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Da ist er, der goldene Gral! Aufgeregt traben die fünf Rasseschafe der Eppingham Farm los. Sie müssen ihn an sich nehmen. Koste es, was es wolle! Nur so können sie die Schafheit vor dem drohenden Untergang bewahren. Was sie nicht wissen: Bei dem goldenen Gral handelt es sich um den Pokal einer Sportveranstaltung. Jede Menge Familien sind in Disziplinen wie Dreirad-Fahren, Wettrutschen und Hüpfburgen-Springen angetreten, um den Pokal zu gewinnen. Als die Sportler und die Schafgäääng aufeinandertreffen, versinkt die Veranstaltung im Chaos …

»Die coolste Gang seit Schafsgedenken.« Stiftung Lesen

Autorenvita

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© privat

Als Christopher Russells erstes Hörspiel im Jahr 1975 ausgestrahlt wurde, war er noch als Briefträger tätig. Seine Arbeit im öffentlichen Dienst hat er aber bald zugunsten einer Schichtdienst-Stelle aufgegeben, um mehr Zeit für das Schreiben zu haben. Seit 1980 ist er Vollzeit-Fernseh- und Radio-Drehbuchautor, und seit Kurzem auch Kinderbuchautor. Seine Frau Christine hat schon immer eng mit ihrem Mann zusammengearbeitet, als Storylinerin und Scriptbearbeiterin, sie selbst hat ebenfalls TV-Erfahrungen.

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Urlaub

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Es war ein heißer Sommer. Die Weide der Eppingham-Farm flimmerte in der Hitze. Die fünf seltenen Rasseschafe, die dort lebten, dösten im Schatten und hingen ihren Gedanken nach.

Jasmine, das zierliche schwarz-weiße Jacobschaf, grübelte, ob ihr wohl ohne Fell weniger heiß wäre. Wenn sie geschoren wäre, könnte sie sich vielleicht eine Tätowierung machen lassen. Klein und todschick müsste sie sein; zum Beispiel ein Bild von ihr selbst auf der linken Schulter. Oder vielleicht auf der rechten. Oder auf beiden.

Oxo, der massige Oxford-Schafbock, träumte. In seinem Traum wurde eine ganze Anhängerladung cremeweißen Blumenkohls auf die Weide gebracht. Nur für ihn allein. Das war der einzige Traum, den er je hatte, aber das war in Ordnung für Oxo.

Sally, das mütterliche Southdown-Schaf, tat stets gern etwas Sinnvolles, während sie herumsaß. Und so dachte sie über die Vergangenheit und die Zukunft der Schafheit nach, was bedeutete, dass sie sich die Ballade vom Vlies ins Gedächtnis rief und die einzelnen Strophen aufsagte. In den altehrwürdigen Versen stand alles, was ein Schaf wissen musste. Und Sally sah es als ihre Pflicht an, dieses Wissen weiterzugeben. Insbesondere an die jüngere Generation, an Will beispielsweise, der dicht neben ihr lag.

Will war ein walisisches Balwen-Lamm, das jüngste und kleinste der fünf seltenen Rasseschafe. Er hatte keine Mutter mehr und war von Todd und Ida, den beiden Menschen, die auf der Eppingham-Farm lebten, in der Küche großgezogen worden. Diese menschliche Erziehung hatte Will einige Flausen in den Kopf gesetzt – jedenfalls Sallys Meinung nach. Obgleich sie zugeben musste, dass es sich gelegentlich als nützlich erwiesen hatte, dass Will ein bisschen lesen konnte.

Zu ihrer anderen Seite saß Linx, der Lincoln-Langwollschafbock, wippte mit dem Kopf und murmelte beim Wiederkäuen vor sich hin. Sally störte sich nicht an dem Gemurmel. Sie wusste, dass Linx hinter dem Vorhang aus Locken, der ihm über die Augen fiel, einen Rap komponierte, und seine Raps hatten die fünf Schafe auf vielen Abenteuern als »Marschlieder« begleitet – auf ihren Abenteuern als Kriegerschafe.

Sally bedauerte es kein bisschen, dass sie in letzter Zeit keine Abenteuer bestreiten mussten. Sie fand es, ehrlich gesagt, ziemlich ermüdend, kreuz und quer durch die Lande zu hetzen. Doch während sie sich noch verschämt der Hoffnung hingab, für immer einfach so weiterdösen zu dürfen, wurde die friedliche Ruhe auf der Wiese jäh gestört.

»Hü-aaaa!«

Die Schafe fuhren erschrocken herum.

Todd und Ida rasten auf Dreirädern durch das Tor zur Weide. Die altmodischen Fahrzeuge mit drei Rädern holperten und schlingerten über das Gras. Hinter den Sitzen flatterte jeweils ein kleiner, verblichener Wimpel mit der Aufschrift: WIR LIEBEN EPPINGHAMS SELTENE RASSESCHAFE.

»Hü-aaa!«, brüllte Todd abermals. »Schneller, Oma! Gib dich nicht mit Silber zufrieden!«

Die Schafe waren aufgesprungen.

»Was machen die da?«, erkundigte sich Oxo.

»Ein Wettrennen«, antwortete Will.

Oxo schaute sich suchend um. »Wo ist der Blumenkohl?«

»Blumenkohl?«

»Wenn wir ein Wettrennen machen, dann weil es Blumenkohl gibt«, erklärte Oxo. »Oder Wirsing. Oder Rüben. Wer zuerst kommt, kriegt die größten!«

»Bei Menschen geht es nicht um Blumenkohl«, entgegnete Will. »Es geht um Ruhm.«

»Ruhm?«, fragte Oxo. »Nie davon gehört. Ist das auch eine Art Blumenkohl? Oder größer?«

»Das ist nichts zum Essen«, sagte Will.

»Warum veranstalten sie dann ein Wettrennen?«

Will tat sich schwer mit der Antwort, weil er es auch nicht richtig verstand. »Ruhm ist kein Ding«, antwortete er dann. »Das ist eine Idee. Die Idee, der Beste zu sein.«

Oxo grunzte. »Da hat man nicht viel davon, der Beste zu sein, wenn man immer noch hungrig ist.« Er wandte sich ab und rupfte ein Büschel trockenes Gras.

»Hü-aaa!«, brüllte jetzt Ida. Sie war sogar noch älter als ihr Dreirad, aber sie konnte sehr schnell in die Pedale treten. Als sie die Hecke erreichte, wendete sie auf zwei Rädern und raste zurück. »Vorwärts, Todd! Du fährst wohl rückwärts!«

Todd machte es nichts aus, wenn seine Oma gewann. Er grinste, als sie knapp vor ihm am Gatter der Weide eintraf, dann schaute er auf seine Uhr. »Wow! Siebenunddreißig Sekunden, Oma. Das war drei Sekunden schneller als gestern.«

Sie schlugen die Hände zu einem High Five gegeneinander.

»Denen werden wir es zeigen bei den Spielen, was?«, sagte Ida. »Die werden denken, dass wir einen Motor haben, so schnell, wie wir sind.«

Das Geräusch eines Lieferwagens drang zu ihnen und Ida blickte mit zusammengekniffenen Augen in Richtung des Wegs, der zum Hof führte. »Oh, schau! Da kommt Tony!«

Ein grün-weißer Lieferwagen mit einer geschmackvollen Borte aus braunem Schlamm näherte sich. Die Seiten des Wagens zierten ein Bild von Hühnern und Gänsen sowie der Schriftzug: STADTFARM.

Der Lieferwagen kam abrupt zum Stehen und ein junger Mann sprang heraus. Sein Name war Tony Maxwell. Tony hatte früher auch in dem Örtchen Eppingham gewohnt, aber jetzt kümmerte er sich um eine Farm in London mit sehr vielen Tieren.

Er eilte mit schnellen Schritten zur Weide, umarmte Todd und Ida herzlich und schaute dann zu den fünf Schafen hinüber.

»Sie sind also noch da«, stellte er fest.

»Unsere Schafe? Wo sollten sie denn sonst sein?«, fragte Ida.

Die Schafe starrten ihrerseits Tony an.

Er zuckte mit den Schultern. »Wer weiß.«

»Na, jetzt, da du hier bist, reisen sie ja nach London«, sagte Ida. »Eine Tasse Tee?«

»Ähm, ehrlich gesagt, sollte ich direkt zurückfahren«, antwortete Tony.

Aber Ida hatte sich schon bei ihm untergehakt und marschierte mit ihm zum Haus.

Todd bereitete den Tee zu, während seine Oma einen frisch gebackenen Kuchen anschnitt. Tony rutschte unruhig auf dem Stuhl hin und her und warf einen Blick auf seine Uhr.

»Der ist mit Datteln und Chili und einem Hauch Rüben«, erklärte Ida und platzierte mit Schwung ein üppiges Stück auf seinem Teller.

»Oh«, sagte Tony. »Lecker. Vielen Dank.«

»Nein, wir danken dir, mein lieber Tony. Dafür, dass du uns alle abholen kommst.«

Tony zuckte mit den Schultern. »Euer alter Lieferwagen hat also den Geist aufgegeben?«

»Voll und ganz«, antwortete Ida. »Er hat die Räder verloren. Also, eigentlich nur zwei Räder. Aber aus irgendeinem Grund fand der Mann in der Werkstatt, der Wagen sei nicht mehr verkehrstüchtig.«

»Ach«, sagte Tony.

»Wie geht es Nisha?«, erkundigte sich Ida.

Tony wurde rot. Nisha war das tollste Mädchen auf der ganzen Welt und irgendwann würde er allen Mut zusammennehmen und sie bitten, ihn zu heiraten. Irgendwann.

»Oh, gut, sehr gut«, antwortete er.

»Arbeitet sie immer noch für Öko-TV?«

Tonys Gesicht wurde noch röter. Er hatte sich so hastig über den Kuchen hergemacht, dass er eine ganze Chilischote übersehen und hineingebissen hatte. So nickte er nur heftig.

»Hm, hm …«

»Großartig!« Ida klatschte in die Hände. »Wenn wir das Dreirad-Rennen gewinnen, kann sie ein Interview mit uns führen.«

»Hmmmm … Aaaah!« Tony riss den Mund auf und sog Luft ein wie ein Ertrinkender.

»Hast du zu viel Rübe erwischt?«, erkundigte sich Ida. »Trink einen Schluck Tee.«

Tony schlürfte dankbar seine Tasse leer und fühlte sich endlich wieder in der Lage zu sprechen. »Und, seid ihr startklar?«

»Ja«, sagte Todd.

»Nein«, widersprach seine Oma mit Nachdruck und warf ihm einen strengen Blick zu. »Ich fürchte, wir können erst am Freitag nach London kommen.«

Tony sprang auf und machte ein entgeistertes Gesicht. »Freitag?«

»Ich hab Prüfungen«, murmelte Todd. »Die blöde Schule hat die Termine geändert und Oma sagt, ich muss deswegen noch hierbleiben.« Normalerweise schmollte Todd nie, aber jetzt schmollte er.

»Ja, aber, warum habt ihr mich nicht angerufen?«, rief Tony aus.

»Wir wollten deine Pläne nicht durcheinanderbringen«, erklärte Ida. »Wir kommen am Freitag mit den Dreirädern nach.«

»Was? Ihr wollt bis nach London damit fahren?«

»Das ist nicht das erste Mal. Und es ist ein gutes Training, richtig, Todd? … Todd, hör auf zu schmollen.«

»Ja, Oma.«

»Aber dann verpasst ihr die Eröffnungsfeier«, warf Tony ein.

»Die Schule geht vor«, entgegnete Ida mit lehrerhaftem Tonfall.

Tony schaute plötzlich misstrauisch drein. »Und warum sollte ich herkommen?«

»Ach, du kannst die Schafe heute, wie geplant, mitnehmen«, erwiderte Ida munter.

»Ohne euch?«

»Keine Sorge, das macht ihnen nichts aus«, sagte Ida lachend. »Es wäre sowieso ziemlich eng geworden, wenn wir auch noch die Dreiräder in den Laderaum hätten quetschen müssen. Somit hat sich alles bestens gelöst. Nicht wahr, Todd? … Todd!«

»Ja, Oma.«

Tony bekam weiche Knie. Die Aussicht, ganze drei Tage für die Schafe, für diese Schafe, verantwortlich zu sein, erfüllte ihn mit Panik. Er hatte im Moment auch so schon genug um die Ohren. Tony blickte auf die Uhr und geriet in noch größere Panik.

»Na schön«, sagte er. »Na schön. Dann nichts wie los, hopp-hopp!« Und er stürmte aus der Küche.

Todd und Ida eilten ihm nach.

Die fünf seltenen Rasseschafe beobachteten interessiert vom Gatter aus das Geschehen. Sie sahen, wie Todd die hinteren Türen des Lieferwagens öffnete und die Rampe herabließ.

»Ja, hallo!«, sagte Oxo. »Was ist denn da los?«

Er sollte es gleich herausfinden. Todd kam zur Weide und öffnete das Gatter.

»Raus mit euch!«, rief er. »Ab in den Urlaub! Ihr fahrt nach London.«

Die Schafe hegten keine sonderliche Vorliebe für Transporter. Sie hatten die eine oder andere schlechte Erfahrung damit gemacht. Aber wenn Todd sie zum Einsteigen aufforderte, ging das in diesem Fall sicher in Ordnung. Und Jasmine gefiel das Wort Urlaub. Also kraxelten sie alle gehorsam auf die Ladefläche.

»Wir sehen uns in London!«, rief Todd ihnen noch zu, bevor er die Türen schloss. »Und benehmt euch, damit Tony keinen Ärger hat.«

Todd und Ida winkten dem Lieferwagen nach, der zügig den unbefestigten Weg entlangrumpelte, auf die Hauptstraße abbog und davonbrauste.

»Vielleicht muss er rechtzeitig zurück sein, um die Tiere zu füttern«, überlegte Todd.

»Entweder das oder er steckt wieder in Schwierigkeiten mit Außerirdischen«, antwortete Ida.

Der Fluch des Goldenen Grals

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Tony steckte nicht in Schwierigkeiten mit Außerirdischen.

Es hatte eine Zeit gegeben, da war er besessen von Außerirdischen gewesen, das stimmte. Damals, als er glaubte, ein unbekanntes Flugobjekt gesehen zu haben. Aber mittlerweile war ihm das ziemlich peinlich und er versuchte, nicht mehr daran zu denken. Jetzt hatte er eine neue Leidenschaft: Geschichte. Die Geschichte des Uferpalasts.

Den Uferpalast hatte man vor fünfhundert Jahren direkt an der Themse errichtet, doch Teile des Baus waren noch sehr viel älter. Das Schloss selbst war eine Ruine. Ein Dach gab es schon lange nicht mehr und lediglich wenige kleine Mauerreste standen noch. Dort, wo sich einst die Küche und der Speisesaal befunden hatten, lagen jetzt Koppeln und Pferche für die Tiere der Farm. Einige der ehemaligen Nebengebäude des Palasts hatten jedoch die Zeiten überdauert: Die einstige Molkerei und das Brauhaus waren mehr oder weniger erhalten, wenn auch völlig von Efeu und Brombeergestrüpp überwuchert. Der einzige nicht baufällige Teil war die Mauer, die das Anwesen von der Themse abgrenzte. Der Uferpalast mochte eine Ruine sein, aber eine Ruine mit einem Geheimnis, davon war Tony Maxwell überzeugt. Mit einem großen Geheimnis. Und er hatte es eilig, dem weiter auf den Grund zu gehen.

Tony drückte das Gaspedal bis zum Boden durch. Er hätte es besser wissen sollen: Sein Lieferwagen fuhr nicht gern schnell. Er machte komische Geräusche, ratterte und jaulte. Plötzlich ertönte ein knappes TWING, der Wagen rollte noch in eine Haltebucht und blieb stehen.

»Aaaarrggh!« Tony stieß ein Geräusch aus, wie ein Vogel Strauß, den man gerade erdrosselte.

Die Schafe schauten einander an.

»Was ist passiert, Liebes?«, fragte Sally.

»Ich glaube, der Lieferwagen ist kaputt«, erklärte Will.

Der gesamte Wagen schaukelte, als Tony aus der Fahrerkabine ausstieg und die Tür zuknallte. Die Schafe konnten beobachten, wie er die Kühlerhaube öffnete, um den Motor zu inspizieren.

»Neeeeein!«, heulte er auf. »Nicht die Motorgetriebeschwungradfeder!«

»Worum geht’s?«, erkundigte sich Oxo.

»Keine Ahnung«, antwortete Will. »Aber ich glaube, der Lieferwagen funktioniert nicht ohne das Ding.«

Tony redete am Telefon eindringlich auf jemanden von der Pannenhilfe ein. Kurz verschwand er aus ihrem Blickfeld, dann schwangen die Türen zum Laderaum auf und er wandte sich direkt an die Schafe.

»Eine Stunde! Ist es denn zu fassen! Der Abschleppwagen kommt erst in einer Stunde!«

Die Schafe bemühten sich, eine enttäuschte Miene zu machen.

»Rutscht rüber!«, befahl Tony. Er kletterte zu den Schafen in den Laderaum und kauerte sich auf einen Radkasten. Dann seufzte er mehrmals ungeduldig und schlug mit der geballten Faust gegen die andere Handfläche.

Schließlich fing er an zu erzählen. Nur so konnte er Dampf ablassen.

»Ich stehe so dicht davor. So dicht!« Und er deutete mit einer winzigen Lücke zwischen Zeigefinger und Daumen an, wie dicht.

Die Schafe blinzelten.

»Habt ihr je die Geschichte von König Artus und den Rittern der Tafelrunde gehört?«

Das konnten die Schafe wirklich nicht behaupten.

»Die Sage ist uralt. Vor unendlich langer Zeit, noch vor den Normannen und Angelsachsen, pflegten die Ritter zu Missionen aufzubrechen.«

Missionen? Die Schafe erstarrten. Mit Missionen kannten sie sich aus. Sie lauschten aufmerksam.

»Also, einer der Ritter, Sir Bonifaz, brach auf, um den Goldenen Gral von Theodopolus zu suchen, irgendwo drüben auf der anderen Seite des Ärmelkanals in Europa, wo genau spielt keine Rolle. Entscheidend ist, dass er den Gral gefunden hat! Einen mit Juwelen besetzten Kelch. Aber als er nach England zurückkehrte, wurde er von einem Ungeheuer, halb Drache, halb Wolf, getötet und der Goldene Gral verschwand. Die Legende, die Legende besagt, sein Sohn habe den Gral in Sicherheit gebracht. Sir Bonifaz war edel und gut, wisst ihr. Und sein Sohn wollte verhindern, dass der Gral in die Hände von Menschen fiel, die das nicht waren. Und davon gab es jede Menge in der alten Zeit. Ein bisschen wie heute, um ehrlich zu sein. Und wo hat er den Gral versteckt?« Tony machte eine dramatische Pause. »Im Uferpalast!«

Die Schafe blinzelten.

»Im Uferpalast!«, wiederholte Tony. »Dort, wo ich mit euch hinfahre. Wo sich die Stadtfarm befindet.«

»Ich wünschte, er würde aufhören zu brabbeln und uns was zu essen bringen«, murrte Oxo.

»Aber jetzt wird die Sache kompliziert«, fuhr Tony fort und beugte sich mit ernster Miene vor.

Sally setzte sich und die übrigen Schafe folgten ihrem Beispiel.

»Hunderte von Jahren stand der Gral in der kleinen Familienkapelle des Palasts«, berichtete Tony. »Er war quasi in Vergessenheit geraten. Und dann, vor ungefähr neunzig Jahren, beschloss ein Nachfahre von Sir Bonifaz, ein gewisser Bartholomäus, dass es an der Zeit sei, etwas damit zu tun. Er wollte den Gral an ein Museum verkaufen, damit jedermann ihn bewundern konnte, und mit dem Erlös den Armen helfen. Bartholomäus war ein guter Mann. So wie sein Vorfahre.«

»Weckt mich, wenn er fertig ist oder uns eine Portion Kohl bringt«, murmelte Oxo und senkte den Kopf.

»Bartholomäus’ Vorhaben sorgte für Schlagzeilen in allen Zeitungen«, erzählte Tony weiter. »Und da nahm die Tragödie ihren Lauf. An dem Tag, als der Gral verkauft werden sollte, wurde er von einem jungen Palastgärtner gestohlen. Sein Name war Arthur Upton.« Tony hielt inne und beugte sich noch weiter vor. »Doch er sollte seine Tat schon bald bereuen. In sein Haus schlug der Blitz ein, sein Pferd rannte davon, sein Hund biss ihn. Er litt an Albträumen, in der Nacht und sogar am Tag. Schließlich erkrankte er an einem rätselhaften Fieber und starb.« Tony senkte die Stimme. »Und seine letzten Worte lauteten: ›Auf dem Gral liegt ein Fluch! Ein Fluch!‹«

Fünf leise Schnarchlaute verdarben die dramatische Wirkung von Tonys Erzählung.

»Wie dem auch sei«, fuhr Tony fort, ohne auf das Schnarchen und Grunzen zu achten. »Ich bin an der Sache dran. Genau genommen stehe ich kurz vor dem Durchbruch. Angst vor einem albernen Fluch? Ich nicht! An so was glaube ich nicht. Aber Arthur schon.« Tony hielt erneut inne und seine Stimme wurde jetzt zu einem Flüstern. »Ich habe Hinweise, dass Arthur, nachdem er den Gral gestohlen hatte, zu große Angst bekam, um ihn zu behalten. Was also hat er gemacht? Er schlich sich damit zurück zum Palast. Und dort hat er ihn irgendwo versteckt, in der Hoffnung, so dem Fluch ein Ende zu bereiten. Das war allerdings nicht der Fall. Arthur starb, ohne irgendjemandem zu verraten, wo der Gral versteckt war.«

Tony warf einen Blick auf die Uhr und seine Nervosität kehrte zurück. »Und nun sitze ich hier, achtzig Kilometer vom Palast entfernt, und die Uhr tickt.« Er betrachtete die schnarchenden Schafe. »Was jetzt kommt, solltet ihr euch anhören. Es geht um Tiere.«

Will ließ ein leises schnaufendes »Mäh« ertönen und drehte sich im Schlaf um. Die anderen schnarchten und schnaubten unbeeindruckt weiter.

»Nachdem Arthur den Gral gestohlen hatte, war Bartholomäus am Boden zerstört. Er wollte nicht länger in dem Palast leben. Er ging mit seiner Tochter Mathilde nach Amerika und seitdem hat man nie mehr von ihnen gehört. Sie müssen mittlerweile beide gestorben sein. Aber bevor er wegzog, überließ Bartholomäus das gesamte Anwesen mit den noch bestehenden Schlossgebäuden der örtlichen Stadtverwaltung. Es gab große Pläne, den Palast wieder aufzubauen, ihn zu einem Museum zu machen, eine Schule zu gründen … blablabla … Natürlich ist nichts davon passiert. Und das Dach des Schlosses brach ein, sodass es hineinregnete und die meisten Mauern verfielen. Vor zehn Jahren schließlich beschloss der Stadtrat, das Grundstück an Die Bürobau-Profis zu verkaufen. Das Land verkaufen, das man ihnen vor neunzig Jahren geschenkt hat! Als hätten wir nicht schon genug Büroklötze. Jedenfalls hieß es, dass das Gelände als Stadtfarm genutzt werden dürfe, bis alle rechtlichen Dinge geregelt sind. Zehn Jahre haben sie dafür gebraucht. Natürlich haben die Leute die Farm im Laufe der Zeit lieb gewonnen. Sie hängen daran. Aber jetzt haben die Erbsenzähler von Anwälten alle Details geregelt und die Kaufverträge sind fertig und das war’s. Wir können nichts tun. Ende der Woche rücken die Bagger an. Wenn ich bis dahin den Goldenen Gral nicht finde, wird er unter tausend Tonnen Beton begraben.« Tony betrachtete die schlafenden Schafe und kam sich mit einem Mal sehr albern vor. Dann zuckte er mit den Schultern und lächelte. »Danke fürs Zuhören, Leute.«

Als Tony aus dem Wagen kletterte, klingelte sein Handy. Er wandte sich ab und nahm das Gespräch an.

»Aaaarrrggh …!«

Der erneute Schrei des erdrosselten Vogel Strauß schreckte die Schafe aus dem Schlaf.

»Der Abschleppwagen hat eine Panne«, rief Tony. »Er kommt nicht vor morgen früh!«

»Was sagt er?«, fragte Oxo.

»Ich glaube, wir sitzen hier bis morgen fest«, erklärte Will.

»Na schön«, sagte Oxo entschlossen. »Ich besorge mir jetzt ein Abendessen.«

Er sprang von der Ladefläche und steuerte den Grünstreifen am Straßenrand an. Seine Freunde folgten.

Tony geriet in Panik und fuchtelte mit den Armen. »Lauft nicht weg, lauft nicht weg! Bitte, bitte, bitte …«

Die Schafe schenkten ihm keine Beachtung. Sie senkten die Köpfe und rupften Gras.

Sally begann kauend, vor sich hin zu murmeln.

»Gral … Gral … Saal … Wahl … Wal … Tal …«

»Alles in Ordnung mit dir, Sally?«, fragte Jasmine.

»Mal, Aal, Zahl …«, fuhr Sally fort.

»Klingt so, als würde sie nach einem Reim suchen«, mutmaßte Linx. »Dafür bin ich zuständig.«

Aber Sally war in ihrer eigenen Welt. »Pfahl, fahl, kahl …«

»Jetzt ist sie endgültig von der Rolle«, stellte Oxo fest.

»Ich denke, wir sollten sie zurück in den Transporter bringen«, schlug Will vor.

Tony hatte schon die Rampe heruntergeklappt. Die Dämmerung zog herauf. Autos und Lastwagen rauschten an ihnen vorüber. Eine gefährliche Situation. Tony war in großer Sorge.

»Rein mit euch, Leute, na kommt! Bitte, bitte, bitte …«

Zu seiner Verblüffung und Erleichterung trotteten die Schafe die Rampe hinauf. Tony schloss eilig die Türen zum Laderaum. Sein Telefon klingelte erneut.

»Tony? Hier ist Dilly.«

»Und Daisy.«

Dilly und Daisy waren Zwillinge, die vor ein paar Wochen auf der Farm aufgetaucht waren und angeboten hatten mitzuhelfen. Sie wollten einfach nur gern mit Tieren arbeiten und verlangten kein Geld dafür. Die Schwestern sahen gleich aus, dachten das Gleiche und manchmal beendete die eine den Satz der anderen.

»Wo steckst du?«

»Irgendwo im Nirgendwo«, antwortete Tony. »Der Lieferwagen hat eine Panne.«

»Oje!«, sagte Dilly.

»Wie furchtbar!«, sagte Daisy.

»Ich bin erst morgen früh zurück.«

»Oje!«, sagte Daisy.

»Wie furchtbar!«, sagte Dilly.

Tony stieß einen Seufzer aus. »Kommt ihr allein auf der Farm zurecht?«, fragte er. »Oder soll ich versuchen, Nisha zu erreichen, damit sie vorbeikommt und euch hilft?«

»Oh, das ist nicht nötig«, sagte Dilly.

»Wir kommen klar«, fügte Daisy hinzu.

»Danke, ihr zwei«, antwortete Tony. »Ich weiß nicht, was ich ohne euch tun würde.«

»Wir helfen gern«, erklärte Daisy.

»Das ist das Beste überhaupt«, erklärte Dilly.

Tony wünschte ihnen eine gute Nacht. Er war jetzt etwas beruhigter und kletterte in die Fahrerkabine. Es war gut zu wissen, dass zwei Menschen, denen er vertraute, sich um die Farm kümmerten.

Auf der Stadtfarm grinsten Dilly und Daisy einander an und schlugen triumphierend die Fäuste gegeneinander.

»Perfekt!«, riefen sie gleichzeitig.

Dilly steckte das Handy ein und Daisy holte eine Taschenlampe hervor. Sie richtete die Lampe auf ein paar alte Schuppen und einen Wohnwagen, den man auf der anderen Seite des Hofs vage in der Dunkelheit ausmachen konnte. Der Lichtkegel fiel auf das Plastikschild über der Wohnwagentür:

TONY MAXWELL, FARM-VERWALTER

»Bereit?«, fragte Daisy.

»Bereit«, antwortete Dilly.

Sie rannten über den dunklen, stillen Hof, an den Pferchen und Koppeln mit den schlafenden Tieren vorbei und blieben dann einen Augenblick vor Tonys Wohnwagen stehen. Es herrschte vollkommene Stille.

Eine Minute später standen sie drinnen. Die mickrige Fensterverriegelung hatte sich mühelos mit dem Schraubenzieher öffnen lassen, den Dilly mitgebracht hatte.

Der Raum war nicht groß, trotzdem bereitete ihnen die Suche ein hartes Stück Arbeit, denn er war vollgestopft mit allem möglichen Kram. Tony fiel es schwer, etwas wegzuwerfen. Und wegen seiner derzeitigen Geschichtsbesessenheit stapelten sich überall Bücher, Zeitschriften und Zeitungen. Außerdem gab es noch zwei Laptops, einen Drucker und mehrere Kilometer Kabel.

Es bedurfte einiger Zeit und jeder Menge Hin- und Hergeschiebe, bis die Zwillinge endlich fanden, was sie suchten. Dilly lag bäuchlings vor dem Bett auf dem Boden und streckte den Arm nach einer kleinen Plastikdose aus, die sie gerade so mit den Fingerspitzen erreichte. Sie zog sie hervor und setzte sich auf. Daisy richtete den Lichtkegel der Lampe auf die Dose.

»Na?«, flüsterte sie mit gerümpfter Nase.

»Na?«, flüsterte Dilly und rümpfte ebenfalls die Nase.

Sie nickten einander aufgeregt zu. Die alte Eiscremedose war fast bis zum Rand mit Essig gefüllt. Rostsplitter und Schmutz schwammen in der säuerlich riechenden Flüssigkeit. Und auf dem Boden der Dose lag ein Schlüssel. Ein kleiner, leicht verbogener, sehr alter und rostiger Schlüssel.

Die Zwillinge lächelten einander an.

»Das muss er sein«, sagte Dilly und vergaß ganz zu flüstern. »Der Schlüssel, den er ausgegraben hat.«

Aber Daisy hörte ihr nicht mehr zu. »Was war das?«

»Was war was?«

»Das.« Daisy erstarrte und riss die Augen auf. Ihr Mund stand leicht offen.

Beide lauschten. Da war es wieder.

Bäng … Bäng … Bäng …

»Tony kann noch nicht zurück sein«, erklärte Daisy.

»Nein. Aber wir verschwinden besser von hier«, schlug Dilly vor. »Durch die Tür sind wir schneller.«

»Durch die Tür, ja«, drängte Daisy.

Sie entriegelten die Tür und glitten hinaus, dann schlossen sie sie lautlos hinter sich.

Bäng … Bäng … Bäng …

Die Mädchen blieben wie angewurzelt auf der obersten Stufe vor dem Wohnwagen stehen, klammerten sich aneinander und starrten ängstlich in die dunkle Nacht.

Bäng … Bäng … Bäng …

»Das kommt von da drüben«, wisperte Dilly.

»Vom Fluss?«, hauchte Daisy.

Dilly spähte in die Dunkelheit. »Aber da ist niemand.«

»Absolut niemand«, stimmte Daisy zu.

Bäng … Bäng … Bäng …

Die Zwillinge schauten erst einander, dann die Dose an, die sie umklammert hielten. Und beiden schoss derselbe Gedanke durch den Kopf: Der Fluch des Goldenen Grals!