verschaffen können. Die dort gewonnenen Erkenntnisse und das, was Poynter mir erzählt hatte, genügten, um mich von der tatsächlichen Existenz der Goldbarren zu überzeugen.

Die Geschichte von Innsmouth war alles andere als ereignislos verlaufen. Neben dem bekanntesten Ereignis, der Razzia von 1928, die dem Ort den Todesstoß versetzt hatte, kursierte noch eine Reihe weiterer seltsamer Geschichten. Und der Ursprung dieser Ammenmärchen ließ sich unschwer nachvollziehen.

Meine britischen Vorfahren stammten aus Cornwall, einer Gegend, die mit Legenden geradezu überfrachtet ist. Ein Dutzend dicke Bücher hätte nicht ausgereicht, die Geistergeschichten dieses Landstrichs lückenlos aufzuzeichnen. Wenn man dann noch die versunkene Stadt Lyonesse und die mythische Seeschlange Morgawr hinzunahm, verfügte man über eine reichhaltige Sammlung feinsten Seemannsgarns. Mal ehrlich, jede ländliche Ecke kennt solche Volksmärchen und Innsmouth bildete da keine Ausnahme.

Ich war mehrfach auf Mutmaßungen gestoßen, dass der Übergriff des FBI nichts mit dem verbotenen Destillieren von Whiskey zu tun hatte, sondern einzig und allein dem Zweck diente, eine Brut menschlicher Mutanten auszurotten, die in der Kleinstadt und am Teufelsriff lebten, einem Riff, das mehrere Meilen vom Land entfernt lag. Die Bundesagenten hatten das gezackte Riff tatsächlich gesprengt, aber ich vermutete, dass es dort eine verborgene Anlegestelle gegeben hatte, an der die Boote festmachten, mit denen die Einwohner den Alkohol die Küste entlangtransportierten. Heute bekommt man das Teufelsriff kaum noch zu Gesicht. Die Sprengung und der gestiegene Meeresspiegel führten dazu, dass es sich nur bei extremem Niedrigwasser ab und an erkennen lässt. Diese Vermischung von Wahrheit und Fiktion bietet den idealen Nährboden, um allzu faktenorientierte Zeitgenossen von der richtigen Fährte abzubringen.

Ich jedenfalls war so sehr in meine Gedanken vertieft, dass ich beinahe die Abzweigung verpasst hätte. Die alte, verwahrloste Straße war schlecht ausgeschildert und offenbar kaum befahren. Es gab so viele Schlaglöcher im Asphalt, dass es mich beruhigte, in einem Fahrzeug mit Allradantrieb zu sitzen. Die Straße führte in weiten Kurven abwärts und schlängelte sich in ein weites Tal hinein, das in dichtem Mischwald verborgen lag. Die Bäume und das Unterholz schienen sich der ungepflegten Durchfahrtstraße bemächtigen zu wollen: Pflanzen wucherten auf die Fahrspur, Bäume beugten sich grübelnd über den Wagen, während ich langsam weiterfuhr.

Dann fiel mir die Stille auf. Eine unheimliche Stille. Durch das offene Fenster konnte ich lediglich den eigenen Motor und das leise Knattern des Auspuffs hören. Mich juckte es in den Fingern, das Radio einzuschalten, aber ich tat es nicht. Schließlich endete der Straßenbelag und es gab nur noch einen Feldweg, gesäumt von Silberbirken, deren kupferblättrige Kronen ein Dach über mir bildeten. Einige alte Reifenspuren waren in den getrockneten Dreck eingesunken und unterstrichen zusätzlich, dass schon lange niemand mehr diese Strecke passiert hatte.

Der Wagen brach auf der unebenen Spur mehrfach aus. Ich war auf der Suche nach einem stillgelegten Schienenstrang, der früher einmal die Querverbindung von Rowley nach Innsmouth gebildet hatte. Kaum jemand konnte sich noch an die Zeit erinnern, als er in Benutzung gewesen war. Die alte Bahnlinie, die auf einem Damm quer durch die Marsch verlegt worden war, stand zuoberst auf meiner Liste der Orte, an denen man Gold versteckt haben mochte. Meine Konzentration ließ nach, während ich danach Ausschau hielt, und plötzlich sackte mein rechtes Vorderrad mit einem Ruck in ein tiefes Schlagloch. Der Wagen machte einen Schwenk zur Seite und blieb stehen. Mich selbst schleuderte die Wucht der Erschütterung auf den Beifahrersitz.

Ich fluchte. Der Motor war ausgegangen und der Toyota zur Seite gekippt stehen geblieben. Es könnte schwierig werden, ihn aus dem Loch herauszumanövrieren, aber als ich mich kurz umschaute, bemerkte ich, dass der umgebende Wald sowieso zu dicht zum Weiterkommen wurde. Von hier aus musste ich zu Fuß weitergehen. Als ich den schweren Rucksack auf den Rücken wuchtete, fiel mir erneut das verstörende Fehlen von Vogelgezwitscher auf. Egal, ich widmete mich meiner ersten Aufgabe: dem Abgleich der Umgebung mit der reichlich antiquierten Landkarte, die ich unterwegs in einem Buchladen gekauft hatte.

Der Besitzer hatte mir erklärt, dass sich in diesem Landstrich seit der ursprünglichen kartografischen Vermessung kaum etwas verändert habe. Dann ergänzte er: »Die ham schlechtes Wetter vorhergesagt«, ganz so, als hätte ich ihn danach gefragt. »Grad erst ham die im Radio gesagt, dass der Schnee kommt, direkt von den Green Mountains runter.«

»Kein Problem für mich«, hatte ich abgewinkt. »Ich habe viel Erfahrung mit winterlichen Wetterbedingungen.«

Der alte Mann nahm seine Zweistärkenbrille ab. Er schien resigniert festzustellen, dass seine Taktik, mich von meinem Vorhaben abzubringen, versagt hatte. Und das stimmte natürlich. Dann starrte er mich mit kurzsichtigen Augen an und gab schließlich ein neues Detail zum Besten, das mich abschrecken sollte: »In Innsmouth … da hausen Leute in den Bruchbuden, die sehen es nicht gern, wenn da Fremde auftauchen.«

»Oh?«, machte ich und man merkte mir meine Überraschung sicher an. »Ich dachte, die Stadt ist seit mehreren Jahren verlassen? Na, jedenfalls bin ich ja auch gar nicht an dem Städtchen selbst interessiert, sondern an den wilden Tieren, die in der Gegend leben.«

Er verstand mich offenbar zunächst falsch, denn er nickte heftig: »Jawoll, so isses - ein wilder Haufen ist das, der da haust.«

»Sie meinen, so was wie Hausbesetzer? Oder Hippies?«, fragte ich.

»Vielleicht.«

Ich ging, ohne mir die Karte im Laden genauer anzusehen, aber jetzt stellte ich fest, dass sie sehr detailliert war. Sie hielt die Ausbreitung des Waldes ebenso fest wie die wenigen Ansiedlungen, die fast von ihm verschluckt wurden; außerdem das Sumpfgebiet und den alten Schienenstrang. Es gab auch eine recht gute Darstellung von Innsmouth selbst, von der Küstenlinie, dem Manuxet River und selbst vom Teufelsriff. Ein Kreuz zeigte an, dass sich im Ort eine Kirche befand. In der Legende stieß ich auf die umständliche Bezeichnung Esoterischer Orden des Dagon. Ich erinnerte mich daran; dieses Gotteshaus war mir schon bei einer früheren Recherche begegnet. Offenbar hatte ganz Innsmouth irgendwann beschlossen, zu einer schrägen Religion überzutreten, so was wie den Mormonen oder den heiligen Heulern oder dergleichen. Worum auch immer es sich handelte, es hielt das Städtchen jedenfalls nicht davon ab, vom Schwarzgebrannten zu profitieren.

Ich fand meine Route auf der Karte, zeichnete sie ein und verschaffte mir einen Überblick der näheren Umgebung. Ein kurzer Blick auf den Kompass genügte, dann wusste ich, dass ich nach Norden gehen musste, mitten ins Unterholz hinein. Es entpuppte sich als ordentliches Stück Arbeit, mich durch das Gestrüpp dicht wachsender Büsche und Dornen zu kämpfen, die bei jedem Schritt an meinen Stiefeln hängen blieben und mich zu fassen suchten. Dicht stehende Ansammlungen von Bergeschen, Zuckerahorn und Tannen behinderten mein Vorankommen für eine Weile, bevor sie einem Dickicht aus Lanzenschildfarn, Apfelbeeren und Zimtfarn Platz machten.

Als das Tageslicht oktoberfrüh dämmerte, erreichte ich die ersten Ausläufer der Marschen. Mein Frohsinn verließ mich etwa zur gleichen Zeit. Über mir schienen sich die grauen Wolken mit dem kalten Nebel, der winzige Tröpfchen in der Luft formte, zu vereinen und sich wie ein Leichentuch auf die weite, flache Ebene zu legen. Ertrunkene Fichten, hager und zu Skeletten ihrer selbst verkümmert, ragten aus dem Wasser empor wie dünne, vielarmige Knochenglieder.

Eine große Zahl der Flachlandsümpfe Neuenglands hat man mit Müll und Schutt aufgefüllt, sodass einzigartige Biotope zerstört wurden. In Anbetracht dessen hätte es mich eigentlich erfreuen sollen, das Moor von Innsmouth noch als echtes Moor anzutreffen und erleben zu dürfen, aber stattdessen durchlief mich ein Frösteln. Meine leichtfüßige Stimmung verdüsterte sich zusehends. Die Nacht senkte sich herab und mir war klar, dass ich an diesem Tag nicht weiter vorankam. Der Sumpf bremste mein Fortkommen, denn das Wasser stand sehr hoch. Ich musste wohl oder übel in den Wald zurückkehren und mein Ziel weitläufig umkreisen, immer wieder ein paar Schritte ins Moor wagen, um eventuell Stellen mit halbwegs festem Boden unter den Füßen zu finden, die mich bis zu der Nebenlinie der Eisenbahn führen konnten.

Ich stellte mein Zelt auf dem sicheren Waldboden einer nahen Lichtung auf und schaltete rasch die Lampe im Innern ein, um die immer dichter werdenden Schatten zu vertreiben, die mich umgaben. Nachdem ich eine einfache warme Mahlzeit gegessen und den bereits ersehnten Becher heißen Kaffee getrunken hatte, verkroch ich mich in den Schlafsack. Und wie ich so dalag im beruhigenden gelben Schein der Lampe, die mein Zelt ganz hell erleuchtete, konnte ich zum ersten Mal an diesem Tag die Geräusche von Tieren hören. Ganz deutlich drang das laute Quaken der Frösche heran, die sich zwischen Sumpflorbeer und Riedgras am Rand des Wassers versteckt hielten. Neben dem üblichen Gequake hörte ich auch einige ungewohnte Reibelaute, die fast wie ein unterdrücktes Bellen klangen. Diese tiefen Töne setzten sich eine ganze Weile fort, bis sie anfingen, an meinen Nerven zu zehren. Ich war selbst mehr als erstaunt, dass ausgerechnet ich, ein erfahrener Camper in der Wildnis, mich wegen ein paar Amphibiengeräuschen so unbehaglich fühlte, aber es ließ sich nicht abstreiten.

Ich zitterte in meinem Schlafsack, denn die kalte Luft schien mich wie ein Windhauch zu treffen. Die Leuchte flackerte zögernd und der Zeltstoff über mir blähte sich im Wind. Ich erschauerte noch einmal und versuchte, das Gefühl abzuschütteln, beobachtet zu werden. Der Impuls, ganz schnell aus meinem notdürftigen Obdach zu krabbeln, setzte sich in meinem Kopf fest und wurde drängender. Ich wartete und lauschte den kehligen Unterhaltungen der Frösche. Als ich mich endlich an das Krächzen und Knacken gewöhnt hatte, erschreckte mich ein lautes Platschen ganz in der Nähe. Es klang haargenau so, als habe jemand einen großen Stein in das Moor plumpsen lassen. In diesem Teil des Landes gab es keine Alligatoren. Was sonst mochte also für diese Störung verantwortlich sein? Das einzige Tier, das mir einfiel, war ein Biber, aber auch der lebte in diesen Breitengraden nicht. Und irgendwie konnte ich mir nur schwer einen Biber vorstellen, der freiwillig in einen Sumpf sprang.

Ich setzte mich zitternd auf, der Schlafsack reichte mir noch bis um die Taille, und meine Ohren lauschten angestrengt auf den kleinsten Hinweis, um was es sich handelte. Ich streckte langsam eine Hand aus und schaltete die Lampe ab. Die Schwärze der Nacht fiel auf mich herab. Meine Augen versuchten, die abrupt reduzierte Helligkeit zu kompensieren, indem sie Flammen und Blitze über meine Netzhaut jagten. Ich biss die Zähne zusammen, damit sie nicht klapperten. Die Frösche hatten mit ihrem Lärmen aufgehört und ich wollte auf keinen Fall der Erste sein, der die Stille durchbrach. Ich stellte mir vor, wie draußen der Nebel durch den Wald glitt und sich wie schweres Gas über das Wasser des nahen Sumpfs legte, um die Quelle des Platschens zu verbergen.

Ich wollte nicht, dass es meine Gegenwart bemerkte, was immer es war. Wenn ich nur lange genug still blieb, so hoffte ich, zog es einfach weiter. In jenem Augenblick war ich außerstande, mir auszumalen, was für ein Tier da durch die Wälder strich, und das ließ meine Vorstellungskraft wilde Blüten treiben. Ich hatte noch nie in meinem Leben so große Angst gehabt. Vor dieser Nacht hatte ich nicht an grundlose Angst, die aus dem Bauch heraus entstand, geglaubt. Nun tat ich es.

Es ist schon komisch, wie leicht das Grauen sich wieder in Nichts auflöst. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war ich überrascht, überhaupt in der Lage gewesen zu sein, einzuschlafen. Wie ein Traum hatte sich das Grauen der vergangenen Nacht verflüchtigt, bis nichts davon übrig blieb. Dennoch dachte ich beim Aufwachen als Erstes an die bizarren Erzählungen über Innsmouths Vergangenheit und die Mutanten, die dort angeblich gelebt hatten.

Diese Legenden, die ich nur überflogen hatte, als ich mich in die lokale Geschichte einlas, schwirrten lediglich als wilde Fantasien durch meinen Kopf, denn ich konnte mich nicht an genaue Details erinnern. Es war irgendwie um schreckliche Verwandlungen gegangen, die sich mit der Zeit vollzogen hatten, so wie sich eine Raupe in einen Schmetterling verwandelt, nur dass der Prozess in diesem Fall umgekehrt verlief: Das Schöne hatte sich zum Hässlichen verwandelt. Und dann gab es noch den fischigen Gestank der Stadt, der einen Würgereiz auslöste.

Beim Gedanken an den Geruch von Fischen bemerkte ich ein leichtes, aber hartnäckiges Aroma in der Luft, als ich das Zelt verließ. Die Küste lag gar nicht so viele Meilen entfernt, daher schätzte ich, dass der Wind die Schwaden vom Strand ins Landesinnere geweht haben musste. Möglicherweise hatte die Ebbe einen Algenteppich freigelegt oder das Riff war aus dem Wasser emporgestiegen, mit einem gestrandeten Floß aus Tang und verwesendem Fisch. Der Geruch war jedenfalls unverkennbar vorhanden und keineswegs so angenehm, wie man es von einer Meeresbrise erwartete.

Ich kam jetzt gut voran und um die Mittagszeit hatte ich eine Stelle gefunden, an der ich über das sumpfige Moos und den moorigen Schlamm gehen konnte, ohne einzusinken. Das Gebiet, in dem ich mich bewegte, stieg sachte aus dem umliegenden Wasser an und alle paar Hundert Meter trafen meine Stiefel auf festeren Untergrund. Ich wanderte jetzt in nordöstlicher Richtung und erwartete, die Eisenbahnlinie jeden Moment ausfindig zu machen. Dann fiel mein Blick durch eine einzelne Reihe Birken auf den niedrigen Damm, der in einer geraden Linie das Land zerteilte.

Mein Plan bestand darin, den Schienen zu folgen, und zwar bis nach Innsmouth hinein, falls das nötig sein sollte. Ich wollte mich ganz langsam vorarbeiten und nach etwas Ausschau halten, das mir einen Hinweis auf das Versteck des Goldschatzes geben konnte. Meine Überlegungen dabei waren folgende: Wegen des nassen Untergrunds mussten die FBI-Männer ihr unrechtmäßig erworbenes Vermögen irgendwo im festen Grund vergraben haben, und der Wall dort vor mir war der einzige sichere Ort, weil er ein gutes Stück über dem Wasser lag, das bis zu diesem Punkt von Ebbe und Flut beeinflusst wurde.

Ich trottete also die vom Unkraut überwucherten Schienen entlang. Alte Eisenstücke, die Schlacke geschmolzener Asche und anderes Geröll verstreuten sich entlang der Route. All der Schutt musste sich schon sehr lange hier befinden. Aber es gab keine Cola-Flaschen oder Styroporverpackungen von Schnellrestaurants, wie man sie normalerweise an einer Bahnlinie erwartet hätte. Hier war ewige Zeiten niemand entlanggegangen. Zu beiden Seiten verschwand das Marschland im Dunst aus Sumpfgas, der alles Land in der Ferne unter sich begrub.

Nieselregen fiel aus einem Himmel, der sich grau in grau über mir wölbte und erneut meine Stimmung verdüsterte. Als ich auf die Bahnlinie gestoßen war, hatte das auch meine Laune kurzzeitig verbessert. Ich hob die Schultern, um das Gewicht meines schweren Rucksacks zu verlagern, denn ich ging unter der Last bereits ganz gebückt. Meine Augen richteten sich konstant auf den Schotter, der nass unter meinen Stiefeln glänzte. Von den Schienen blätterten hier und da Rostklumpen ab. Brombeergestrüpp griff an manchen Stellen mitten in den Weg hinein, als wolle es die Trostlosigkeit der Schienenstränge für immer vor menschlichen Augen verbergen.

Für eine Weile stellte ich mir vor, ich sei ein Hobo, ein Landstreicher und einer der wenigen Eingeweihten, die die geheime Welt stillgelegter Bahnlinien und vergessener Stahltrassen ihr Zuhause nannten. Eine Welt, die sich wild verzweigt durch das Land ausbreitete und in weit entfernte Geisterstädte führte, in denen lose Fensterläden den Rhythmus schlugen und der Wind die zerschlissenen Vorhänge erzittern ließ.

Der Bodennebel über den Marschen vereinigte sich mit dem Regenschleier, sodass es schien, als ob sie den Himmel zu sich hinunterzogen und die schwache Erde damit bedeckten. Der Sumpf und die fernen Bäume wurden gänzlich verschluckt und verschwanden wie hinter einem grauen Leichentuch, durch das kein Licht mehr drang. Ich legte eine Rast ein und beschloss, dass es sinnvoll schien, an dieser Stelle mein Zelt aufzustellen und sie als Basislager zu benutzen, von der aus ich die Umgebung genauer inspizieren konnte. Außerdem könnte ich mich so vor dem Regen schützen, bis dieser nachließ.

Um halb fünf wurde es bereits wieder dunkel, aber das Nieseln hatte nicht aufgehört. Für diesen Tag reichte es mir. Ich nahm mir selbst das Versprechen ab, morgen alles daran zu setzen, ein anständiges Stück Weg in Richtung Küste zurückzulegen. Wenn ich den Rucksack und meine Vorräte hierließ, kam ich schneller voran und konnte mich zugleich darauf verlassen, dass mich am Ende des Tages ein trockenes Obdach erwartete.

Am nächsten Tag erwachte ich zur frühen Dämmerung und fühlte mich absolut ausgeruht. Die Nacht war störungsfrei verlaufen. Nichts hatte mir Angst eingejagt. Während die Sonne langsam hinter den Wolkenschleiern am östlichen Horizont aufstieg, konnte man das weitläufige Flachland der Marschen immer besser überblicken. Der Baumbestand dünnte in der Ferne aus und dahinter erstreckten sich Schilf und andere Gräser, durch die sich klare, sonnenbeschienene Wasserwege schlängelten. An einigen Stellen reckten sich kleine Inseln aus dem Wasser empor, bloße Buckel, die gerade mal Platz für einige Birken boten. Und als die Sonne noch höher stieg und der Tag richtig begann, erkannte ich weit in der Ferne finstere Gebäude – der Ortsrand von Innsmouth.

Die Bahnlinie vollzog direkt vor mir einen weiten Bogen nach rechts, gen Osten, während das Land weiter im Westen, zu meiner Linken, zu einer schroffen Landzunge voller Klippen anstieg. Ich roch das Meer auch aus dieser Distanz. Zumindest hielt ich den scharfen Geruch für Aromen von Salzwasser und Strand, aber es schwang auch ein starker Hauch von Verwesung darin mit, wie von verrottendem Seetang. Es dauerte nicht lange, bis mir klar wurde, dass die Ausdünstungen in Wirklichkeit von den Salzwassermarschen um mich herum aufstiegen. Wo man zwischen den Binsen das Wasser ausmachen konnte, wirkte es klebrig und algenbedeckt, beinahe wie ein stehender Tümpel. Mir war klar, dass es sich hier um einen perfekten Ort zur Beobachtung von Wattvögeln und dergleichen handelte, deren Lebensraum exakt diesen Bedingungen entsprach. Aber ich war nicht in der Stimmung, mich auf Vogelkunde zu konzentrieren. Ich hatte nicht einmal die Kamera mitgenommen.

Ich legte etwa sechs Meilen im hellen Sonnenlicht zurück. Eine Brise schwächte die Wärme ihrer Strahlen zwar etwas ab, aber trotzdem brachte mich mein Marsch ins Schwitzen. Ich fand keinerlei Anzeichen dafür, dass irgendwo Gold versteckt sein könnte, kein Fleckchen Erde, das den Eindruck erweckte, als habe man es irgendwann einmal umgegraben, keine Markierungen, die ein Versteck anzeigen mochten. Ich untersuchte den gesamten Damm, auf dem die Schienen verliefen, schob Gestrüpp beiseite und stocherte in jedem Loch herum, bis ich Erschöpfung verspürte.

In etwa zwei Meilen Entfernung führten die Bahngleise in die Stadt. Die Gebäude von Innsmouth, die ich von hier aus wahrnehmen konnte, erinnerten mich an Knochen, weil ihre morschen Plankendächer in den Himmel staken wie Rippenbögen. Es handelte sich wohl um Lagerschuppen – alte, hölzerne Gebilde. Ich dachte gerade, dass mich das Schicksal nun offenbar doch dorthin führte, als ich plötzlich eine tiefe Grube an der Seite des Walls vor mir entdeckte, mit der ich schon nicht mehr gerechnet hatte. Komischerweise wirkte die Erde an dieser Stelle, als sei dort gerade erst gegraben worden, ebenso wie man erkennen kann, dass der Bau eines Tieres noch bewohnt ist. Aber das mochte auch eine Auswaschung sein, die ein heftiger Regenguss verursacht hatte. Ich kletterte und schlitterte den Hang hinab und ein Haufen Erde und Geröll kullerte hinter mir her. Da sah ich, dass die Grube noch weit größer war, als man von oben hatte sehen können. Mir hätte klar sein müssen, dass sie nicht das Goldversteck sein konnte, aber in diesem Moment verdrängte ich jegliche Logik. Immerhin hatte ich den Eingang zu einer Höhle gefunden, die unter den Gleisen begann und tief in die Erde hineinführte.

Glücklicherweise hatte ich meine Taschenlampe mitgenommen. Deshalb zögerte ich nicht lange, sondern bückte mich und krabbelte in die Öffnung hinein. Der Stollen schien mir wie der Bau eines Tieres in den Untergrund gegraben zu sein und verlief zunächst steil abwärts. Er folgte einem Ziel, das sich unterhalb des Moorspiegels befand. Mich erstaunte, wie wenig Feuchtigkeit einsickerte, auch wenn der Gestank von totem Fisch die Luft verpestete. Der Geruch war überwältigend, sodass ich mir mein Taschentuch vor Mund und Nase binden musste, und auch das schaffte nur unzureichend Abhilfe. Es wurde so penetrant, dass der Gang eigentlich nur zum Strand von Innsmouth führen konnte. Mir drängte sich beiläufig die Frage auf, ob er sich bei Flut mit Wasser füllte.

Ich tastete mich an den Wänden entlang, überrascht davon, wie massiv sie sich anfühlten, ähnlich wie versteinerte Erde. Das erklärte zweifellos, wieso das Moorwasser nicht eindringen konnte. Zunächst vermutete ich darin das bislang unentdeckte Versteck einer Schmugglerbande, aber eigentlich war die Höhle dafür zu ausgedehnt – und auch zu weit von der Küste entfernt. Im Inneren wies nichts darauf hin, wofür sie genutzt wurde oder wie sie entstanden sein mochte.

Alle weiteren Spekulationen wurden gleich darauf unterbrochen, als der Lichtstrahl meiner Lampe zurückgeworfen wurde: Ich war auf eine Sackgasse gestoßen. Der Weg wurde von alten, morschen Planken versperrt. Das Ganze wirkte, als sei es hastig und notdürftig aufgeschichtet worden. Dieser Eindruck wurde durch das Wasser, das zwischen den Spalten herauströpfelte, noch verstärkt. Bevor ich mir lange überlegen konnte, wohin ich mich wenden sollte, brach ein Schwall von Schutt und Geröll durch die hölzerne Wand.

Sekundenlang starrte ich erschreckt blinzelnd auf das, was mir da entgegenfloss, bevor ich mich hektisch umdrehte und vor dem Sturzbach aus Dreck und Wasser floh, der sich in den Tunnel ergoss, als habe er es auf mich persönlich abgesehen und wolle mich verschlingen. Ich rannte um mein Leben, so schnell und mit so großen Schritten, wie der beengte Raum es eben erlaubte.

Ich hörte das tödliche Schwappen des Wassers, das hinter mir in die Höhle strömte und immer noch nach mir griff, obwohl es jetzt wieder steil bergan ging. Ich wandte den Kopf, denn ich musste wissen, wie meine Chancen standen, nicht in diesem Loch zu ertrinken. Ich konnte mir nicht sicher sein, aber es sah aus, als schwämme da etwas in der Sturzflut, etwas Großes, mit schuppiger Haut. Ich stieß einen Schrei aus, denn ich befürchtete, dass hinter mir eine Leiche vom Wasser mitgerissen wurde. Die Vorstellung, hier unten zusammen mit dem verwesenden Fleisch eines menschlichen Kadavers begraben zu werden, schreckte mich so sehr, dass sie mir neue Kraft verlieh und mich noch schneller rennen ließ. Diese Vorstellung und die toten weißen Augen – glupschige Froschaugen ohne Lider, die man in die Augenhöhlen eines Menschen gezwängt zu haben schien. Augen, die mich aus dem Ansturm des Wassers böse anzustarren schienen!

Als ich endlich aus dem Tunnel hinaus ins Freie stolperte, gewann ich den Eindruck, dass mein Brustkorb jeden Moment explodieren müsse, so wie ein Dampfkessel unter zu viel Druck. Dennoch blieb ich nicht stehen, sondern kletterte mit Händen und Füßen, hielt mich an Grasbüscheln fest und griff nach jedem Strauch, um auf höher gelegenes Gelände zu gelangen.

Hinter mir brach die verderbliche Flut mit einem Mal aus der Öffnung heraus. Das Wasser wurde schnell den Hang hinabgespült und vereinte sich mit den ebenso widerlichen Tümpeln der Sumpflandschaft. Ich warf einen Blick zurück, aber inmitten von Geröll, schwarzem Wasser und Gestank trieb keine Leiche. Sie musste an einer der engeren Stellen des Ganges hängen geblieben sein. Dann verebbte der Strom endlich. Ich hockte oben auf dem Damm und versuchte mit gierigen Zügen, wieder zu Atem zu kommen. Mein Herz schlug wirr und heftig, meine Augen ließen Tränenströme über die Wangen fließen, als wollten sie den unterirdischen Wasserfall nachahmen. Meine Hände waren aufgeschürft und wurden von blutigen Rissen durchzogen, die von den gemeinen Dornen der Brombeersträucher stammten, an denen ich mich bei meiner Flucht festgekrallt hatte. Ich musste so schnell wie möglich zu meinem Lager zurückkehren, die Wunden verarzten, trockene Sachen anziehen und mich von diesem Todesschrecken erholen.

Den Rückweg bewältigte ich deutlich schneller, denn ich ging immer geradeaus. Mein Verlangen nach dem verlorenen Gold war immer noch so groß wie zuvor, aber in diesem Moment zweifelte ich daran, je wieder einen unterirdischen Raum jeglicher Art zu betreten. Das Entsetzen beim Anblick dieses aufgedunsenen Objekts – ich konnte mir nur vorstellen, dass es eine Leiche sein musste, die zu lange in der Beize dieses ekligen Moorwassers gelegen hatte – war einfach zu viel gewesen. Schlimm genug, unverhofft irgendwo auf eine Leiche zu stoßen, aber eine, die in einer unterirdischen Sintflut Jagd auf dich machte, das löste eine noch weitaus größere Furcht aus.

Völlig erschöpft erreichte ich mein Lager, als der dritte Tag sich dem Ende zuneigte. Vielleicht wurde ich auch einfach zu alt für diese Art von Abenteuer. Kaum hatte ich den Gedanken zugelassen, fuhr mir der Schreck erneut wie ein Blitz ins Herz: Mein Zelt war zur Hälfte niedergerissen worden. Auf der einen Seite klaffte eine Reihe langer Schlitze. Die Plane flatterte im Wind wie eine Pranke aus dickem Stoff. Als ich mich in die Überreste meiner Unterkunft hineinzwängte, fand ich die Lampe zerschlagen und den Proviant durchwühlt vor.

Während ich alles einsammelte, was noch zu gebrauchen war, wurde mir immer kälter. Die ersten Flocken wurden von einem eisigen Wind über die kahle Landschaft gefegt und verdichteten sich schnell zu einem echten Schneegestöber. Jemand hatte den Schafsack in Fetzen gerissen. Er war unbrauchbar geworden. Das Zelt bot keinen Schutz mehr. Von der Verpflegung blieben mir nur ein paar Büchsen und etwas Wasser, die der Zerstörung im Rucksack entgangen waren.

Ich entschied, nach Innsmouth aufzubrechen. Nicht nur, dass mich der erneute Marsch warmhielt, auch lag die Wahrscheinlichkeit am höchsten, in einem der alten Gemäuer einen trockenen Unterschlupf für die Nacht zu finden. Morgen wollte ich mich dann auf den Weg zurück zum Wagen machen, und sei es auch nur, um meine Vorräte für einen zweiten Vorstoß zu erneuern.

Als ich loswanderte, ließ der Schneefall nach, aber der Wind war noch stärker geworden und verursachte unheimliche Flüstergeräusche in den Binsen, wo er durch die Dunkelheit blies und seufzte. Ich verspürte große Dankbarkeit für die Ausdauer meiner Taschenlampe, denn ihr heller Strahl erlaubte es, sich relativ schnell zu bewegen, ohne zu stolpern. Ich hielt den Kopf im Gegenwind gesenkt und trabte über die monotonen Gleisbalken, die einer nach dem anderen im Lichtkegel meiner Lampe vor mir auftauchten. Fast wären mir die ersten Gebäude zur Linken und Rechten entgangen, die den Ortsrand von Innsmouth markierten. Nicht weit entfernt vor mir befanden sich die skelettartigen Lagerhäuser, die ich am Vormittag aus der Ferne erspäht hatte und deren hölzerne Dachsparren nach dem Himmel zu stechen schienen. Die geschwärzten, von Salz gegerbten Holzbalken glichen verkohlten Knochen.

Aber es war nicht der Anblick der baufälligen Hallen, der meine Aufmerksamkeit auf sich zog, sondern die Lichter, die in diesen Hallen umherwanderten. Verirrte Strahlen, die durch Risse in den Wänden nach draußen drangen oder seltsam blass durch die dreckverdunkelten Fenster leuchteten. Meine eiligen Schritte verlangsamten sich beinahe bis zum Stillstand, als mein Hirn die Szene verarbeitete, die vor meinen Augen inszeniert wurde.

Die Worte des knorrigen Mannes aus dem Buchladen kamen mir erneut in den Sinn und ließen mich erschauern. Dass hier Menschen hausten, hatte er gesagt. Meine Armbanduhr verriet mir, dass es fast Mitternacht war. Trotz der eisigen Kälte, die herrschte, hatte meine Gänsehaut weniger mit der Temperatur zu tun, als vielmehr mit den bizarren Mustern, die das Licht aus dem einen großen Gebäude vor mir warf. Als ob mehrere Menschen in der ansonsten dunklen Halle durch die Gegend spazierten, heimlich und leise, aus unerklärlichen Gründen. Das brachte mich endgültig aus der Fassung.

Ich wischte mir die Schneeflocken aus dem Gesicht und blieb ganz starr stehen, als ich endlich auf die Idee kam, meine Taschenlampe auszuschalten. In der plötzlichen Dunkelheit hörte ich seltsame Geräusche, die sich deutlich vom Rascheln des Windes im Unterholz unterschieden. Wieder diese verfluchten Frösche und ihr amphibisches Krächzen, Quaken und Bellen!

Als meine Augen sich langsam an die Dunkelheit gewöhnten, sah ich, dass das große Gebäude direkt am Rand des Marschlands hockte. Oder vielleicht war der Wasserspiegel auch so stark angestiegen, dass er die Halle halb zu ertränken drohte. Wie auch immer, die Seitenwände waren bereits ein gutes Stück in das zähflüssige Wasser eingesackt, sodass es schien, als hole eine langsame, aber allwissende, fließende Gottheit sich ihr Eigentum zurück.

Ich kauerte mich auf den Schienen zusammen, denn ich fühlte mich viel zu exponiert auf der Anhöhe des Bahndamms und im Scheinwerferlicht der fiebrigen gelben Strahlen aus dem Lagerhaus, die immer wieder in meine Richtung tanzten. Mein Atem verwandelte sich in ein lautes Keuchen, eine Art Kontrapunkt zum unglaublichen Quaken der Frösche. Mir wurde unzweifelhaft bewusst, dass es sich bei meinem Herzen um einen Muskel handelte, denn es zog sich immer wieder schmerzhaft zusammen in dem Versuch, das Blut durch die verengten Ventile meines Körpers zu pumpen. Meine Ohren rauschten bereits und die Hände zitterten, als sich die beiden Torflügel der Halle nach außen hin öffneten. Die dicken Holztore bewegten sich nur schwerfällig, denn sie lagen halb unter Wasser.

Drinnen waberten weiterhin die Lichtstrahlen, deren Quelle oder Grund ich nicht ausmachen konnte. Ich begriff inzwischen allerdings, dass sie von unten stammen mussten, aus dem Wasser, welches den wogenden Boden der Halle bildete. All das erfasste ich in einem kurzen Augenblick, bevor ich auf nichts anderes mehr achten konnte als auf die schemenhaften Formen, die aus der schwärzlichen Flüssigkeit auftauchten. Manche von ihnen schwammen, andere wateten im flachen Wasser auf mich zu. Als ich sie sah, mochte ich wohl geschrien haben, drehte mich um und floh verzweifelt von diesem entsetzlichen Ort.

Bei Gott, diese furchtbaren Augenblicke erschienen mir wie eine Ewigkeit! Diese Sekunden, in denen ich den Blick nicht abwenden konnte von diesen Gestalten, die platschend, watend und bellend auf mich zudrängten, unaufhaltsam und in immer größerer Zahl. Mir wurde klar, dass der Körper in der Höhle weder tot noch menschlich gewesen war, jedenfalls nicht komplett der Gattung des Homo sapiens zuzurechnen.

Bei diesen Monstern handelte es sich um tierische oder menschliche Missgeburten der schrecklichsten Art. Riesige Froschlurche, deren Haut die Farbe von Schiefer oder totem Seetang aufwies, fleckig und rau. Ihre Augen waren nach außen gewölbt wie die kugeligen Sehorgane toter Fische und ihr Geruch war ein absolut widerwärtiger, Übelkeit erregender Dunst salziger Verwesung, der immer überwältigender wurde, je näher die Kreaturen kamen.

Der letzte klare Blick, den ich in dem diffusen Licht aus dem Wasser auf sie erhaschte, ließ in mir die eine Erkenntnis reifen: Diese Ausgeburten der Hölle mussten das wahnsinnige Überbleibsel jenes Mutantengezüchts sein, von dem ich gelesen, aber an das ich leichtfertigerweise nicht geglaubt hatte. Eine grauenvolle Rasse von Wesen der Tiefe – Meereswesen, die sich mit den Einwohnern von Innsmouth gepaart hatten. Während ich schrie und rannte, immer weiter schrie und rannte, blieben mir das Klatschen ihrer Füße und ihr schreckliches Quaken stets dicht auf den Fersen. Wenn ich stolperte und hinfiel, war mein Schicksal definitiv besiegelt.

Diese schleimigen amphibischen Scheusale, die mich jagten, waren alt, ihre Zeit abgelaufen. Ihr Atem in meinem Rücken roch danach und die Beschaffenheit ihrer Haut erinnerte an Wundbrand im Endstadium. Meine Schreie zerrissen die Nacht, verließen als gequälte Schreckenslaute meinen wunden Kehlkopf. Aber es war nicht der Tod, den ich fürchtete und verabscheute. Es war nicht die endgültige Vereinigung mit dem Tod, vor der ich davonlief, als ich den Schienenstrang entlanghastete. Ich spürte die Schottersteine in meine Füße beißen und lehnte den Oberkörper in den Wind, gerade außerhalb der Reichweite der Horde, die mir nachstellte.

Nein, der Tod war nicht das Schlimmste. Denn als ich vor dem Lagerhaus gehockt und zugesehen hatte, wie die letzten verbliebenen Überreste der entsetzlichen Evolution Innsmouths aus dem zerstörten Tor ins Freie strömten, begriff ich in abruptem Schrecken, dass all diese glitschigen, monströsen Lebensformen – ausnahmslos alle – weiblich waren … Wenn ich aus diesem gottverlassenen Sumpf nicht herausgekommen wäre … mein Gott, wenn diese bestialisch stinkenden Hexen mich lebend zu fassen bekommen hätten!

Manchmal frage ich mich, wer wohl der nächste arme Dummkopf sein wird, der eines Tages jene verlorene, vergessene Stadt betreten wird. Ich sorge mich um ihn, denn womöglich hat er nicht so viel Glück wie ich. Dann könnte Innsmouth erneut gebären, wie eine eiternde Wunde, ein Vorgeschmack der Hölle. Und dann werden all die glitschigen Gestalten meiner Albträume aus den Nebeln und dem Dunst hervorkriechen – als Zeugen eines neuen, dunkleren Zeitalters …