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Christian Uetz

Es passierte.

Roman

CHRISTIAN UETZ

Es passierte.

ROMAN

Der Autor dankt dem Kanton Zürich
für die Unterstützung des Werkes
.

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Für Peter Wartenweiler,
Fels der Freundschaft

INHALT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Nur zu Zeiten erträgt göttliche Fülle der Mensch.

FRIEDRICH HÖLDERLIN

1

DAMIAN WAR GEWISS, dass die Leiche, die im Wasser gefunden worden war, seine eigene war, als er im Radio hörte, der Tote habe die Identitätskarte mit seinem Namen bei sich getragen. Er dachte, die DNA wird es beweisen: Es bin ich, der ich neu inkarniert. Wie kann ich mir zeigen, dass ich tot bin und lebe? Ich brauche nicht mehr zu essen und ich verspüre auch keinen Hunger mehr. Wenn ich aber aus dem Zimmer und auf die Straße gehe, werden die Passanten nicht denken: Das ist doch der, dessen aufgedunsene Leiche eben aus dem Wasser gezogen wurde? So trat er aus dem Haus und versuchte, einen Baum auszureißen, den er voller Inbrunst umarmte. Zu seiner eigenen Verblüffung hatte er ungeheure Kraft. Da erwachte er.

Keinen Augenblick zweifelte Damian, dass der Traum als ein Vorzeichen einer HIV-Infizierung durch einen One-Night-Stand zehn Tage zuvor zu deuten sei. Acht Tage nach der wunderlichen Nacht bemerkte er viel zu rote und viel zu geschwollene Stiche am rechten Bein. Ob sie mir Flöhe ins Bett gebracht hat? Nach neun Tagen aber war die ganze rechte Wade davon dick angeschwollen und verhärtet, es wurde zur großflächigen Rötung, ein Ausschlag. So etwas hatte er in seinen neunundvierzig Jahren nicht erlebt. Jetzt kam ihm zum ersten Mal der Gedanke an Aids. Die Zweiunddreißigjährige hatte auch sonderbar kalte Schweißausbrüche während der Liebe, und sie ritt ihn so heftig, als ob es nicht nur Lust, sondern Verzweiflung auf Leben und Tod wäre. Dabei rutschte das Kondom ab, was wahrscheinlich einige Minuten unbemerkt blieb. Nachdem er sich ein zweites übergestülpt hatte, blieb er oben. Bald sagten beide im Echo: Ich bin unersättlich, und raunten es sich nun immer wieder gegenseitig ins Ohr. Ihn hatte zugleich die Vorsicht zwanghaft übernommen, sodass es ihm unmöglich schien, sich in ihr gehen zu lassen. Nun hörte er sie dann und wann flüsternd Nein! schreien, und nach kurzer Irritation war er sicher, dass es nicht ihm galt. Da ihr kaum noch geflüstertes Nein indes chronisch wurde, geriet er halb in Gedanken: Ist sie als Mädchen missbraucht worden und im Akt liegen die unbewussten Schichten blank und wiederholen die Abwehrreaktion des missbrauchten Mädchens? Aber nein, es musste das Nein sein, das nicht kommen will, damit es nicht vorbei ist: Nein! Das ist zu schön, nein! Ich lasse mich nicht gehen, nein! Du sollst mich nicht besiegen, nein! Ich will nicht sterben! Die so rot und hart geschwollene Wade ließ ihn zu Google greifen. Wenige Tage nach der Ansteckung kann die sogenannt akute HIV-Infektion grippeähnliche Symptome zeigen, Hautausschläge 52 %, geschwollene Lymphknoten 51 %. Und prompt: Der Lymphknoten an der rechten Leiste war dick angeschwollen und schmerzte, wenn er ihn leicht drückte. Da packte ihn die Angst. Der Traum aber vom Toten, der er war, tot und lebendig, dieser Traum, der doch nur ein Traum war, von dem überhaupt keine befreiende oder heilende Wirkung anzunehmen wäre, außer dass er ihn so intensiv geträumt hatte, dieser Traum beruhigte ihn. Nicht, weil er ihm die Befürchtung der Krankheit nahm, sondern, weil er die Krankheit nicht mehr fürchtete. Ich besiege den Tod, indem ich sterbe. Jetzt, in der Annahme der tödlichen Krankheit, war ihm das pure Leben schon das ganze Glück. Er hatte auch keine Angst mehr, kein Geld zu verdienen oder keinen Erfolg zu haben oder allein zu sein. Das war nun alles belanglos; alles aber hatte Sinn. Ich lebe nicht mehr lange. Das war nun sein Jubelsatz, unabhängig davon, ob er mit HIV infiziert war oder nicht. Ich lebe nicht mehr lange, das ist die wundersamste Droge, und es macht keinen Unterschied, ob man zwanzig ist oder fünfzig oder hundert. Ich lebe nicht mehr lange, denn ich habe Aids oder Krebs oder werde vom Lastwagen überfahren oder vom Einbrecher erschossen oder von der Lawine verschüttet. Ich lebe nicht mehr lange, was willst du noch von mir verlangen? Was willst du Versicherung und Vorsorge und Lohnverhandlung? Wie wunderbar war dies Nicht mehr lange. So wollte er immerzu nicht mehr lange unendlich lange leben. Ich lebe nicht mehr lange, am liebsten ewig. Nichts mehr tun für die Lebensverlängerung, damit ist das Geschäftsdenken aus den Angeln gehoben. Nichts mehr tun, um das Leben zu erhalten, das ist die gottwürdige Lebenslust. Und natürlich ist es auch die Bergpredigt. »Sorget euch nicht um euer Leben«, »Kümmert euch nicht um den morgigen Tag«, »Wer das Leben erhalten will, verliert es.« Damian war Theologe. Hieß es bei Nietzsche am Ende noch: »Dionysos gegen den Gekreuzigten«, so war doch in ihm schon und seither völlig evident: »Dionysos im Gekreuzigten.« Es ist die unablässig sexuelle Situation deiner wahnsinnigen Bezeugung, welche in der intimsten Sprachlust offen und hell wird, was sie schon immer war. Es ist zugleich die Abrechnung mit der verdrängten obszönen Energie der Politik, welche die polymorph-perverse Religionsnatur zum kalten und ultradestruktiven Machtinstrument pervertiert; und die Abrechnung mit der zum säkularisierten Geschäft übersexten und damit zugleich sexlosen Gegenwart, deren pur zu sich selbst befreite Befriedigung bis zum Ekel überflüssig wird. Eine leidenslose Zukunft als passionsloses Paradies und »Sex wird überschätzt« als stabile Anpassungsformel an die öde Funktionsgesellschaft. Aber wenn wir uns in der Realität einrichten statt auf die unmögliche Göttlichkeit ausrichten, brauchen wir uns auch nicht über Überdruss zu wundern.

Und schon erwachte das Verlangen, Lisa wiederzusehen. War es nicht eine herrliche Nacht mit ihr, die so spontan zu ihm nach Hause kam, nachdem sie sich am 17. März 2012 zufällig in der Sauna getroffen hatten? Er saß damals allein im großen Gemischtsaunaraum der Sauna Enge am See, sie trat mit heiter scheuem Blick und einem Becher Wasser in der Hand ein und wusste nicht recht wohin mit dem Becher, zumal es ja ohnehin unüblich ist, etwas mit in die Sauna zu nehmen. Mit ihrem Becher in der Hand guckte sie genauso umher wie das Hörnchen aus Ice Age, war sich dabei des Spiels mit der Unsicherheit völlig bewusst, setzte es auch als Spiel ein und bezeichnete so das Leben als etwas grundsätzlich Komisches. Das war ganz anziehend, und sie war ganz ausgezogen. Das erste Mal im Leben sahen sie sich und saßen schon splitternackt allein. Sie war dünn wie er, mit kleinen Brüsten, und groß, fast gleich groß. Ihr Gesicht war schmal, dabei ebenmäßig und keck. Er dachte nicht, dass dies ein One-Night-Stand würde, aber er dachte sofort an einen One-Night-Stand. Er dachte nicht: Das könnte ein One-Night-Stand werden, aber er dachte sofort: Ein One-Night-Stand ist ein schöner Gedanke. Als sie nach drei Minuten noch immer allein saßen, mit ein paar lächelnden Blicken, fragte er, ob ein Aufguss recht sei.

— Ja bitte!

Oh, eine Österreicherin!

— Was machst du denn in der Schweiz?

— Och, sieben Wochen Unsinn am Flughafen für eine Firma für Zigarettenwerbung. Und du?

— Ich bin Theologe, ohne zu praktizieren.

— Wie ist das zu verstehen?

— Ich mache mir Gedanken. Und verdiene mein Geld gelegentlich als Spanischlehrer.

— Ich mache diesen Job auch nur, weil ich etwas Geld verdienen will. Aber eigentlich bin ich Modeschöpferin.

Er verließ die Sauna vor ihr, sprang in den See, schwamm ein paar Züge im Vier-Grad-Wasser und setzte sich auf eine Bank. Als sie kurz darauf auch ins Wasser sprang, dachte er: Unsinn, weiter zu flirten und peinlich zu werden. Es war sympathisch, das reicht. Nun setzte sie sich aber neben ihn in die Kälte der Zürcher Winternacht und nahm das Gespräch wieder auf. Was er ihr in Zürich empfehlen könne, sie sei erst zwei Wochen und zum ersten Mal in dieser Stadt und wohne beim Flughafen, wo nichts los sei. Und schon gingen sie wieder zusammen in die Sauna und lagen dann auch nebeneinander auf den Liegestühlen, als ob sie zusammen hierhergekommen wären. Als sie sich zur selben Zeit zum Gehen in die Umkleidekabine wandte, fragte er sie, ob sie noch mit ihm irgendwo essen wolle.

— Essen ist auf jeden Fall gut.

Richtung Bürkliplatz schlendernd, eigentlich mit Ziel Stadelhofen, staunte er selbst ob seiner Direktheit:

— Ich kann auch bei mir zu Hause eine Pasta machen, ich wohne nahe bei Oerlikon, von da hast du es nicht mehr weit bis zum Flughafen, und guten Rotwein habe ich auch.

— Gegen Pasta und Rotwein bin ich machtlos.

Dies sagte sie so selbstverständlich und fast schelmisch lächelnd, dass es ihm beinahe unheimlich wurde. Tatsächlich trank sie in seiner Wohnung ziemlich schnell, die Rotweinflasche war bald leer. Und schon fand sie, etwas liegen tät jetzt gut.

— Tu dir keinen Zwang an, hier ist das Bett.

Er wohnte in einer Einzimmerwohnung; wo man aß, waren auch das Sofa und das Bett. Sie legte sich hin, und er setzte sich mit der neu geöffneten Weinflasche zu ihr. Um mit ihm anzustoßen, setzte sie sich ein wenig auf, sie schauten sich in die Augen, ihre Münder neigten sich einander zu. Zehn Tage waren seither vergangen, und erneut spürte er das Verlangen. Wenn sie ihn mit Aids angesteckt hatte, konnte sie ihn ja nun nicht mehr anstecken. Und er würde nichts Gefährliches mehr zulassen. Überdies stellte er fest, dass die Lymphknoten wieder abgeschwollen waren, und auch die Wade fühlte sich schon fast normal an. Der Traum und die daraus wachsenden Gedanken noch keine Stunde alt, schrieb er ihr eine SMS, ob sie wieder einmal in die Sauna möchte. Schnell kam die Antwort: Am liebsten heute schon.

Sie entschuldigte sich sehr für das Zuspätkommen, er aber meinte, er genieße die Sauna auch allein. Diesmal begannen sie gleich nach dem ersten gemeinsamen Saunagang zu zittern; sie lagen auf den Liegestühlen beieinander und zitterten wie Espenlaub. Auch in der Sauna hörte das Zittern lange nicht auf, sie schmiegte sich in der Ecke an ihn wie ein Reh. Sie sprangen gemeinsam ins Wasser, und das gemeinsame Zittern nahm auf der kalten Bank heftig zu.

— So geht das nicht weiter, lass uns zu mir nach Hause gehen.

— Ja, noch einmal in die heiße Sauna, und dann schnell gehen.

Zu Hause öffneten sie erst nur eine Flasche Wein und setzten sich auf das Sofa, denn Hunger hatten sie noch nicht. Er aber hatte sich vor der Sauna frisch rasiert. Das steigerte so sehr seine orale Lust, weil die danach fast wundzarte Haut auch das zarte Geschlecht viel sensibler fühlen kann, dass sein Mund bald nach den ersten Küssen an ihr hinunterwanderte und schnell ihre Jeans erreichte. Diese öffnete er auch gleich, und Lisa kam ihm durch Anheben ihres Beckens entgegen. Fast hastig zog er ihre Jeans samt Slip bis zu den Knien, dann mit je einer Hand an den Röhrchenenden über die Füße, zog ihr auch die Socken aus, küsste flüchtig die nackten Füße und tauchte sein Gesicht in ihre Mitte. Es dauerte keine Minute, bis sie ihre Hände auf seinen Kopf legte:

— Das kannst du die ganze Nacht machen.

— Ich nehme dich beim Wort.

Anderntags hatte er etwas Schluckweh und am übernächsten Tag war es eine ausgewachsene Halsinfektion, mit kratzendem Husten. Er nahm eine Taschenlampe und leuchtete sich vor dem Spiegel in den Hals: alles weiß! Eine schleimige weiße Masse, der ganze Rachenraum, auch der hintere Teil der Zunge und die Backeninnenseite über den Weisheitszähnen. Papilloma-Viren! Ich habe mir Krebs beim Cunnilingus geholt, weil ich es so maßlos übertrieben habe! Ich habe doch vor Kurzem erst bei Google gelesen, häufiger Wechsel beim Oralverkehr erhöht die Gefahr auf Mund-, Zungen- und Rachenkrebs um ein Vielfaches, wie das Rauchen. Die Papilloma-Viren, die den Gebärmutterhalskrebs auslösen können, können sich beim Cunnilingus auch auf den Mundraum des Mannes übertragen. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass sich bei über siebzig Prozent der Männer mit Mund-, Zungen- oder Rachenkrebs Papilloma-Viren feststellen ließen. Jetzt habe ich nicht nur Aids, sondern auch noch Krebs, vielleicht gerade weil ich ein von Aids schon geschwächtes Immunsystem habe, wurde nun auch der Krebs ausgelöst. Oder wenn ich von Aids nochmals verschont worden bin, dann zumindest Krebs, oder doch sowohl Aids als auch Krebs, denn ich habe mein Immunsystem vielfach versucht und missbraucht. Oh Schuld, oh Wahn, oh wahnsinnige Schuld! Bei wie vielen habe ich mit dem selbstverständlichsten Recht auf das freie Gebet voll Meergeruchverzückung Gott gepriesen und dabei dem Teufel gedient, der die Lust verderben will. Aber es dreht sich alles immer wieder ins inhärente Gegenteil. Paulus hat das Fleisch verteufelt, weil er es so rein erkannt hatte. Er wollte den Leib als Tempel Gottes von der Verderbnis fernhalten, womit er ihn aus aller Banalität herausgehoben und zugleich erst recht zum Teufel gejagt hat. Aber das Gottlose ist das Zynische, welches das Heilige verlacht. Wem der Akt ein Gebet, der entspricht dem Tempel. Die Schuld ist seit der Scham das Erkennen, durch welches wir hindurchgehen bis zum Tod. Und erst, wenn wir vollkommen erkannt habend vollkommen erkannt sind, endet die Lust des Erkennens und brauchen wir auch keinen Sex mehr. Und auch ohne Sex bleibt die Schuld, den Grund des Existierens schuldig zu bleiben und nicht ganz zu erkennen und nicht völlig erkannt zu sein. So dachte er, sich zu befreien von der Verfolgung der Schuld durch Sex mit vielen und dem damit verbundenen Kurzschluss, dass die Schuld die leibliche Krankheit als Strafe nach sich ziehe.

Aber die reale Schuld kam ja erst, nicht nur die theologische und geschwätzige, nein, die juristische, tatsächliche Schuld des wissenden Verbrechens, die stand noch bevor. Denn die Rachenschleimhaut beruhigte sich über Nacht, und keine Papilloma-Viren hatten ihm Krebs gebracht und seine Anbetung hatte nicht die Schuld einer tödlichen Krankheit nach sich gezogen. Nun aber fuhr er für das Wochenende zu Liv, seiner Geliebten, in rückhaltloser Offenheit. Sie hatten das Credo, sich nicht zu schonen. Alle Gedanken und Taten auszusprechen. Wir muten einander alles zu; und diese Zumutung ist unser Übermut, dass gerade darin das Vertrauen und die Zuneigung und das Begehren umso unzerstörbarer werden. Das war auch einseitig. Die Dinge verschweigen und lügen können ist des Menschen echteste und eigenste Freiheit. Und nur wer sich schont, liebt sich. Liv und Damian aber empfanden es mit felsenfester Überzeugung umgekehrt. Sich schonen ist die Besiegelung der Lauheit, der schleichenden Vergiftung, der allgemeinen Hinterlist und also der Hölle zwischen den Menschen. Und dass sie sich nun schon fünf Jahre zunehmend begehrten, schien ihnen ihr Gesetz zu bestätigen. Ihr Credo der freien Liebe schien aufzugehen. Frei zueinander, weil frei voneinander. Beide ein ganz eigenes und voneinander unabhängiges und zugleich ein sich gegenseitig durch und durch durchdringendes Leben. So konnten sie eine Woche ohne Kontakt sein, nicht einmal eine SMS, ohne Kontrolle und ohne Neid dem anderen alles Schönste wünschend. Und dann wieder Tag und Nacht sich austauschen und alles erzählen. Im Zug fuhr er jeweils sieben Stunden zu ihr oder sie zu ihm. Ihr Aussehen erinnerte ihn stark an Ingeborg Bachmann, derselbe radikale Gesichtsausdruck, dasselbe Sphinxlachen. Nur schöner wohl und sinnlicher noch. Sie leitete seit Herbst 2010 das Goethe-Institut in Weimar. Dieses Wochenende hatte sie am Samstag ein Essen mit den neuen Mitarbeitern, zu dem auch er eingeladen war; und er dachte, es ihr danach zu sagen. Indes fuhr er schon am Freitag, war zwar erst um Mitternacht in Weimar, aber natürlich würden sie so umso eher ziemlich schnell ins Bett gehen. Wie Kinder, die dringend auf Toilette mussten, mochten sie nie lange warten. Nun aber sollte er ihr sagen, nicht nur, dass er zwei Nächte mit Lisa verbracht hatte, sondern auch, dass das Kondom abgerutscht war und er mit Aids infiziert sein könnte. Und da tat er das Wahnsinnige, genau jetzt, wo es wirklich unendlich wichtig gewesen wäre, konnte er es nicht sagen. Wenn er Nächte mit anderen verbrachte, fiel es ihm leicht; er fand es ja selbstverständlich, sowohl, es zu tun, als auch, es zu sagen. Aber jetzt rationalisierte er sein Schweigen damit, dass es für sie wichtig sei, völlig unbelastet zu dem Repräsentationsessen zu gehen. Auch sagte er sich, es war alles nur ein Wahn, wieso sollte er mit Aids angesteckt sein? Lisa ist doch eine gesunde Frau! Und selbst wenn ich, was sozusagen unmöglich ist, tatsächlich infiziert bin, ist es nochmals unendlich unwahrscheinlich, dass ich damit gleich Liv anstecke. Im Nu kippte er vom einen Extrem ins andere, von der hundertprozentigen Ansteckung in die hundertprozentige Nichtansteckung aus lustgesteuerten Gründen. Aber auch aus Angst vor der Schuld, welche die Schuld erst hervorruft. Er hätte ja auch mit Kondom mit ihr schlafen können. Aber wenn er schon schwieg, wollte er auch nicht Verdachte schüren, die wahr waren. Ein Kondom hätte sie ihn fragen lassen, warum er nicht ungeschützt mit ihr schlafe, da sie unmittelbar vor ihren Tagen garantiert nicht schwanger würde; und das hätte ihn verunsichert. Er fühlte nur umso mehr eine Anbetung für Liv, und auch sie sagte, sie glaube, sie könne sich heute nicht lange zurückhalten. Er war nun im Vertrauen, dass alles gut werde. Er wird es ihr nach diesem Essen erzählen und es wird unspektakulär werden. Doch da plagte es ihn so sehr, dass er sich mit Rotwein betrank und beinahe peinlich geworden wäre, wäre Liv nicht gerade noch rechtzeitig mit ihm aufgebrochen. Nun war mit erzählen wiederum nichts. Am Sonntagmorgen aber, mit dem zugleich erwachenden Kater, drängte die Beichte. Er fragte Liv beim Frühstück, ob sie gleich mit ihm einen Spaziergang mache. Erst im schützenden Wald begann er:

— Ich habe wieder einen One-Night-Stand hinter mir.

— Das finde ich langsam albern.

— Wir hatten doch die Abmachung, es uns einfach zu sagen, für unsere Freiheit.

— Nur kommt es mir allmählich nicht wie eine Freiheit vor, sondern wie eine infantile Eitelkeit.

— Vielleicht hast du recht, aber warum ist es dir jetzt plötzlich zu blöd?

— Du verlierst an Attraktivität. Ich verliere die Lust an dir, wenn ich denken muss, du bleibst ein billiger Don Juan und willst ewig deine narzisstischen und konsumistischen Bestätigungseskapaden wiederholen. Und es nervt mich auch, dass es schon wieder von deiner Seite aus geschieht. So falle ich in die Rolle der langweiligen Moraltante.

— Das versteh ich zu gut, und es ist wohl einfach Zeit, dass es dir auch wieder geschieht.

— Ich denke auch, es muss mal wieder sein.

— Ich empfinde jetzt unbedingt, dass ich es nicht mehr tun will, sondern nur noch du.

— Das sagst du doch jedes Mal!

— Ich sage das jedes Mal?

— Natürlich, merkst du das nicht einmal mehr? Und das macht dich unattraktiv. Du wirst unglaubwürdig.

Sein Selbstbewusstsein war nun schon ziemlich angeschlagen. Und er hatte ihr noch nicht einmal gesagt, dass ihm auch noch das Kondom abgerutscht war.

— Am liebsten möchte ich dir haargenau erzählen, wie es passiert ist, bis ins kleinste Detail, denn es war ziemlich befremdend, sie war so verzweifelt wild dabei.

— Ich will es gar nicht wissen! Ich möchte dich nicht auch darin noch als deine Beichtmutter erleichtern.

Nun schwieg er, und das Wichtigste war nicht gesagt. Lange stapften sie schweigend durch den Wald, doch kurz vor ihrer Wohnung, es war nicht auszumachen, ob er ihre oder sie seine nahm, gingen sie Hand in Hand.

Liv zog ihn sogleich ins Schlafzimmer und breitete wegen ihrer Tage ein Badetuch auf ihrem Bett aus.

— Ich widerspreche mir auch ganz schön, wenn ich dir zwar sage, dass es mich abturnt, aber ich jetzt solche Lust habe.

Am Montag aber fuhr er zurück nach Zürich, und es blieb ungesagt. Abends rief sie ihn an:

— Ich finde immer noch unsinnig, dass du mir auch noch im Detail erzählen wolltest, was ihr getan habt. Wie kannst du nur denken, das wäre ein Gewinn für mich? Oder ist dir ein Kondom abgerutscht?

Unfassbar, sie hatte es selbst ausgesprochen!

— Ja, genau das ist passiert, und ich habe nicht den Mut gehabt, es einfach zu sagen.

— Das ist nicht gut, das ist gar nicht gut, das weißt du, das muss ich jetzt erst mal verdauen!

Sie hängte auf. Und er war immer noch etwa eine Minute lang ziemlich gelassen. Jetzt macht sie ein bisschen eine Szene, ich habe doch kein Aids. Dann aber wurde ihm jäh das Ausmaß seiner Fahrlässigkeit bewusst. Was habe ich getan? Ich habe nicht nur mich selbst, sondern auch noch meine Geliebte vielleicht mit der grässlichen Krankheit angesteckt! Mechanisch begann er wieder zu googeln. Und da fand er nicht nur, dass die Ansteckungsgefahr in den ersten Wochen nach der Infizierung um ein Vielfaches erhöht ist, sondern auch das Risiko der Ansteckung während der Menstruation, sowohl für ihn als auch für sie! Das kann nicht wahr sein, das ist doch nur noch irr! Er klappte den Laptop zu und versank in ungeheure Scham. Er schrieb Liv eine SMS, dass er jetzt einsehe, welch riesige Schuld er auf sich geladen habe, er fühle maßlose Reue und er könne jetzt auch nicht mehr sprechen. Nicht mehr sprechen können, das schien ihm endgültig. Warten auf den Tag, an dem er den Aidstest machen konnte, dann erst wieder an ein Leben denken können. Weinen aber konnte er nicht. Er war wie tot, über Nacht und den ganzen nächsten Tag. Abends ging er in die Sauna, an den Ort der ersten Begegnung mit Lisa, hoffte, sie sei auch da, und endlos drehte es sich in ihm. Am Mittwoch schrieb er Liv eine Mail: Ich kann es selbst nicht fassen, es dreht sich in mir immer und immer wieder, wie konnte ich nur so blöd sein, so feige, so sicher in einer nie sicheren Sache? Ich weiß, dass ich arg betrunken am Steuer sitze, du aber kannst es nicht wissen und ich sage es dir nicht. Wenn so ein schrecklicher Unfall passiert, ist es fahrlässige Tötung. Ich sprach von Reue zu dir, aber das ist nichts gegen die Selbstverachtung des Wahnsinns, nicht einmal das Bewusstsein gehabt zu haben, welche Gefahr das ist. In alledem ist Abscheu. Ich bin tot und kann nicht sprechen. So deute ich jetzt auch den Todestraum von meiner Leiche am Strand. Ich wollte die Vergebung durch meinen Tod. Des Todes schuldig, durch den Tod Sühne hoffend. Du wirst zu Recht sagen, statt mit dir auszutragen, was ich dir antue, fliehe ich allein in die Schuld, um egoistisch dabei überhaupt nicht an dich zu denken. Statt mit dir zu reden, verschanze ich mich und war gestern auch wieder in der Sauna. Aber genau dies Wissen macht es noch fataler, weil ich mich selbst nicht mehr ertrage. Es ist zum Durchdrehen, weil ich das Rad des Geschehenen nicht zurückdrehen kann. Dir gegenüber schuldig zu sein an einer furchtbaren Krankheit. Schuldig zu sein aus Dummheit und Feigheit, das ist zum Nichtmehrlebenwollen, nicht aus Liebe, aus verzweifelter Hölle.

Eine Stunde später kam Livs Antwort: So ratlos war ich schon lange nicht mehr. Ich kann ungefähr verstehen, wie es dazu kam, dass du nichts gesagt hast. Aber was ich nach wie vor nicht begreifen kann, ist, was du dann geredet hast im Lauf des Sonntags. Mir kommen deine Liebesschwüre jetzt vor wie der Sermon eines Schlagersängers. Von der Liebe zu sprechen, heißt doch noch nicht zu lieben. Wie soll ich deinen Liebeserklärungen glauben, wenn ich befürchten muss, sie sind schlicht Übersprungshandlungen? Heute habe ich Sorge, es sei vielleicht immer eine Illusion geblieben, wir könnten eine große Liebe sein. Vielleicht haben wir uns beide dieser Illusion hingegeben. Du vielleicht, weil ich zufällig die beste Liebhaberin bin, die dir über den Weg gelaufen ist. Und ich, weil ich so hartnäckig war. Und weil ich es mir so sehr wünschte. Ich wüsste zu gern, was dir durch den Kopf ging, als du am Dienstag nochmals in die Sauna bist. Wenn du mir das nur irgendwie erklären könntest; ich würde das tatsächlich gern verstehen. Wieso dir der Gedanke an mich offensichtlich gelegentlich so fern ist, dass du Stunden um Stunden verbringen und vermutlich genießen kannst, von denen du weißt, dass sie dich von mir entfernen. Hast du sie wieder getroffen? Kam sie wieder zu dir? Ich glaube zweifellos, dass dir nicht daran liegt, mir Schmerzen zu bereiten, aber es gibt da offensichtlich einen Verdrängungsmechanismus, den man in Frauenzeitschriften mit der üblichen Schwanzgesteuertheit erklären würde, aber das ist mir zu billig. Ich überlege, ob es eher mit dem Kinderthema zusammenhängt, dass du ausgerechnet jetzt (nachdem ich vor drei Wochen wieder einmal meinen Wunsch danach angekündigt hatte) wieder so weit weg gerückt bist und dich mit einer anderen auslebst. Ich würde das wirklich gern verstehen. Hilf mir dabei! Hilf mir! Sonst komme ich nicht weiter. Ich sitze hier und trinke Bier. Und du bist in deiner Büßerwüste oder schläfst schon!

Zwei Tage später, zwei Tage bevor er den Test machen konnte, für welchen mindestens drei Wochen (und nach seinem Empfinden ein zusätzlicher Sicherheitstag) seit dem ungeschützten Kontakt vergangen sein mussten, schickte Liv ihm eine Mail, in der sie schrieb, es möchte endlich Montag werden und das Testergebnis kommen, damit dieser Spuk vorbei sei. Und hier ein YouTube-Video des Tinderstick-Songs Another Night In. Dieses Video zeigt zum Song Filmausschnitte aus La fille sur le pont mit Daniel Auteuil und Vanessa Paradis, in dem er sie in seinem Messerwerferberuf jeden Tag eigenhändig der Todesgefahr aussetzt. Als Damian dieses YouTube-Filmchen mit dem Tinderstick-Song anklickte, vermischte sich Reue und Schuld zu solch unauflösbarem Knoten, dass sich ihm sehr schnell der Hals schnürte, die Tränen liefen, mindestens viermal ließ er das fünfminütige Video laufen, das Bild sah er vor Tränen längst nur noch verschwommen, das Mitsingen war ein Wimmern, er war seit dem Tod seines Vaters nie mehr so aufgelöst in Wunde und über und über strömender Liebe. Und das Wunder des erbärmlichen Menschen ist, dass diese Lächerlichkeit beseelt und wahrer wird als alles. Dann rief er Liv an, die tatsächlich zu Hause war. Stockend, mit tränenerstickter Stimme vermochte er hervorzustammeln:

— Ich liebe dich und bin unendlich dankbar, dass du mich nicht einfach verstößt.

— Ich dich auch und ich will, dass dieser Aidsspuk nun ganz schnell vorbeigeht.

— Ja, lass es Montag werden.

Schnell legten sie wieder auf. Nun saß er, das Telefon in der Hand, und konnte den Dankesfluss doppelt strömen lassen. Ist dies das Wunder der immer falsch verstandenen Schuld, dass nur dank der Schuld die Vergeblichkeit des Lebens zur grundlosen Vergebung wird? Und dass die Gabe der Vergebung zum einzigen möglichen Grund der unmöglichen Liebe wird? Für Vergebung gibt es keinen Grund. Damit Liebe ihre grundlose Vergebung schenken kann, wird die Schuld zu ihrer Bedingung. Müssen wir nicht aneinander schuldig werden, um Liebe zu lernen? Und gehören nicht Ergriffenheit und Erbärmlichkeit genauso zusammen? Wären wir nicht erbärmlich, würde uns alles kaltlassen. So wird seit Langem festgestellt, dass der Mensch sich irgendwelche Himmel und Paradiese erfindet, weil er die Realität nicht erträgt. Aber es dreht sich genauso wieder um: Wir sind in das Elend und die Kälte und die Grausamkeit gezwungen, damit Liebe sich als Liebe erfahren kann. Auch das Spiel wird ja seit Freud als Verdrängung der Realität verstanden. Und wiederum kommt also umgekehrt durch die erbarmungslose Realität das Spiel ins Spiel. Und so, wie die Realität dem Liebesspiel der Sprache ihren göttlichen Raum ermöglicht und das Elend das fehlende Wunderbare als Verlangen nach dem Wunderbaren erfahren lässt, so ist das Verstehen als Schuld und Vergebung ein absolut anderes denn als Schuld und Strafe oder Schuld und Rache. Genau das selbstverständliche Recht auf Gerechtigkeit wird mit der vergeblichen Vergebung aus den Angeln der Menschen in die Dimension der Engel gehoben. Liv hatte ihm schon vergeben, unabhängig vom noch anhängigen Resultat des Testes. Und Liv würde ihm auch vergeben, wenn er und gar sie selbst nun mit HIV infiziert wären. Dafür wollte er sie umso wahnsinniger lieben, umso rückhaltloser anbeten. Dieses so unerträgliche Vergib uns unsere Schuld, welches allein schon zur Abscheu vor allem Religiösen führt, genau dieses als das Vollkommenste: Vergeblich sein und vergeben. Schuldig sein und sich hingeben.

Am 8. April, dem Sonntag, waren es drei Wochen und ein Tag seit der ungeschützten Nacht mit Lisa, er konnte den Aidstest machen. Da kam schon am Morgen eine SMS: Was machst du die tage? Du fehlst.

Ich mache heute einen aidstest.

Ich wollte auch einen aidstest machen, wo machst du das an einem sonntag?

In der permanence im hauptbahnhof. Willst du mit mir zusammen hin?

Nein, ich gehe besser allein.

Kommst du morgen zum abendessen und wir zeigen uns den test?

Er erwog, dass sie den Test gar nicht machen werde, zumal es ja auch das Argument gibt, einer von beiden genüge. Das war ihm aber unwichtig. Er wollte es unbedingt genau wissen. In der Permanence kostete es fünfzig Franken. Man zahlte bar, und der Vorteil war, man musste gar nicht in die normale, manchmal stundenlange Warteschlaufe, sondern kam ziemlich sofort in den Genuss der Nadel.

— Morgen Nachmittag können Sie wiederkommen.

Damian ging schon um zwei und sah im Tram zum Bahnhof alle Menschen voller Wärme an. Sie wissen nicht, was auf mich wartet. Ich fahre vielleicht zum letzten Mal als scheinbar gesunder Mann im Tram. Er drückte die Klinke zur Permanence, wodurch sich die Tür von selbst öffnete wie in tausend und einer Nacht zu viel. Ein Mann wurde am Tresen gerade abgefertigt und zum Warten aufgefordert. Nun sah die hinter dem Tresen arbeitende Ärztin ihm auch schon ins Gesicht.

— Guten Tag, ich darf einen Aidstest abholen.

— Ihr Name bitte?

Sie ging in den hinteren Teil des Raumes und öffnete eine Schublade, zog ein Blatt heraus, statt aber nun zu ihm zu kommen, sprach sie mit einem sich nähernden Arzt. Das ist nicht üblich. Sie besprechen sich, wie sie es mir sagen, ich war doch schon vor zwei Jahren zum Test hier, damals kam sie direkt auf mich zu und sagte: »Es ist gut.« Und jetzt? Immer noch spricht sie mit dem Arzt, das Blatt in der Hand. Da kam sie auf ihn zu, schaute nochmals flüchtig auf das Blatt:

— Es ist in Ordnung.

Oh Gott! Kann solche Gnade endlich auch meiner Ignoranz fruchtbar werden, kann dies der blinden Flüchtigkeit meines Lebens endlich die Augen öffnen? Stumm werden vor Glück und nie wieder versinken in Stumpfheit! Liv will ein Kind, ist das nicht besser als sich mit Aids anstecken? Und ist es nicht auch dem Leben angemessener, sich gänzlich ungeschützt loszulassen? Da wir alle schutzlos sind, vom Säugling bis zum Greis, schutzlos dem jederzeit drohenden Tod ausgeliefert, warum nicht schutzlos Kinder zeugen und dennoch sich und die Kinder nicht auf Sicherheit hin einengen? Die Liebe atmen gegen die Lebensabsicherung? Aber er dachte es nur; es blieb gedankenlos. Er schrieb Liv eine SMS. Im Nu kam die Antwort: War mir schon ganz sicher, dass alles gut wird, bis donnerstag!

Lisa klingelte um halb acht.

— Hast du den Test gemacht?