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Lilly Melzer

Meine Seele war
hungrig und fror

Eine Borderlinepatientin erzählt

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2015 by edition fischer GmbH
Orber Str. 30, D-60386 Frankfurt/Main
Alle Rechte vorbehalten
Herstellung: efc/bf
ISBN 978-3-86455-862-7 EPUB

Vorwort

Darf ich mich vorstellen: ich bin Lilly, das Nichts in Person. So zumindest fühle ich mich oft.

Ich habe Borderline, eine dependente Persönlichkeitsstörung, dissoziative Krampfanfälle, eine generalisierte Angststörung sowie eine Mischform aus Magersucht und Bulimie.

Wörter auf einem Blatt Papier. Und ich bin ständig auf der Suche nach mir selbst.

Gedanken, Feststellungen

Das Schlimmste, was meine Feinde mir angetan haben, ist, dass sie mich zu meinem eigenen Feind gemacht haben.

Jedes Mal, wenn ich in den Spiegel schaue, schaut mich eine andere Person an.

Wenn es mir schlecht geht, lege ich mich auf den Boden. Dann habe ich das Gefühl, nicht mehr tiefer fallen zu können.

Um zu merken, dass ich lebe, muss ich auch manchmal an die Grenze zum Tod gehen. Mich in Lebensgefahr bringen.

Gab es mich je ohne Borderline? War ich jemals gesund?

Immer wieder muss ich feststellen, dass ich mir in meinen eigenen Gedanken widerspreche.

Wer bestimmt eigentlich, wo die Realität aufhört und der Traum beginnt?

Nur weil ich Sexualität verabscheue, heißt das nicht, dass ich nicht lieben kann.

Die Aussage eines Mitmenschen kann darüber entscheiden, ob ich mich liebe oder hasse.

Du darfst mich niemals verlassen. Aber ich brauche immer die Möglichkeit, es tun zu können. Ein unfaires Spiel. Willst du wirklich mitspielen?

Mein Leben ist eine Gratwanderung zwischen Fantasie und Realität, zwischen Leben und Tod und allen Extremen.

Ich vermische Traum und Realität, um zu überleben. Doch manchmal wird mir genau das zum Verhängnis.

Nimm mich in den Arm, doch komm mir bitte nicht zu nahe.

Niemand hat mich gefragt, ob ich leben will, also frage ich auch niemanden, ob ich sterben darf.

Du verstehst mich nicht? Soll ich dich einen Tag lang mit in meine Welt nehmen? Lieber nicht, wer weiß, was du tun würdest. Aber wenn du willst und stabil genug bist, erzähle ich dir ein wenig aus meiner Gefühlswelt und meinem Leben.

Jetzt

So, wo sollen wir anfangen? Also momentan sitze ich in der Psychiatrie und denke über mein Leben nach. Über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Über Freud und Leid. Darüber, wie oft ich schon fast gestorben wäre. Warum es wohl nicht passiert ist. Ob ich mich darüber freuen soll oder nicht. Und ich denke darüber nach, ob ich überhaupt ein Recht habe, hier zu sein. Auf der Welt und in der Klinik. Schließlich bin ich seit über sieben Jahren in ambulanter Therapie und habe schon mehrere Aufenthalte in der Psychiatrie und Psychosomatikstationen hinter mir. Und in der Unfallambulanz bin ich wegen schwerer Selbstverletzung auch bekannt.

Ich mache meinen Eltern, die ich über alles liebe, nur Kummer. Wäre also ein Ende mit Schmerz nicht besser als Schmerz ohne Ende? Meine Freunde müssen miterleben, wie mein Leben immer mehr aus der Bahn gerät, ich immer wahnsinniger und kränker werde. Den Staat koste ich Geld. Ich brauche teure Therapien und bin oft arbeitsunfähig. Ich könnte noch einige Gründe aufzählen, warum ich kein Recht auf Leben habe. Und aufgeben wäre definitiv einfacher. Warum also nicht erneut versuchen zu sterben?

Weil ich weiß, dass das Leben durchaus wahnsinnig schön sein kann. Die kleinen Momente, zum Beispiel das heiße Melissenbad heute. Oder wenn unser Kater Felix neben mir im Bett liegt und mich in den Schlaf schnurrt. Wenn ich mit meinen Freunden oder meinen Eltern was unternehme. Oder wenn ich einen Schokocappuccino trinke. Nicht zu vergessen: ein schöner Ausritt …

Davon abgesehen flehen meine Eltern, Freunde und meine Therapeutin mich regelmäßig an, gegen die Krankheit zu kämpfen und nicht aufzugeben. Und ich habe Verantwortung für meine Tiere. Ich liebe sie. Sie sind meine Kinder. Mama darf nicht gehen. Jedes Kind braucht eine Mama. Also versuche ich jetzt mit aller Kraft zurück ins Leben zu finden.

Fangen wir von vorne an.

Bis 4 Jahre

An wirklich viel kann ich mich dem Alter entsprechend nicht mehr erinnern. Aber es war bisher wohl mit Abstand die schönste Zeit in meinem Leben. Ich war so gut wie immer bei meinen Eltern. Oder unseren Katzen. Meine Eltern sind bis heute die einzigen Menschen, denen ich zu 100 % vertraue. Von ihnen wurde ich nie wirklich enttäuscht, sie sind immer für mich da, verzeihen mir und lieben mich, wie ich bin.

Wir haben viel miteinander gemacht. Vor allem meine Mama und ich. Wir waren zum Beispiel im Hallenbad oder haben Spiele gespielt.

Von Anfang an hatten wir Katzen. Ich liebte schon damals Katzen und Tiere allgemein. Eine Katze lebte im Haus, die anderen draußen. Sie sind uns zugelaufen und trauten sich nicht rein.

Ich beschäftigte mich viel mit den Katzen. Meiner Mama folgte ich, als ich noch ganz klein war, auf Schritt und Tritt. Sie war in Elternzeit, bis ich neun war. Das ging, weil sie Beamtin ist.

Mein Papa arbeitete. Wenn er da war, bauten wir oft Türme aus Holzklötzchen. Es war eine schöne Zeit, auch wenn ich dauererkältet war und oft Fieber hatte.

4 – 7 Jahre (Kindergartenzeit)