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Helen E. Waite

Öffne mir das Tor zur Welt!

Das Leben der taubblinden Helen Keller und
ihrer Lehrerin Anne Sullivan

Aus dem Amerikanischen von Sabine Gabert

Verlag Freies Geistesleben

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Inhalt

Vorbemerkung

Ein Tag des Triumphs

Ein Ruf aus Alabama

Die Reise nach Tuscumbia

Phantom in einer Nicht-Welt

Die erste Sprosse der Leiter

W–A–T–E–R !

Mehr Wörter – viele Wörter!

Der große Kampf

Ich denke!

Im eigenen Land

I–Am–Not–Dumb–Now!

Die Stadt der gütigen Herzen

König Frost

Nicht brechen, nicht biegen

Reise zu den Sternen

Der 8. Dezember

Geschichte meines Lebens

Trio in Wrentham

Steinige Straßen

Vorhang

Ein Neubeginn

Die größte Ehrung

Über die Autorin

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Charlie Chaplin mit Helen (Mitte), Anne (rechts) und einer Unbekannten

Vorbemerkung

Die Personen, Orte und Geschehnisse dieses Buches sind authentisch, die Gespräche basieren auf den Schriften von Helen Keller, Anne Sullivan Macy und anderen Quellen aus erster Hand.

Alle Berichte und Briefe, die sich auf Mr. Gilmans Versuch beziehen, Annie Sullivan von ihrer Schülerin zu trennen, wurden von Dr. Alexander Graham Bell aufbewahrt und befinden sich bei den Akten im Bell Room der National Geographic Society, Washington, D.C.

Die Verfasserin dankt Miss Helen Keller für ihre freundliche Genehmigung, diese Biografie zu schreiben; Mr. Nelson Coon, Bibliothekar der Perkins-Blindenschule, und seiner Assistentin, Miss Florence J. Worth, für ihre herzliche Gastfreundschaft und großzügige Unterstützung; Mr. Daniel J.Burns, Vorsitzender des Taubblinden-Departments, sowie seinen Mitarbeitern für die Möglichkeit, die heutigen Unterrichtsmethoden für taubblinde Kinder kennenzulernen; Miss Gayle Sabonatis für einen persönlichen Einblick in das tägliche Leben eines taubblinden Mädchens; vor allem aber Miss Helen M. Vreeland für ihre unschätzbare Hilfe während unseres Aufenthaltes in der Perkins-Schule.

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Helen betastet eine Nike-Statue

Ein Tag des Triumphs

«Nur noch eine winzige Kleinigkeit, und dann bist du fertig.» Sanft zupfte Mrs. Hopkins ihr ein letztes Löckchen zurecht und trat einen Schritt zurück, um ihr Werk mit kritischen Augen zu betrachten, dann nickte sie zufrieden. «Mr. Anagnos hat recht – du siehst wirklich genauso aus wie Miss Frances Fulsom!»

Annie warf einen kurzen Blick in den Spiegel über Mrs. Hopkins’ Kommode, und ein freudiger Schauer lief ihr über den Rücken. Es erschien ihr immer noch wie ein Wunder, dass sie, die die ersten sechzehn Jahre ihres Lebens so gut wie blind gewesen war, sich tatsächlich selbst im Spiegel sehen konnte! Ja, sie konnte selber sehen, dass sie Frances Fulsom ähnelte, dem Mädchen, das die Braut von Präsident Cleveland war! Mrs.Hopkins hatte Annies dunkles Haar hoch aufgetürmt über dem Kopf festgesteckt, ihr über der Stirn mit ihrem eigenen Brenneisen Löckchen gelegt, und in ihrem hübschen Musselinkleid mit den halblangen Ärmeln und den drei mit Spitzen besetzten Rüschen hätte man Annie tatsächlich für eine Braut halten können. Flüchtig überlegte sie, ob die Braut im Weißen Haus wohl noch aufgeregter war als Annie Sullivan in diesem Augenblick.

«Nun», sagte Mrs. Hopkins und wandte sich einer geheimnisvollen Schachtel zu, die auf dem Bett lag. Annie stockte der Atem, als aus den vielen Lagen von Seidenpapier eine breite Schärpe aus glänzendem rosa Satin hervorkam. Die Finger der älteren Frau streichelten darüber hin, ehe sie Annie anblickte. «Sie gehörte Florence», sagte sie ruhig. «Sie trug die Schärpe zu ihrer Examensfeier. Ich möchte, dass du sie heute trägst.»

Das war wie ein Ritterschlag, denn Annie wusste, wie hoch in Ehren Mrs. Hopkins alles hielt, was ihrer Tochter gehört hatte, deren Leben so kurz gewesen war.

«Und nun habe ich wieder ein Mädchen, das seinen Abschluss feiert!» Mrs. Hopkins strich noch ein letztes Mal über die Schärpe und nickte zufrieden. «Du siehst reizend aus! Nun geh! Mr. Anagnos würde es sicher nicht gefallen, wenn die Festrednerin zu spät käme.»

Das Gefühl der Unwirklichkeit, das Annie den ganzen Tag über empfunden hatte, verstärkte sich, als sie Tremont Temple erreichte, wo die Abschlussfeiern des Perkins-Institutes, der Blindenschule von Massachusetts, abgehalten wurden. War das wirklich wahr, dass sie, Annie Sullivan, tatsächlich die Festrede für die Examensklasse des Jahrgangs 1886 halten sollte? Vor den Stufen zum Podium lächelte ihre Lieblingslehrerin, Miss Mary Moore, sie an, als sie ihr ein Bukett rosafarbener Rosen am Gürtel festmachte, deren Duft sie sanft betäubte. Dann ergriff Mr. Anagnos, der Direktor von Perkins, ihre Hand und führte sie zu ihrem Platz; er flüsterte ihr ein paar ermutigende Worte zu, die sie vor lauter Aufregung kaum vernahm. Wieder schauderte sie, aber diesmal nicht vor Freude!

Das Publikum! Wie konnte sie dem nur gegenübertreten! So viele Menschen! Und dann noch so berühmte wie Mrs. Julia Ward Howe, die Verfasserin von Battle Hymn of the Republic, und Mrs. Livermore, eine begeisterte Frauenrechtlerin, sowie der Gouverneur von Massachusetts. Wie im Traum hörte sie die Musik, die Ansprachen – sie fühlte, wie ihr eiskalte Schauer den Rücken herunterrieselten, ihre Kehle sich von Minute zu Minute mehr zusammenschnürte, und plötzlich war sie an der Reihe. Mit einer freundlichen Bewegung wandte sich der Gouverneur ihr zu und kündigte an: «Die Festrede – von Miss Annie Mansfield Sullivan!» Es gelang Annie, sich zu erheben, aber ihre Knie zitterten derart, dass sie das Gefühl hatte, sie würden unter ihr nachgeben! Sie zögerte so lange, bis der Gouverneur ihren Namen noch einmal rief. Und dann nahm sie all ihren Mut zusammen und schritt zur Mitte des Podiums. Der gütige Mann begann höflich Beifall zu klatschen, und nach einem leisen «Meine Damen und Herren –» bemerkte Annie erstaunt und erleichtert, wie ihre Stimme ihr gehorchte und sie klar und deutlich die kleine Ansprache vortrug, die sie niedergeschrieben und so oft geprobt hatte. Die Umgebung nahm wieder die gewohnten Umrisse an, und sie vermochte die freundlichen, interessierten Blicke der Zuhörer vertrauensvoll zu erwidern. Von freudiger Erregung ergriffen, kam sie zum Schluss und verbeugte sich dankend, als wiederum geklatscht wurde – ganz spontan diesmal und nicht aus bloßer Höflichkeit. Wie herrlich aufregend!

Was sich nach der Beendigung des Programms abspielte, davon blieben ihr nur wirre und flüchtige Eindrücke. Sie konnte sich erinnern, dass Dr. Samuel Eliot, einer der Treuhänder von Perkins, ihre Ansprache lobte und dass Mr. Anagnos abwechselnd strahlte und sich die Nase putzte. «Du hast Perkins Ehre gemacht, meine liebe Annie, große Ehre. Und wenn ich daran denke, wie du vor sechs Jahren zu uns kamst.»

Miss Moore konnte ihr nur einen flüchtigen Kuss geben, während Mrs. Hopkins in dem Gedränge nicht einmal das gelang. Aber ihre Klassenkameradinnen und andere Perkins-Schülerinnen scharten sich um sie, gratulierten ihr und wollten sie «sehen». Mit dem Verständnis, das aus der Zeit ihrer eigenen Blindheit herrührte, ließ sie ihnen genügend Zeit, ihre forschenden Finger über ihr Kleid und ihre modische Frisur gleiten zu lassen, während sie lachend auf ihre Bemerkungen und ihr Lob einging. Selbst Laura Bridgman, die berühmte taubstumme und blinde ehemalige Schülerin des Instituts, war anwesend, wie immer bei bedeutenden Veranstaltungen von Perkins.

Und dann war endlich alles vorbei, und sie befand sich wieder in ihrem kleinen Zimmer in der Schule. Leise schloss sie die Tür hinter sich. Die anderen Mädchen schwelgten noch in Erinnerungen an die aufregenden Ereignisse der Feier, aber sie musste erst einmal allein sein, um das Wunder und die Herrlichkeit dieses unglaublichen Tages noch einmal voll auskosten zu können.

Ganz langsam löste sie die Rosen aus ihrem Gürtel und stellte sie in ein Glas mit Wasser. Zögernd nahm sie die Schärpe ab, legte sie auf das Bett und strich mit liebevollen Fingern darüber hin: Ob sie sie wohl jemals wieder tragen würde? Aber wenigstens das Kleid gehörte ihr. Wie gut doch Mrs. Hopkins gewesen war, es für sie zu nähen, obgleich sie mit ihren Pflichten als Hausmutter von Annies Gruppe so viel zu tun hatte! Sie saß auf der Kante ihres Bettes, streichelte die winzigen Knöpfe, als seien es echte Perlen, und liebkoste die Rüschen und die Spitze. Und um die weißen Seidenschuhe auszuziehen, brauchte sie ihre ganze Willenskraft – sie, Annie Sullivan, hatte weiße Seidenschuhe! Plötzlich verdunkelten sich ihre Augen. Sie dachte an die Annie Sullivan, die vor sechs Jahren ins Perkins-Institut gekommen war, vierzehn Jahre alt und nahezu blind. Sie war wohl das am meisten verwahrloste, ungebildetste und widerspenstigste Geschöpf gewesen, das Perkins je aufgenommen hatte. Die einzige Kleidung, die sie besaß, waren zwei groben Hemden und zwei Baumwollkleider.

«Annie!» Ungeduldig riefen die Mädchen nach ihr. «Annie!» Annie tat so, als ob sie nichts hörte. Diesen Augenblick konnte sie mit niemandem teilen.

Sie ließ ihre Erinnerungen weiterwandern. Wie bitter war ihr erster Tag in der Schule gewesen! Die Lehrerin, der sie zuerst begegnete, fragte sie nach ihrem Namen und Alter. Das konnte sie gerade noch beantworten, aber als die Lehrerin sie aufforderte, ein Wort zu buchstabieren, vermochte sie nur zu murmeln: «Ich kann nicht, ich kann überhaupt nicht buchstabieren!»

«Vierzehn Jahre alt – und kann nicht buchstabieren!» So etwas war der Lehrerin noch nie vorgekommen. Das sprach sie auch aus, und Annie spürte ihre Verachtung. Doch es sollte noch schlimmer kommen. Die blinden Mädchen scharten sich um die Neue, tasteten nach ihren Habseligkeiten und fragten erstaunt:

«Wo sind denn deine Kleider und deine übrigen Sachen?»

Annie musste den Kopf schütteln und voller Scham zugeben, dass sie sonst nichts besaß. Die Mädchen der Gruppe, in die sie eingewiesen war, waren noch nie jemandem begegnet, der keinen Mantel hatte, keinen Hut, kein zweites Paar Schuhe, nicht einmal eine Zahnbürste. Das sagten sie auch und lachten sie aus. Und Annie hatte sie alle gehasst.

«Warum hat dir denn deine Mutter nicht ein paar Sachen genäht?»

«Meine Mutter ist tot», hatte Annie kurz geantwortet, «mein kleiner Bruder auch. Und das ist alles.»

Ja, das war alles, was sie über ihre Familie zu sagen bereit war. Sie hatte natürlich einen Vater. Sie hatte auch eine Schwester. Aber nichts und niemand würde sie je dazu bringen zuzugeben, dass ihr unzuverlässiger, hilfloser Vater seine Familie im Stich gelassen hatte, als die Mutter vor vier Jahren gestorben war. Eine Tante hatte das liebenswerte kleine Schwesterchen zu sich genommen, aber keiner der Verwandten war gewillt, sich mit einem fast blinden Mädchen zu belasten und einem kleinen Jungen mit einer durch Knochentuberkulose geschädigten Hüfte. So waren sie in das Armenhaus von Tewksbury abgeschoben worden, eine der schlimmsten Anstalten dieser Art im ganzen Land. Durch die Zustände dort war Jimmie innerhalb von zwei Monaten gestorben; sie selbst, Annie, hatte vier elende Jahre dort verbracht, bis das staatliche Wohlfahrtsamt Frank B. Sanborn beauftragte, das Heim zu inspizieren.

Annie erinnerte sich, wie sie an dem Tag seiner Besichtigung weinend durch die Säle gelaufen war: «Mr. Sanborn! Mr. Sanborn!», und als eine Männerstimme ihr antwortete, verzweifelt ausgerufen hatte: «Ich kann nicht gut sehen, und ich möchte in eine Schule gehen!»

Auf diese Weise war sie Tewksbury entkommen. Eine alte Frau, die immer freundlich zu ihr gewesen war, warnte sie beim Abschied: «Sag’ nie nich’ keinem, dass du aus dem Armenhaus kommst», und leidenschaftlich rief Annie aus: «Nie!»

Die Lehrer und das Verwaltungspersonal wussten natürlich Bescheid, aber Annie wäre lieber gestorben, als dass sie das den Schülerinnen gegenüber zugegeben hätte.

Ihre Ausstattung war so kümmerlich, dass die Hausmutter ihrer Gruppe an jenem ersten Abend ein Nachthemd für sie ausborgen musste, und die arme Annie, so verbissen stolz und dennoch ausgehungert nach freundschaftlicher Zuwendung, hatte sich an jenem Abend in den Schlaf geweint – ja, und nicht nur an jenem Abend.

Als sie das Perkins-Institut betrat, war es fast, als wäre sie auf einen anderen Planeten versetzt worden. Sie musste nicht nur ihren Schulunterricht in der ersten Klasse beginnen, sie musste auch eine vollkommen andere Art des Lebens lernen, von der sie bisher nichts geahnt hatte. Die Sullivans waren immer bitter arm gewesen, ihre Mutter war ständig krank und das Leben in Tewksbury hart und grausam. Ihre Schulkameradinnen hier im Perkins-Institut waren trotz ihrer Blindheit glückliche Kinder – Kinder von Ärzten, Kaufleuten, Rechtsanwälten und wohlhabenden Gutsbesitzern. Die Mädchen in Annies Gruppe waren zufrieden und behütet, während Annie aufgrund ihrer bisherigen Erfahrungen nicht wusste, wie man ein glückliches Leben führt.

Kein Wunder, dass sie verwirrt, schwierig und trotzig war. Wäre sie weniger zäh gewesen, so hätte sie das erste Jahr im Perkins-Institut nicht durchgestanden – aber Annie war ein Mensch, der nie klein beigeben würde. Sie war zu Perkins gekommen, um zu lernen, und das tat sie. Sie setzte alles daran, schnell voranzukommen, um endlich an der Seite ihrer Altersgenossen auf der Schulbank sitzen zu können. Darüber hinaus aber lernte sie hier, Schönheit zu empfinden und nach Wahrheit und Gerechtigkeit zu streben.

Man war gut zu ihr gewesen. Die meisten ihrer Lehrerinnen waren freundlich. Sie versorgten sie mit Kleidung, gaben ihr zusätzlichen Unterricht und stellten sich schützend vor sie, wenn eine Rückkehr nach Tewksbury drohte, wenn ihre Widerspenstigkeit die Geduld der Behörden allzu sehr strapazierte. Sie versorgten sie mit freien Eintrittskarten für Vorträge und Konzerte. Aber wofür sie ihr Leben lang zutiefst dankbar sein würde, war die Tatsache, dass jemand, der der Meinung war, für ihre Augen bestehe vielleicht noch Hoffnung, dafür gesorgt hatte, dass man sie zur Augenklinik brachte, in der an gewissen Tagen die Patienten unentgeltlich behandelt wurden. Daraufhin erfolgten zwei Operationen, die erste, als sie fünfzehn war, die zweite genau ein Jahr später, und danach konnte Annie sehen! Oh, keineswegs vollkommen – Dr. Bradford hatte sie darauf aufmerksam gemacht, dass das niemals der Fall sein würde und sie ihre Augen nie überanstrengen dürfte, aber – sie konnte sehen! Sie konnte Gedrucktes lesen lernen, die einzelnen Ziegel in einem Gebäude jenseits des Flusses erkennen! Und als sie eines Tages entdeckte, dass sie eine Nadel ohne Hilfsmittel einfädeln konnte, war sie ganz überwältigt vor Freude.

Auch nachdem ihr Augenlicht wiederhergestellt war, blieb sie im Institut, weil sie sonst nirgendwo hin konnte. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie sich dadurch, dass sie beim Unterricht und der Betreuung der kleineren Kinder half – aber jetzt, was sollte sie nun tun? Sie wusste nur zu gut, dass diese Überlegung ihre Freunde seit Wochen beunruhigte. Würde sie – würde sie schließlich doch noch nach Tewksbury zurückkehren müssen? Bei diesem Gedanken stockte ihr vor Angst der Atem.

Entschlossen erhob sie sich und begann ihre Kostbarkeiten wegzupacken. Die Glocke zum Abendessen läutete. Annie nahm all ihren Mut zusammen. Sie wollte jetzt hinuntergehen und ebenso fröhlich und lebhaft sein wie die anderen Mädchen; heute abend sollte niemand auf den Gedanken kommen, dass sie nicht das glücklichste Mädchen in ganz Boston war.

Einen Menschen jedoch gab es, der Bescheid wusste. Niemand hätte vermutet, dass die so nüchtern und spröde erscheinende Witwe Mrs. Hopkins, eine typische Neu-Engländerin, gleichen Geistes Kind war wie die unruhige, temperamentvolle Annie Sullivan – aber Zeit ihres Lebens sollte eine geheimnisvolle Verbindung tiefen gegenseitigen Verständnisses zwischen ihnen bestehen. Als nun das Mädchen die Treppe herunterkam, hielt die Hausmutter in ihrer Geschäftigkeit inne und schenkte Annie ein stolzes Lächeln.

«Du hast dich wunderbar gehalten, Liebes», sagte sie, «genau wie ich es von dir erwartet hatte.»

«Ich brauchte den Mut von tausend irischen Häuptlingen», bekannte Annie kläglich. «Ich schämte mich so, dass der Gouverneur meinen Namen ein zweites Mal aufrufen musste.»

Vom anderen Ende der langen Tafel, wo sie ihre kleinen Schützlinge geschickt hinsetzte, lächelte Miss Moore ihr zu. «Wir waren alle sehr stolz auf dich, Annie.» Von Miss Moore ausgesprochen, hatten diese Worte eine besondere Bedeutung, und Annie war zutiefst dankbar. Miss Moore war diejenige Lehrerin, die außergewöhnlich viel Zeit und Geduld aufgebracht hatte, das eigenwillige, unwissende, launenhafte Kind, das Annie gewesen war, zu zähmen und zu erziehen. Manchmal vermutete Annie, Miss Moore habe es besser als jeder andere verstanden, sie «unter ihre Fuchtel» zu bringen, aber vielleicht gerade deswegen verehrte sie sie tief.

«Setz dich neben mich, Annie!» – «Nein, heute Abend bei mir!» – «O Annie, komm und setz dich zu uns!», riefen die kleineren Mädchen im Chor, und begierige kleine Hände streckten sich flehentlich aus, aber Annie entzog sich ihnen sachte.

«Heute Abend werde ich bei Laura sitzen», erklärte sie und trat zu einer steif aufrecht sitzenden, schweigsamen Frau, deren seltsam starrer Gesichtsausdruck einen etwas unheimlichen Eindruck inmitten dieser lebhaften Gruppe machte. Als Annies Hand sie berührte, leuchtete ihr Gesicht auf, und es schien, als glänzten plötzlich Sonnenstrahlen auf einer bewegten Wasserfläche auf. Ihre Hände flatterten leicht und schnell wie Schmetterlinge in der Luft, und Annie erwiderte, in Lauras Hand buchstabierend, mit der gleichen Fingersprache, denn für die taubstumme und blinde Laura Bridgman war die einzige Verständigungsmöglichkeit mit anderen Menschen das von den Taubstummen benützte Fingeralphabet. Alle Lehrer, Hausmütter und Schülerinnen beherrschten es, denn Laura lebte seit ihrem siebten Jahr im Perkins-Institut, es war ihr Zuhause. Irgendwie hatte Annie besondere Geschicklichkeit darin erworben, und sie gehörte zu Lauras Lieblingen.

Als sie jetzt beim Abendessen neben ihr saß, begann Laura schnelle, kurze Fragen zu buchstabieren, und Annie antwortete mit fliegenden Fingern, beschrieb, was am Tisch um sie herum vor sich ging, und versprach, später in Lauras Zimmer zu kommen, um ihr von der Schlussfeier zu berichten.

Die Examensfeier war wirklich ein Erfolg gewesen. Selbst die Bostoner Zeitungen schrieben schmeichelhafte Berichte über die Festrednerin – Berichte, die zwar sehr erfreulich zu lesen waren, aber nicht die Frage beantworten konnten, die das Gemüt eben dieser Festrednerin ständig beunruhigte: Was sollte sie jetzt tun; was konnte denn überhaupt ein Mädchen tun, dem es vom Schicksal bestimmt war, mit mangelhaftem Sehvermögen und einer schmerzhaften Augenkrankheit durchs Leben zu gehen?

Als Perkins seine Tore für die Sommerferien schloss, hatte noch niemand eine befriedigende Lösung gefunden, und obwohl Annie lächelte und mit irischer Unbekümmertheit ihren Kopf hochhielt, war ihre Besorgnis zu einer Furcht angewachsen, die ständig im Hintergrund ihres Bewusstseins lauerte und manchmal in unerwarteter Weise hervorbrach, um sich Luft zu machen.

«Du kommst natürlich mit mir nach Brewster, wie immer», hatte Mrs. Hopkins mit Entschiedenheit gesagt, «und wenn irgendetwas Aussichtsreiches auftauchen sollte, kann man dir nach Brewster genauso leicht Bescheid geben, wie wenn du in Boston bliebest.» Mr. Anagnos war einverstanden. «Sie hat recht, liebe Annie, ganz recht. Alle Lehrer, ebenso wie ich, haben dein Problem im Bewusstsein. Wir benachrichtigen dich sofort, keine Sorge.» Beruhigend tätschelte er ihre Hand. «Nun geh und genieß deinen Sommer, meine Liebe.»

Annies Lippen fühlten sich steif an, als sie ihm dankte, und nur mit Mühe brachte sie ein Lächeln zustande.

Sie nahm Mrs. Hopkins’ Einladung dankbar an, war sich aber klar darüber, dass das nur ein Notbehelf war, was sie durchaus nüchtern ins Auge fasste. Als die Tür des Hauses, dem Sophia Hopkins als Hausmutter vorstand (es gab mehrere Häuser auf dem Perkinsschen Gelände), hinter ihnen zufiel, dröhnte das in Annies Ohren wie ein Weltuntergang. Das Perkins-Institut, die Blindenschule von Massachusetts, war der einzige Ort, den sie ihr «Zuhause» nennen konnte. Schloss sich diese Tür für immer hinter ihr?

Ein Ruf aus Alabama

Die Atmosphäre des Dörfchens Brewster am Cape Cod hatte etwas, das Annies natürliche Spannkraft bald wiederherstellte, genau wie Mrs. Hopkins es erhofft hatte. Sie kannte und verstand das Mädchen besser, als Annie ahnte, und wahrscheinlich kam ihr nie wirklich zum Bewusstsein, wie tiefgehend ihre Hausmutter sie beeinflusst hatte.

Sophia Hopkins war in das Perkins-Institut gekommen, weil es ihr größter Wunsch gewesen war, sich ganz und gar für einen Menschen oder eine Sache einzusetzen, etwas zu tun, wozu sie wirklich gebraucht wurde. Ihr Mann, ein Schiffskapitän, war vor Jahren auf einer seiner Fahrten ums Leben gekommen, und ihre geliebte einzige Tochter war vor Kurzem gestorben. Ihre sehr selbstständige und unabhängige Mutter lebte lieber für sich allein, und Sophia war nicht der Mensch, der ein inhaltloses Leben führen konnte. Eines Tages, als sie einige blinde Knaben beobachtete, die am Strand spielten, durchfuhr sie der Gedanke: Hier ist die Aufgabe für mich! Auf ihre Bewerbung hin wurde sie sofort als Gruppenmutter für das Haus engagiert, in dem Annie bereits seit drei Jahren lebte.

In der Schule hatte Annie inzwischen gute Fortschritte gemacht, aber in Bezug auf ihr Gefühlsleben lag noch alles im Argen, sie liebte niemanden und niemand liebte sie. Mrs. Hopkins behandelte alle ihre Mädchen mit gleicher Güte, was ein Grund dafür gewesen sein mochte, dass einige von ihnen sich zu außergewöhnlichen Persönlichkeiten entwickelten. Die kleine Lydia Hayes zum Beispiel wurde Vorsitzende der New Jersey-Kommission für die Blinden. Mrs. Hopkins erkannte sofort, dass sie in Annie Sullivan jemanden gefunden hatte, der sie wirklich brauchte, und so nahm sie das Mädchen unter ihre Fittiche, umsorgte sie liebevoll und wirkte besänftigend auf sie ein, ohne Annies Widerstreben und Eigensinn zu sehr zu beachten. Instinktiv begriff die ältere Frau, dass Annies Ungebärdigkeit und all ihre finsteren Stimmungen nur der Schutzwall waren, den eine verwirrte, verstörte und verschreckte Kinderseele um sich herum errichtete, um keine weiteren Verletzungen zu erleiden; und dass unter all diesen Schichten ein charaktervolles, feinfühliges Wesen darauf wartete, erlöst zu werden. Gerade zu jenem Zeitpunkt war es fraglich, welche Richtung Annies Entwicklung nehmen würde: Würde sie durch ihre Erlebnisse in Tewksbury und die erste schwere Zeit im Perkins-Institut verbittert werden und dauerhaft seelisch geschädigt sein, oder könnte sie gerade aufgrund dieser Erfahrungen ein vertieftes Verständnis für all jene erlangen, die behindert oder krank waren?

«Sie hat die Möglichkeit in sich, eines Tages Großartiges zu leisten», hatte Mrs. Hopkins erklärt, als sie Annie einmal einer Lehrerin gegenüber in Schutz nahm, die über deren unverschämtes Benehmen an einem «Tag der offenen Tür» äußerst aufgebracht war. «Tage der offenen Tür» gehörten zu den Gepflogenheiten des Instituts, Tage, an denen die Schule für Besucher geöffnet war, die nach Belieben von Klassenraum zu Klassenraum wandern und den Unterrichtsbetrieb miterleben konnten. Annie pflegte bei solchen Gelegenheiten häufig aufgerufen zu werden, da ihre raschen, intelligenten Antworten die Wirksamkeit der Perkinsschen Unterrichtsmethode unter Beweis stellten. Aber als an jenem Tag die Lehrerin fragte: «Was war das Beste, das König Johann getan hat?», war Annies lausbübische Antwort: «Das habe ich bisher noch nicht entscheiden können!», und sie weigerte sich hartnäckig, auch nur ein weiteres Wort hinzuzufügen! Kein Wunder, dass die Lehrerin skeptisch war, doch Mrs. Hopkins ließ sich in ihrer Überzeugung nicht beirren.

«Sie hat die Möglichkeit in sich, etwas Großartiges zu leisten», wiederholte sie, «und starke Liebeskräfte – wenn es uns gelingt, an ihr Herz zu rühren.»

So aufsässig und eigenwillig Annie auch war, niemals, ihr ganzes Leben hindurch nicht, war sie unzugänglich gegenüber echter Güte und Zuneigung, und die besaß Mrs. Hopkins in reichem Maße. Noch nie zuvor war Annie geliebt worden, es war eine eigenartige, neue Erfahrung für sie, aber sie freute sich darüber und begann bald selbst, Versuche in dieser Rich-tung zu machen. Sie führte die kleineren blinden Mädchen spazieren, geleitete sie sonntags zur Kirche, half ihnen bei ihren Hausaufgaben und tröstete die Heimwehkranken und Einsamen. Einsamkeit war ja für Annie nichts Unbekanntes! Vielleicht war es in jener Zeit, dass ihre Freundschaft mit Laura Bridgman begann.

Als die Schule im Sommer 1884 ihre Tore schloss, lud Mrs. Hopkins Annie zum ersten Mal ein, die Ferien bei ihr und ihrer Mutter in deren Haus in Brewster zu verbringen. Nie vergaß Annie die jähe, überwältigende Freude, von der sie ergriffen wurde. Bisher hatte man sie im Sommer irgendwo hingeschickt, wo sie für ihren Unterhalt arbeiten musste; und nun eine richtige Einladung – jemand, der sie wirklich bei sich haben wollte!

Und dann Brewster! Bereits in den ersten zwei Wochen verliebte sie sich in den Ort. Der weit geschwungene Horizont; die heimeligen hübschen Häuser, so anders als die massigen, düster aussehenden Gebäude in Boston; die schmalen, gewundenen, sandbedeckten Wege; die duftenden, weiten Felder; die langen, goldenen Sandstrände, auf denen hie und da kleine Büschel steifen Strandhafers wuchsen – alles das ließ Brewster zu einem Ort werden, der Annies leidenschaftliches Sehnen nach Schönheit befriedigte.

Und die Menschen – auch sie stillten eine Sehnsucht in ihr, diese Menschen mit ihrem ruhigen Selbstvertrauen, ihrer tatkräftigen Einstellung zum Leben und ihrem oft unerwarteten, verborgenen Humor. Nie zuvor hatte sie unter völlig normalen Menschen gelebt, die sie ganz selbstverständlich in ihrer Mitte aufnahmen, und so wurde jeder Tag, den sie in Brewster verbrachte, zu einer Quelle reinster Freude für sie.

Auch das Haus Crocker trug zu ihrem Entzücken bei. Mrs. Hopkins’ Vater war, wie schon ihr Mann, Schiffskapitän gewesen, und das ganze kleine Haus, vor allem aber das Wohnzimmer, waren zum Bersten angefüllt mit Andenken, die er von seinen Reisen mitgebracht hatte. Staubwischen zählte nie zu Annies Lieblingsbeschäftigungen, aber in diesem Wohnzimmer abzustauben, dazu war sie jederzeit nur zu gern bereit. Jede Möglichkeit, das Crockersche Wohnzimmer zu betreten, war wie eine Belohnung!

Annie fühlte jedes Mal eine leise Scheu, wenn sie über die Schwelle dieses Zimmers trat. Zunächst lief sie sorgsam und vorsichtig über den kostbaren Teppich (Teppiche oder Läufer gab es in der Schule nicht), ging zum Fenster, um einige Schlitze des Fensterladens zu öffnen, dann aber geradewegs zu der Etagere, die ihre Lieblingsschätze enthielt: chinesische Porzellanfiguren, zierliche Spieluhren und Elefanten aus glatt poliertem Elfenbein. Von alledem war sie wie verzaubert. An einer anderen Stelle des Zimmers befand sich ein Meer von blauem Porzellan aus Holland, auf dessen einzelnen Teilen man Abbildungen eines Hafens und einer Stadt betrachten konnte, und vorzüglich gearbeitete silberne Kelche aus Portugal sowie ein wunderbarer Kronleuchter. Annies allerliebste Stücke aber standen auf dem Kaminsims: zwei zierliche Porzellanpuppen, die beide einen mit Früchten und Blumen gefüllten Korb trugen. Jedes andere Mädchen hätte von Tante Crocker ermahnt werden müssen, diese Kostbarkeiten nicht unachtsam oder unnötig zu berühren, aber für Annie Sullivan war das bloße Sehenkönnen noch ein solches Wunder, dass es ihr völlig genügte, nur dazustehen und ihre Augen an diesen Schätzen zu weiden. Und wenn sie sie tatsächlich abstaubte, dann berührte sie sie mit der Behutsamkeit eines blinden Kindes, das sie einst gewesen war.

Ihre Eigenwilligkeit aber verlor Annie auch in Brewster nicht. Kurz nach ihrer Ankunft hatte Mrs. Hopkins ihr einen schmalen Pfad gezeigt und ihr gesagt, dass er zu einer schmutzigen Höhle führe, in der ein verrückter alter Einsiedler hause. Diese Ermahnung hätte genügt, um jedes andere fügsame und wohlerzogene Mädchen von jenem Pfad fernzuhalten, aber Fügsamkeit und Vorsicht waren Annies Stärke nicht. Von Neugier wie verhext, folgte sie sobald als möglich diesem Pfad, der sich durch hohes, stacheliges Gras wand, bis er schließlich am glatten Strand einer weit geschwungenen Bucht endete. Dort erblickte sie einen sonderbaren Holzschuppen und einen alten, sehr gepflegten Mann, der sie an Rip van Winkle erinnerte. «Hallo», sagte Annie so lässig wie möglich. Aus seinem Dösen aufgeschreckt, war der Alte nicht gerade überschwänglich herzlich. Er warf ihr einen finsteren Blick zu und erklärte, dass er keinen Besuch brauche und Gesellschaft verabscheue – besonders «Weibervolk». Aber vielleicht spürte er ihre unkomplizierte, aufrichtige Unerschrockenheit, denn er brummte etwas vor sich hin und forderte sie schließlich auf, sich zu setzen. Unter seinen struppigen, grauen Augenbrauen betrachtete er sie neugierig.

«Hast du denn keine Angst vor mir?»

Annie schüttelte den Kopf. «Nein, jetzt nicht mehr, nur zuerst. Aber Sie sind ja gar nicht verrückt.»

«Na so was, besten Dank!» Der Alte machte eine Verbeugung. «Ich weiß zwar nicht, woher du das wissen willst, aber es stimmt schon. Du hast mehr Grips als die anderen. Du bist wohl nicht aus Brewster?»

Annie bekannte, dass das nicht der Fall sei, und der Alte kicherte befriedigt. «’türlich nich’! Hast zu viel Grips!»

Er bot einen malerischen Anblick in seinem verblichenen blauen Overall, mit einem Kranz feiner Falten um seine blauen Augen, dem schneeweißen Bart und nackten, braun gebrannten Füßen. Annies freimütige Bemerkung schien ihn für sie eingenommen zu haben, denn als sie sich verabschiedete, forderte er sie geradezu herzlich auf wiederzukommen.

Und das tat sie. Irgendwie gelang es ihr, Mrs. Hopkins zu überzeugen, dass der Alte zweifellos ein Einsiedler und etwas sonderbar, aber ganz gewiss nicht verrückt sei.

Also durfte Annie trotz Tante Crockers klar und deutlich geäußerter Missbilligung den «Einsiedler von Brewster» besuchen, und nicht nur einmal, sondern viele Male während dieses und des nächsten Sommers. So entwickelte sich eine Freundschaft, an die Annie ihr ganzes Leben dachte – eine Freundschaft zwischen dem jungen Mädchen und dem alten Mann, der wahrscheinlich einsamer war, als er zugeben mochte. Er erzählte ihr Geschichten aus den Tagen seines abenteuerlichen Lebens als Seemann, doch der Frage nach seinem Namen wich er immer aus. Schließlich nannte Annie ihn «Captain Dad», und er sagte «Tochter» zu ihr. Er erwies ihr die Ehre, sie in seinem kleinen Boot mit hinaus aufs Meer zu nehmen, entweder zum Fischen oder um die Felsenhöhlen der Steilküste zu erforschen. Aber das Bild, das ihr am lebhaftesten in Erinnerung blieb, war das von Captain Dad mit seinen «Freunden».

Sie war neugierig, warum jemand, der so intelligent, wach und humorvoll war wie Captain Dad, durchaus als Einsiedler leben wollte. Das fragte sie ihn eines Tages ganz offen. Captain Dad brummte: «Zu viel Geschwätz überall. Zu viele Leute. Weibervolk!» Angewidert stieß er das letzte Wort hervor.

«Aber fühlen Sie sich denn nie einsam?», bohrte das Mädchen weiter. «Brauchen Sie denn keine Freunde?»

«Hab Freunde. Viele. Die haben Federn. Und sind nich’ unzuverlässig wie die menschlichen Freunde. Sind sie nich’, danke! Kommen immer, wenn ich’s will. Brauch’ nur rufen – und sie kommen.»

Annie fühlte, wie ihr Herz vor Aufregung heftig klopfte. Sie ahnte, dass das etwas Einzigartiges sein musste. Eifrig beugte sie sich vor. «Oh, bitte, ich möchte sie sehen, Captain Dad! Können Sie sie nicht mal rufen, wenn ich hier bin?»

Entschieden schüttelte der Alte seinen weißen Kopf. «Nein, sie würden sich vor dir fürchten! Sie sind nich’ an Besuch gewöhnt, vor allem nich’ an Weibervolk. Sie würden sich vor dir zu Tode fürchten!»

«Woher wollen Sie das denn wissen?», fuhr Annie auf, «die haben mich doch noch nie gesehen?»

Captain Dad zog an seiner Pfeife und blickte sie grimmig an. Dann blinzelte er nachdenklich zum Himmel und lachte leise. Wahrscheinlich imponierte ihm ihre Beherztheit, und sie war so ein reizendes kleines Ding, wie sie da auf dem Sand saß mit ihrem vor Eifer leuchtenden Gesicht. Er klopfte seine Pfeife an der hölzernen Bank aus und stand auf.

«Bleib ganz still sitzen, hörst du, was auch immer geschieht. So wie wenn wir fischen!» Annie nickte stumm, ihr Kinn auf die Hände gestützt. Der Alte verschwand in seinem Schuppen und tauchte mit einem Eimer auf, in dem, wie er sagte, «Leckerbissen für seine Freunde» waren, und die bestanden aus Seetang, grobem Mehl und Fisch. Annie erzählte später, wie er dann «seltsam gurrende Laute von sich gab, erstaunlich laut, aber nicht misstönend». Captain Dad brauchte nicht zu befürchten, dass sie sich bewegen würde, denn Annie saß da wie gebannt und beobachtete fasziniert, wie schon beim ersten Laut Tausende von Möwen aus allen Richtungen erschienen, wie sie über ihm ihre Kreise zogen, sich drehten und wendeten, herabstießen und ihm mit ihrem hohen, schrillen Geschrei antworteten; immer weitere kamen herbei, sie ließen sich auf seinem Kopf, seinen Händen, seinen Schultern nieder und suchten seine Aufmerksamkeit zu erringen.

«Wie viele mögen das wohl sein?», flüsterte Annie vor sich hin. Es schien, als seien es viele Tausende. Der ganze Strand war dunkel von ihnen. Captain Dad redete mit ihnen, schalt sie, wenn sie zu gierig waren, und ermunterte die kleineren und schwächeren Möwen, bis schließlich das ausgestreute Futter aufgepickt war und auch die letzte Möwe zögernd ihre Schwingen ausbreitete und über das Meer davonflog.

Noch einige Male danach war es Annie vergönnt, dieses Schauspiel zu sehen, und jedes Mal war sie ergriffen von der Schönheit und Majestät des Anblicks.

Wie Glanzlichter hoben sich die Nachmittage, die Annie mit Captain Dad verbrachte, aus ihren Ferien heraus, obwohl alles, was mit Brewster zusammenhing, sich tief in ihr Herz eingeprägt hatte.

Und dies war nun ihr dritter (und vielleicht letzter!) Sommer am Cape. Als sie eines Nachmittags im August nach ihrem einsamen Bad eilig den Strand entlanglief, wurde sich Annie klar darüber, dass ihr gerade in diesem Jahr der Aufenthalt hier besonders gut getan hatte. Brewster war ein sehr heilsamer Ort für jemanden, dessen Gemüt ein einziges wirres Knäuel aus Fragen und Zweifeln, Furcht und Ehrgeiz darstellte. Nicht dass sie eine Antwort gefunden hätte auf die Frage, was sie tun könnte, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, aber ihre Gedanken wirbelten nicht mehr wie in einem Kaleidoskop herum; es fiel ihr leichter, Mut zu fassen und ihre Gedanken in den Griff zu bekommen, besonders hier am Meeresstrand.

Das Meer! Sie fühlte sich dieser Naturgewalt verwandt, die immer in Bewegung war, immer ruhelos, immer von Neuem schön. Sie betrachtete das Gekräusel der Brandungswellen mit ihrem ständig aufgischtenden weißen Schaum und ließ ihren Blick über die weite, grenzenlose Bläue schweifen. Das Meer in seinen Stimmungen war wie sie, manchmal fröhlich, manchmal sanft und dann wieder grau und von erbarmungslosem Zorn. Und wie herrlich war es, die Wogen an ihren Körper branden zu spüren! Das verlieh ihr wie sonst nichts ein Gefühl von Stärke und Selbstvertrauen.

Und starken Mut und Selbstvertrauen hatte sie jetzt nötig, wenn sie daran dachte, dass zwar das Ende des Augusts in Sicht war, nicht aber eine Lösung für Annie Sullivans Zukunft!

Oh, sie hatte «verschiedene Fische am Köder», wie Captain Dad es genannt hätte. Einer der Lehrer von Perkins hatte geschrieben, er habe von einer Dame gehört, die vielleicht ein Kindermädchen für ihre zwei Kinder brauche, aber das war ganz unsicher. Jemand anderes hatte gehört, dass ein Bostoner Hotel eine Tellerwäscherin suche – bei dem Gedanken daran schüttelte sich Annie! Miss Mary Moore schrieb, dass sie hoffte, Annie könne sich dazu entschließen, Lehrerin an einer normalen Schule zu werden; und Mr. Anagnos hatte hinzugefügt, er wolle versuchen, für diese Ausbildung eine finanzielle Unterstützung zu bekommen. Annie verabscheute die Vorstellung, ihr ganzes Leben ABC-Schützen zu unterrichten, und der Gedanke, Geld borgen zu müssen, war ihr verhasst. Sie hatte schon daran gedacht, von Haus zu Haus zu gehen und Bücher zu verkaufen, aber eine ihrer Mitschülerinnen, die das versucht hatte, überzeugte sie davon, dass dies das Schlimmste sei, was man tun könnte.

Es war ein sehr ernüchtertes Mädchen, das da durch den Garten auf Tante Crockers Haus zuging. Mrs. Hopkins rief ihr von der Küche her zu:

«Hier ist ein Brief für dich, Annie. Ich habe ihn auf den Schreibtisch gelegt. Von Mr. Anagnos.»

Ein Brief von Mr. Anagnos? Aus einem ihr nicht erklärlichen Grund zitterten ihre Hände, als sie den ungewöhnlich dicken Umschlag erblickte. Mit unbeholfenen Fingern öffnete sie den Brief. Zwei weitere Umschläge fielen heraus, die, wie sie sah, an Mr. Anagnos adressiert waren. Endlich gelang es ihr, den beigefügten einzelnen Bogen zu entfalten, aber vor Aufregung konnte sie nur verschwommen sehen, sodass ein paar Minuten vergingen, ehe sie in der Lage war, ihn zu lesen. Ihr Atem flog.

26. August 1886

«Meine liebe Annie,

bitte lies die beiden beiliegenden Briefe sehr sorgfältig und lass mich sobald wie möglich wissen, ob du geneigt bist, das Angebot der Familie Keller, als Erzieherin ihrer kleinen taubstummen und blinden Tochter zu kommen, wohlwollend in Erwägung zu ziehen. Über Ruf und Vertrauenswürdigkeit des Mannes ist mir nichts Weiteres bekannt, als was er selbst von sich schreibt: Aber wenn du dich entschließen würdest, dich um diese Stellung zu bewerben, wird es ein Leichtes sein, nähere Einzelheiten in Erfahrung zu bringen.
Ich bin, liebe Annie, mit freundlichen Empfehlungen an Mrs. Hopkins,
und besten Grüßen,
M. Anagnos»

Annies Herz schlug wie ein Hammer. Ihre Finger fühlten sich taub an, als sie die beiden Briefe in der Hand hielt, die unterzeichnet waren mit «Arthur Keller, Tuscumbia, Alabama». Sie las sie zweimal. Und als sie sie wieder in die Umschläge steckte, waren die Ängste, die sie seit dem Juni niedergedrückt hatten, und die innere Last verschwunden. Annie hatte ihre Lebensaufgabe gefunden.

Hier kam etwas Neues auf sie zu, etwas Andersartiges, eine Herausforderung!

Aufgeregt wirbelte Annie durch das Haus, in die Küche und in die Arme von Mrs. Hopkins. Sie konnte nicht sprechen. Sie konnte nur den Brief von Mr. Anagnos vor Mrs. Hopkins’ erstaunte Augen halten. Dann plötzlich lachten und weinten beide gleichzeitig, und Annie sagte immer wieder und wieder: «Das ist etwas, was ich tun kann. Ich weiß, dass ich das kann. Ich weiß es.»

Die Reise nach Tuscumbia

So angestrengt sie auch umherspähte, Annies kurzsichtige Augen konnten Mr. Anagnos’ freundliches, bärtiges Antlitz oder Mrs. Hopkins’ flatterndes Taschentuch inmitten der vielen verschwimmenden Gesichter, die sich da auf dem schneebedeckten Bostoner Bahnsteig befanden, nicht ausmachen; aber sie wusste, dass sie noch da waren und warten würden, bis der Zug abfuhr. Fest umklammerte sie die Armlehnen ihres roten Plüschsitzes und wehrte sich mit aller Gewalt gegen den schier unwiderstehlichen Drang aufzuspringen, durch den Wagen zu eilen, die Trittbretter hinunterzuspringen und zu rufen: «Wartet! Wartet doch! Ich will nicht nach Alabama! Bitte helft mir doch, etwas in Boston zu finden!»

Und dann ruckte der Zug an, und der erste Abschnitt von Annies langer Reise, die sie ihrem Schicksal entgegentrug, hatte begonnen. Plötzlich erschauerte sie trotz ihrer dicken grauen Wollkleidung. Alle Mädchen ihrer Gruppe sowie die gesamte Lehrerschaft hatten sich heute Morgen um sie gedrängt, hatten ihren Mut bewundert und das Abenteuer bestaunt, das vor ihr lag, ebenso wie das – wie Mr. Anagnos sagte – «großzügige Gehalt», das sie bekommen würde, ganze fünfundzwanzig Dollar im Monat! Und Annie hatte mitten unter ihnen gestanden, in ihren neuen grauen Kleidern, mit leuchtend roten Bändern an der grauen Haube, und hatte aufgeregt gelacht. Eine strahlende Vision schwebte vor ihr: Annie Sullivan, die tapfere, junge Kreuzfahrerin, die auszieht, um ein scheues, ängstliches kleines Mädchen aus dem Kerker seines tauben und blinden Daseins, aus seiner Unwissenheit zu befreien. Und dieses strahlende Bild hatte sie weiter vor Augen, während Mrs. Hopkins sie zum Fahrkartenschalter begleitete, um ihr beim Kauf der verwirrend großen Anzahl von Fahrscheinen nach Tuscumbia, Alabama, zu helfen, und Mr. Anagnos den geheimnisvollen Vorgang der Gepäckaufgabe überwachte.

Diese Vision dauerte an, bis sie ihren Platz eingenommen hatte und der Augenblick des Abschieds von den beiden Menschen gekommen war, die Annie die erste Freundlichkeit erwiesen hatten, die ihr in dieser Welt widerfahren war. Dann aber begann Mrs. Hopkins zu weinen, als sie das Mädchen umarmte, und Mr. Anagnos’ Stimme wurde plötzlich verdächtig heiser.