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Any Cherubim

YOU & ME - Ein neues halbes Leben

Liebesroman


Für Shelly


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Prolog

 

Sieben Monate zuvor ...

 

 

 

»Sie können bei mir mitfahren. Zu unserer Werkstatt ist es nicht weit«, sagte der Fahrer vom Abschleppdienst, während er die Auffahrrampe per Knopfdruck wieder hochfahren ließ.

Etwas nervös kletterte ich in den Schlepper. Bis jetzt hatte mein Plan funktioniert und der Mann schöpfte keinen Verdacht. Er stieg neben mir ein und startete den Motor.

Es war wirklich nicht weit bis nach Ghent, dem verschlafenen Nest mitten im Nirgendwo. Aber wenn Aidan mir sein Auto nicht ausgeliehen hätte, dann wäre mein Vorhaben allein schon an der Strecke von New York City nach Ghent gescheitert. Ich vermisste mein altes Auto, das ich leider verkaufen musste.

»Sie sind nicht von hier, oder?«, wollte er wissen, als wir die Landstraße entlangfuhren.

»Äh, nein. Ich komme aus New York.«

»Und wo wollen Sie hin?«

»Nach Claremont. Ich besuche da jemanden«, sagte ich und war froh, auf all seine Fragen eine Antwort parat zu haben. Vorbereitung und Organisation waren eben alles.

»Dann haben Sie ja Glück. Auf der Strecke gibt es nicht sehr viele Werkstätten.« Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und nahm dabei seine Schildmütze ab. Lichtes, graues Haar und eine Halbglatze kamen zum Vorschein.

»Jetzt hoffe ich nur, dass Alex noch einen Ersatzreifen hat.«

Das hoffte ich auch, aber selbst wenn nicht, wäre das kein Beinbruch. Wichtig war, in die Werkstatt zu kommen und seinen Sohn zu sehen.

Auf dem Armaturenbrett herrschte ein Durcheinander. Papier, ein Schraubenzieher, weiteres Werkzeug, bei dem ich keine Ahnung hatte, wofür man es gebrauchen konnte, und allerlei andere Dinge lagen unordentlich über die gesamte Breite verteilt. Mum mit ihrem Sauberkeitsfimmel hätte hier sofort aufgeräumt.

Er schaltete das Radio ein. »Ich hoffe, ein wenig Musik stört Sie nicht.«

»Nein, nur zu!«

Musik ertönte in der Fahrerkabine und erst jetzt entdeckte ich ein Foto auf dem Armaturenbrett, welches schon etwas mitgenommen aussah.

Zwei Teenager lachten in die Kamera. Sie sahen glücklich und unbeschwert aus. Natürlich wusste ich, wer die beiden waren. Alexander und Jess Holding – seine Kinder.

»Wie heißen Sie?«, lockte er mich aus meinen Gedanken.

»Green, Lisa Green. Nennen Sie mich einfach Lisa.« Ich lächelte ihm zu.

»Okay, Lisa. Falls mein Sohn den Reifen nicht vorrätig hat, dann können Sie in Magrets kleiner Pension übernachten. Spätestens morgen sollte der Reifen dann montiert sein.«

Damit hatte ich schon gerechnet. Es war Wochenende und Neil hatte mir freigegeben. Endlich hatte sich mal eine Gelegenheit geboten, meine Überstunden abzubauen.

Ich nickte einverstanden. »Sind das Ihre Kinder, Mr. ...?«

»Holding, aber sagen Sie Ben zu mir.« Er grinste. »Und ja, das sind meine Kinder. Da waren sie jünger. Inzwischen hat mein Sohn Alex die Werkstatt übernommen und wohnt zusammen mit seiner zukünftigen Frau Melissa bei mir. Jess studiert.« Stolz schwang in seiner Stimme mit.

Ich wunderte mich, wie freizügig er solche privaten Details erzählte. Schweigend fuhren wir am Ortsschild Ghent vorbei und ab jetzt war es wichtig, mit Fingerspitzengefühl an die ganze Sache heranzugehen.

Ben lenkte den Schlepper in eine Hofeinfahrt. In großen Buchstaben stand der Name Holding über der Werkstatt. Ein paar Autos standen verlassen auf dem Hof und Ben wirbelte ein wenig Staub auf, als er neben dem Gebäude abbremste.

»So, da wären wir. Ich mache mich sofort an die Arbeit.«

Wir stiegen aus, und während Ben mein Auto vom Schlepper ließ, sah ich mich um. Aidan würde mir wahrscheinlich den Hals umdrehen, wenn er von der absichtlich herbeigeführten Panne erfahren würde. Bei dem Gedanken an sein entsetztes Gesicht grinste ich.

Aus der Werkstatt ertönte ein Countrysong und die Motorhaube eines Cabriolets stand offen.

»Du bist wunderschön, Mel!«

»Du findest mich schön? Also wirklich, Alex! Entweder brauchst du dringend eine Brille oder du verwechselst „schön“ mit „fett“!«

»So ein Unfug! Für mich bist du die schönste Frau auf der Welt. Ganz ehrlich!«

Ich trat näher. Dann hörte ich Gekicher, ein lautes Schmatzen und kurz darauf ein leises Stöhnen.

»Nicht hier, Alex. Dein Vater ist doch gerade gekommen und ich will nicht, dass er ...«

Ups! Wie immer war mein Timing perfekt. Ich schaffte es mal wieder, in die unmöglichsten Situationen zu stolpern.

Ich war total aufgeregt und mein Gewissen meldete sich, was ich gleich abzustellen versuchte.

Jetzt stand ich nur noch ein paar Schritte von Alexander Holding entfernt, während mein Herz zerspringen wollte.

Ich räusperte mich. »Äh, hallo?«

Ein Männerkopf erschien. »Oh, entschuldigen Sie bitte.«

Ein junger Mann erhob sich und stieg aus dem Auto aus. Er hatte blondes, etwas durcheinander gewirbeltes Haar. Hektisch ordnete er es und lächelte dabei peinlich berührt.

Er hatte sich nicht sehr viel verändert. Er war lediglich erwachsen geworden. Sein blauer Overall stand bis zum Bauchnabel offen, ein paar Brusthaare schauten hervor. Er zog den Reißverschluss zu.

Sofort fielen mir die kleinen Narben auf seinem linken Handgelenk auf. Als er meinen Blick bemerkte, legte er seine Hände hinter den Rücken.

Er lächelte mich aber dennoch freundlich an. Ich sollte etwas sagen, sonst würde es unangenehm werden.

»Hi. Ich hatte eine Reifenpanne und Ihr Vater hat mich von der Landstraße aufgegabelt, da ich leider keinen Ersatzreifen dabei hatte.«

Jetzt kam auch die junge Frau zum Vorschein. Sie war hübsch. Ihr langes, braunes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ihre Wangen waren leicht gerötet. Mein Blick wanderte zu ihrem Bauch und vor Überraschung bekam ich keinen Ton heraus. Sie war schwanger. Siebter Monat, vielleicht auch schon weiter. Mit Schwangerschaften kannte ich mich nicht aus, aber ihr dicker Bauch war deutlich sichtbar.

»Okay, dann lassen Sie uns mal Ihren Wagen ansehen«, unterbrach er die Stille.

Er drehte sich zu ihr. »Pause beendet, Schatz.«

»Sieht ganz so aus«, sagte sie lächelnd, nickte mir zu und verschwand durch eine Tür im Inneren der Werkstatt.

»Dann wollen wir mal sehen, wo genau das Problem liegt«, meinte er und lief an mir vorbei – ich ihm hinterher. Irgendwie hatte ich mir unsere erste Begegnung anders vorgestellt. Ich war gut vorbereitet, aber die Tatsache, dass er bald Vater werden würde, erschütterte mich. Es brachte mich so durcheinander, dass ich mich nicht traute, nach den Briefen zu fragen. Ein Baby! Verdammt! Ratlos sah ich zu, wie er zu meinem Wagen ging. Meine Hände ballten sich zu Fäusten und meine Nägel bohrten sich in mein Fleisch. Ich schluckte, schloss meine Augen und riss mich zusammen.

Es war eine blöde Idee gewesen, hierher zu kommen. Vielleicht hatte Alex die Vergangenheit hinter sich gelassen, die Sache vergessen und ein für alle Mal damit abgeschlossen?

Er schien glücklich, er würde Vater werden. Ich wollte nicht diejenige sein, die die Schatten unserer Vergangenheit wieder ins Licht zerrte.

»Mrs. Green? Sie haben Glück. In einer halben Stunde können Sie Ihre Fahrt fortsetzen.«

Ich zuckte zusammen, als mich sein Vater aus meinen Gedanken riss. Ich nickte ihm zu und fasste den Entschluss, Alex wenigstens unauffällig ein paar wichtige Informationen zu hinterlassen, damit er nicht völlig aus allen Wolken fiel, wenn er es erfahren würde.

Kapitel 1

Lisa

 

Heiß und stickig spürte ich seine sanfte Stimme an meinem Ohr. Er hielt mich im Arm, wiegte mich wie ein Baby hin und her. Mein Herz raste und mein Blut pulsierte, während er leise auf mich einredete. Ich schmeckte Blut, vermischt mit Tränen. Mein Nacken brannte wie Feuer und in der Luft hing der Geruch von verkohltem Fleisch – meinem Fleisch.

Es waren fürchterliche Schmerzen – körperlich wie seelisch. Nichts vermochte sie zu lindern, außer vielleicht der Tod.

Es waren grausame, schreckliche Bilder, die ich nicht vergessen konnte. Unweigerlich tauchten sie aus dem Nichts auf. Ich war in ihnen gefangen, konnte alles erneut fühlen. Verzweifelt versuchte ich, sie von mir zu drängen, sie so klein wie möglich zu halten – doch ich war machtlos, durchlebte immer wieder das gleiche Szenario.

Jemand räusperte sich. »Mrs. Green?«

Mit aller Kraft stieß ich die Erinnerungen von mir. Meine Hände ballten sich zu Fäusten, ich schluckte meine aufkommenden Tränen herunter und zwang mich, aufzusehen.

Ein schlanker Typ mit Schlapphut und Trenchcoat riss mich aus meinen Gedanken. Er war vom Regen durchnässt.

Es tat gut, in dieses fremde Gesicht zu blicken. Dadurch wusste ich, dass es vorbei und ich in Sicherheit war. In diesem Augenblick war ich ihm so dankbar! Mit seinem Auftauchen beendete er diesen Albtraum und ich war wieder in der Gegenwart, in New York, mitten in Manhattan, in einem kleinen Restaurant, in dem ich mit dem Typen verabredet war.

»Sind Sie Mr. Barlow?«

Er nickte, schob einen Stuhl zurück und setzte sich.

»Es tut mir leid, dass es etwas länger gedauert hat. Diesmal haben wir ihn gefunden.« Er zog einen weißen Umschlag heraus und legte ihn auf den Tisch. Langsam schob er ihn mir entgegen.

Mein Magen flatterte, ich konnte meinen Blick nicht von dem Briefkuvert abwenden. Würde ich jetzt endlich eine Antwort auf meine Fragen erhalten?

Meine Finger griffen nach dem Umschlag und öffneten ihn.

Mr. Barlow lehnte sich zurück und gab mir Zeit, den Inhalt durchzusehen.

Es waren Fotos, sie zeigten einen jungen Mann. Mein Herz raste, als ich ihn mir genauer ansah.

Er hatte dunkle, kurze Haare und ein hübsches Gesicht. Er trug ein weißes T-Shirt und ausgeblichene Jeans. Unter den Ärmeln seines Shirts ragten Tattoos hervor, genau erkennen konnte ich die schwarzen Tribals jedoch nicht. Er schien viel Sport zu treiben, war muskulös und breit gebaut.

Auf einem der Abzüge lächelte er, es war ein schönes Lächeln, welches sein ganzes Gesicht einnahm – nur seine braunen, dunklen Augen blieben geheimnisvoll. Ich wusste, was er zu verbergen versuchte.

Die Bilder zeigten ihn in einer Bar, er stand dort hinter dem Tresen und wusste nicht, dass er fotografiert wurde.

»Sein Name ist Liam Norris. Er arbeitet in einer Kneipe namens Maboo, nicht weit vom Central Park, auf der Upper Eastside. Er lebt allein«, sagte Mr. Barlow.

»Ich kenne das Maboo«, murmelte ich und betrachtete sorgfältig alle Fotos.

Eine Kellnerin trat an unseren Tisch und zückte ihren Bestellblock.

»Äh ... für mich nichts, danke!«, winkte Mr. Barlow ab und sah mich erwartungsvoll an, während die Kellnerin mürrisch verschwand.

»Oh, natürlich!« Der Privatdetektiv wartete auf sein Geld. Schnell steckte ich die Bilder in das Kuvert zurück und verstaute dieses in meiner Handtasche. Dabei zog ich meinen Umschlag heraus und schob ihn Mr. Barlow zu. Viele Monate hatte ich meine Trinkgelder zusammengespart, um an diese Informationen zu gelangen. »Ist alles drin. Ich habe es mehrfach gezählt. Sie können gerne nachsehen.«

»Ich vertraue Ihnen«, sagte er, nahm den Umschlag an sich und steckte ihn in die Innentasche seines Trenchcoats. »Vielen Dank. Wenn Sie unsere Hilfe wieder einmal benötigen, dann ...«

»... dann melde ich mich«, vervollständigte ich seinen Satz. Er erhob sich, nickte mir grüßend zu und verließ das Restaurant. Vom Fenster aus sah ich ihm nach, wie er in den Regen verschwand.

Liam Norris. Er arbeitete also im Maboo. Mit Hannah war ich schon einmal dort gewesen. Es war ein komisches Gefühl, ihm so nahe gewesen zu sein, ohne es gewusst zu haben.

Liam Norris. Das war nicht sein richtiger Name, so, wie Lisa Green nicht meiner war.

Ich wollte meinen wahren Namen in New York nicht behalten, konnte ihn nicht ertragen. Es gab zu viele Menschen, denen sich mein wahrer Nachname ins Gedächtnis gebrannt hatte. Mit Lisa Green konnte ich in New York leben, niemand würde mich erkennen und so konnte ich mich ungestört auf die Suche nach ihm – Liam Norris – machen.

Kapitel 2

Lisa

 

Es war niemals leicht gewesen, Laura Melory zu sein. Ein Teil meiner Seele war zersprungen und mein Herz war an dieser Sache zerborsten.

Zu Hause in Little Falls kannten alle meinen richtigen Namen – und meine Vergangenheit. Dort war ich aufgewachsen, hatte eine unbeschwerte Kindheit und eine glückliche Familie gehabt. Bis zu dem Tag, an dem sich unser ganzes Leben verändert hatte.

Eine unsichtbare Barriere war zwischen den Mädchen in meiner Klasse, den Menschen in Little Falls und meiner Familie entstanden. Niemand gab mir die Schuld, aber ich wusste, dass alle über mich sprachen und schnell ein Lächeln aufsetzten, sobald ich ihre Blicke bemerkte.

Ich hatte tausend Fragen, auf die niemand eine Antwort wusste – selbst Mum nicht. Sie wollte nicht darüber sprechen, schwieg von dem Tage an, an dem man ihn verurteilt hatte.

Sie versuchte stark zu sein und mir Halt zu geben. Oft hörte ich, wie sie in die Kissen weinte.

Ich träumte davon, fortzugehen, alles hinter mir zu lassen und ein anonymes Leben zu führen.

Schließlich hielt ich es nicht mehr länger aus. Ich musste raus, sehnte mich nach der Ferne, die mich alles vergessen lassen könnte.

Mir konnte niemand helfen, egal, wie viele Stunden Mum mich in eine Therapie steckte. Ich war nicht fähig, ein normales Leben zu führen, und je älter ich wurde, desto schlimmer fühlte ich mich.

Der Tag, an dem ich nach New York zog, war für Mum schlimm. Sie glaubte, versagt zu haben, meinte, ich würde sie verlassen. Anfangs versuchte sie, mir die Idee von einem Architekturstudium in dieser riesigen Stadt auszureden. Sie hatte Angst um mich. New York war groß und ich allein.

Aber als ich im Briefkasten die Teilstipendiums-Zusage fand, war ich fasziniert von der Vorstellung, endlich jemand anderes zu sein. Dort war ich eine von vielen – Lisa Green, Studentin, Kellnerin – und frei. Etwas Neues würde beginnen.

Ich schnitt mein dunkles Haar, färbte es hellblond, änderte meinen Kleidungsstil und meinen Namen. Ich fühlte mich wie ein neuer Mensch. Wenn ich in den Spiegel sah, erkannte ich mich kaum wieder. Genau diese Veränderungen machten mein Leben in New York leicht. Little Falls hinter mir zu lassen, war das Beste, was ich je getan hatte. Ich war sicher, dass der »Skinburner von Little Falls« mich hier niemals finden könnte.

 

***

 

Es war kurz vor Mitternacht, als ich die Straße zum Maboo entlanglief. Von weitem strahlte mir die Beleuchtung des Clubs entgegen. Ich war nervöser als sonst, denn heute würde ich Liam folgen.

Nachdem der Privatdetektiv mir endlich die Bilder gegeben hatte, brauchte ich einen ganzen Monat, um meinen Mut und meine Entschlossenheit wiederzufinden. Leider war Liam in der Zwischenzeit umgezogen. Bei der Adresse, die der Privatdetektiv mir gegeben hatte, war er nicht mehr anzutreffen. Erst letzte Woche hatte ich Liam das erste Mal aufgesucht und ihn heimlich beobachtet. Seitdem tat ich das öfters, um herauszufinden, wo er nun wohnte.

Im Halbdunkeln blieb ich direkt auf der anderen Straßenseite stehen. Das schäbige Gefühl, ihn wie eine Stalkerin zu beobachten, musste ich abschütteln und überquerte die Straße. Sein Gesicht hatte sich in mein Gedächtnis gebrannt und ich war mir sicher, ihn unter Tausenden von Männern erkennen zu können.

Eine Weile blieb ich an der Hausmauer vom Maboo stehen. Leute gingen an mir vorbei, achteten nicht auf mich.

Auf Zehenspitzen blickte ich durch das Fenster der Bar, das durch die Wärme von innen leicht beschlagen war. Das Licht war gedämmt und der Bass dröhnte in meiner Brust. Wie erwartet war das Maboo auch an diesem Freitagabend gut besucht.

Der Wind wehte eisige Luft durch die Straße, meine Finger waren schon ganz rot vor Kälte und meine Zehen konnte ich kaum noch spüren. Meine Güte! Ich würde mir den Tod holen, und gerade jetzt konnte ich mir eine Erkältung wegen des Studiums nicht leisten. Aber meine Enttäuschung darüber, dass ich ihn noch nicht entdeckt hatte, ließ mich weiter ausharren.

Und dann konnte ich ihn für einen kurzen Moment sehen. Er stand hinter dem Tresen und unterhielt sich mit einer jungen Frau.

In den letzten Tagen, während ich ihn beobachtet hatte, war mir klar geworden, dass er kein Kind von Traurigkeit war. Oft wurde er von jungen Frauen begleitet, die es eindeutig auf ihn abgesehen hatten.

In ein paar Minuten müsste er Feierabend haben und mit ein bisschen Glück würde er sein Spielzeug für die Nacht mit nach Hause nehmen. Ungestört könnte ich ihm dann folgen und so herausfinden, wo er wohnte.

Vorsichtig sah ich mich um und versteckte mich hinter einem Müllcontainer am Hintereingang vom Maboo. Hier roch es wirklich eklig, aber wenn ich Liam unbemerkt folgen wollte, dann musste ich diesen Gestank aushalten.

Nach ein paar Minuten öffnete sich die Hintertür, ein Typ mit blonden Haaren trat heraus und zündete sich eine Zigarette an. Nachdenklich blies er den Rauch in den Nachthimmel.

Auch ihn hatte ich schon öfters hier, in der Bar gesehen und ich vermutete, dass ihm der Club gehörte.

Ein weiteres Mal glitt die Tür auf und Liam erschien.

Er zog seine Lederjacke an und versuchte, die Kälte zu vertreiben, er pustete in seine Hände pustete. Doch wo war die Frau, die ich bei ihm gesehen hatte? Wollte er etwa die Nacht heute alleine verbringen? Falls dies sein Plan war, dann würde er damit meinen durcheinanderbringen.

»Alles klar, Liam?«, fragte der Typ und drückte seine Zigarette auf dem Teerboden aus. »Wo ist die Kleine?«

»Ich hab sie nach Hause geschickt«, antwortete Liam. Seine Stimme klang angenehm tief und ein sanfter Unterton schwang mit, der mir eine Gänsehaut bescherte.

Der Typ lachte. »Auch der mächtigste Stier braucht mal eine Pause.«

»Du sagst es«, lachte Liam, klopfte ihm auf die Schulter und machte sich auf den Weg.

»Bis morgen!«

Mein Blick folgte ihm, Meter für Meter entfernte er sich. Ich saß fest. Der Typ sah ihm hinterher und drehte sich nur langsam zum Eingang, Liam war schon fast außer Sichtweite.

Die Tür fiel hinter dem Typen ins Schloss und ich rannte los. Hoffentlich hatte ich ihn jetzt nicht verloren!

Als ich die Hauptstraße erreichte, blickte ich nach allen Seiten und konnte ihn gerade noch zwischen ein paar Leuten entdecken. Ich beeilte mich und holte auf.

Ein wenig außer Atem verlangsamte ich meine Schritte, schließlich wollte ich nicht auffallen. Mit einem größeren Abstand folgte ich ihm Richtung Port Morris. Wo in aller Welt wollte er hin?

Wir verließen das von Nachtschwärmern belebte Viertel, somit war ich gezwungen, den Abstand zwischen uns wieder zu vergrößern, damit er mich nicht bemerkte.

Nach weiteren Minuten betrat Liam ein Flachdachgebäude. Auf einem Schild stand:

 

»Mendez Fleischfabrik«

 

Was wollte er denn hier?

Ich lief die Seitenstraße entlang, bis ich auf den großen Hof blicken konnte. Es war mehr eine Lagerhalle. Gabelstapler beluden Lastwagen auf der anderen Seite der Halle und ein paar Männer schleppten schwere Säcke. Ich war mir nicht sicher, aber ich glaubte, Liam darunter zu erkennen.

Ich versuchte, näher heranzukommen. Schließlich gelangte ich an einen Zaun, der das Grundstück dieser Firma begrenzte und mir den weiteren Zutritt versperrte. Ich versteckte mich hinter einem Container, die Gefahr, entdeckt zu werden, war groß, denn nicht weit von mir entfernt war Liam. Seine Lederjacke hatte er ausgezogen und nur in T-Shirt und Jeans half er, Säcke abzuladen.

Ich fröstelte bei seinem Anblick. Er schuftete wie ein Verrückter. Kein Wunder, dass ihm heiß war.

Eine Weile sah ich ihm noch dabei zu, beschloss aber dann, es für heute gut sein zu lassen, und machte mich auf den Rückweg.

 

***

 

Die nächtlichen Touren machten sich langsam unter meinen Augen bemerkbar und morgens kam ich immer schlechter aus den Federn. Zweimal war ich diese Woche schon zu spät zu meinem Kurs erschienen, was mir Sorgenfalten von Aidan und missbilligende Blicke von meinen Professoren einbrachte.

Leise betrat ich den Hörsaal und huschte schnell zu meinem Platz. Ich war so froh, dass Prof. Waterly seinen Vortrag nicht unterbrach, sondern mein Erscheinen einfach ignorierte.

»Das ist nicht dein Ernst, Lisa«, flüsterte mir Aidan zu, als ich mich leise neben ihn setzte. »Schon wieder? Ich glaube, du schuldest mir eine Erklärung.«

Ich zog die Unterlagen aus meiner Tasche und hielt mitten in der Bewegung inne. »Wir sind kein Paar, Aidan. Also lass mich in Frieden, okay?« Ich richtete meinen Blick nach vorne zum Professor und versuchte, dem heutigen Thema zu folgen. Allerdings hinderte mich Aidan daran, aufmerksam den Worten von Prof. Waterly zu folgen.

»Ich meine es ernst. Was ist los mit dir? Du benimmst dich wirklich merkwürdig.«

Das Letzte, was ich wollte, war, Aidan zu belügen. Je weniger er wusste, desto besser.

»Nicht jetzt, okay?«

Lange ruhten seine Augen auf mir, dann gab er sich endlich geschlagen und sah wieder nach vorne. Aber ich wusste, spätestens nach dem Kurs würde ich ihm Rede und Antwort stehen müssen.

Prof. Waterly mühte sich noch die restlichen Minuten ab und ich musste leider erkennen, dass ich mir den morgendlichen Stress hätte sparen können. Ich kam kaum mit und verstand ehrlich gesagt nur Bahnhof.

Aidan packte seine Sachen zusammen und verließ nach dem Kurs den Saal. Eilig schnappte ich meine Tasche und lief ihm hinterher. »Aidan, warte!«, rief ich. Doch ich wusste genau, dass er sauer auf mich war. Natürlich hielt er nicht an.

»Mrs. Green? Hätten Sie kurz eine Minute?« Prof. Waterly stand vor dem Pult und sah mich ruhig und abwartend an.

Ich ließ die Schultern hängen. Enttäuscht und angespannt ging ich zu ihm.

»Ich weiß ... «, begann ich, als er seinen Mund öffnete und mit der Predigt anfangen wollte.

»Das glaube ich kaum, Mrs. Green.« Damit brachte er mich zum Schweigen.

»Ganz egal, was bei Ihnen gerade nicht stimmt, wenn Sie noch einmal meinen Kurs durch Ihr Zuspätkommen stören, werfe ich Sie raus. Haben Sie mich verstanden?«

»Ja, Sir!« Tausend Ausreden lagen mir auf der Zunge, doch sein strenger Blick vernichtete jede Notlüge.

Er nickte und signalisierte mir damit, dass unser Gespräch beendet war. Ich wollte gerade durch die Tür verschwinden, da rief er mich noch einmal.

»Ach, Mrs. Green?«

»Ja?«

»Nehmen Sie Ihr Studium wieder auf und konzentrieren Sie sich auf das Wesentliche. Sonst werden Sie nicht mehr lange ein Mitglied dieser Akademie sein.«

Puh, ich steckte wirklich in Schwierigkeiten!

Eilig machte ich mich auf den Weg zur Mensa. Mit einem Salat und einem Brötchen setzte ich mich an den Tisch, an dem Aidan und ich immer saßen.

Aidan blieb auch beim Mittagessen still. Er antwortete nur, wenn ich ihn etwas fragte.

Ich schob den Teller von mir. Der Appetit war mir vergangen. Wie groß würde mein schlechtes Gewissen noch werden? Ich mochte ihn, er war wirklich ein Freund.

Als ich damals an die Uni kam, freundeten wir uns schnell an, auch wenn es für mich neu und fremd war, ständig jemanden an meiner Seite zu haben, mit dem ich hauptsächlich über alltägliche Dinge sprechen konnte.

Er half mir beim Lernen und verbrachte mehr Zeit mit mir, als gut für ihn gewesen wäre. Wenn er meine wahre Identität kennen würde, würde er sich von mir zurückziehen und mich anstarren, wie alle anderen in Little Falls es bisher getan hatten. Allein der Gedanke daran schmerzte und deshalb war es wichtig, dass niemand jemals die Wahrheit erfuhr.

»Es tut mir leid«, versuchte ich ihn wieder versöhnlich zu stimmen.

Er sah auf, aber an mir vorbei. »Weißt du, ich bin nicht irgendjemand. Eigentlich dachte ich, wir sind Freunde. Und Freunde erzählen sich doch alles, oder?«

»Wir sind Freunde«, bestätigte ich mit Nachdruck.

»Davon bemerke ich aber nicht viel. Jedes Mal, wenn ich anrufe, erwische ich nur den Anrufbeantworter. Du rufst nie zurück. Ich leihe dir mein Auto und du erzählst mir noch nicht einmal, was du vorhast. Alle meine Einladungen lehnst du ab und du scheinst mehr Nächte unterwegs zu sein, als dir gut tun. Du kannst mir ehrlich sagen, wenn du jemanden kennengelernt hast.«

Ich senkte meinen Blick und fühlte mich schuldig. Er hatte recht. Ich war wirklich nicht fair zu ihm, aber ich hatte keine andere Wahl. Fieberhaft überlegte ich, wie ich es wiedergutmachen könnte.

»Nein, es ist nicht so, wie du denkst. Da ist niemand. Aber in letzter Zeit habe ich viel zu tun, verstehst du? Ich habe ein paar familiäre Probleme, über die ich nicht sprechen kann. Das alles hat nichts mit dir zu tun.«

Ich sah in sein Gesicht, hoffte, das würde ihn zufriedenstellen.

Warum hängte sich Aidan ausgerechnet an mich? Er sah gut aus, war witzig, charmant und ein einfühlsamer Typ. Eigentlich genau die Eigenschaften, die fast jede Studentin an einem Kerl suchte. Er war beliebt, wurde ständig zu irgendwelchen Partys eingeladen, hatte ganz eindeutige Angebote. Und was tat er?

Er vergeudete seine Zeit mit einer kaputten Seele wie mir.

»Na gut, dann beweise es und geh mit mir am Wochenende was trinken.«

Ich verzog den Mund und sah ihn schief an. Er würde nie aufgeben.

»Du kannst auch eine Freundin mitbringen, wenn du dich dann wohler fühlst.«

Und jetzt fand ich es schon wieder süß, dass er nichts unversucht ließ, nur um endlich ein „Ja“ von mir zu bekommen.

Ich nickte und schließlich breitete sich ein Strahlen über seinem Gesicht aus. Dann zog er einen Ordner aus seiner Tasche und kramte ein paar Blätter zusammen.

»Hier! Das solltest du nacharbeiten. Schreib es ab und bring mir die Unterlagen morgen wieder.«

Zögernd nahm ich die Papiere an mich. Ich war ihm so dankbar. Wie konnte ich das alles nur wiedergutmachen?

»Ich muss los, Süße.«

Bevor er aus meinem Blickfeld verschwand, rief ich ihm noch einmal hinterher.

»Aidan?«

Er drehte sich zu mir um.

»Danke«, formte ich tonlos.

Er zwinkerte mir lächelnd zu und ich war froh, dass sein Ärger verflogen war. Wie oft hatte er mir schon geholfen. Mir war klar, dass er sich eines Tages mehr versprach. Doch zu einer Liebesbeziehung mit ihm war ich einfach nicht fähig, auch wenn ich oft vorgab, die coole oder die selbstsichere Lisa zu sein. Im Grunde war ich Laura Melory – gebrochen und allein.

 

***

 

Zwei Stunden später stand ich nachdenklich vor meinem Briefkasten und ließ meine Gedanken zu dem Tag vor ein paar Monaten zurückwandern. Der Gang zum Briefkasten war eigentlich nichts Besonderes gewesen. Doch das sollte sich an diesem Tag ändern.

Schon der Umschlag und der Absender des Briefes, den ich aus dem Briefkasten zog, riefen Erinnerungen und alte Gefühle in mir wach, die ich mit Mühe und Not tief in mir vergraben hatte. Alles wurde wieder so präsent in meinem Kopf, dass ich scharf die Luft einsog und den Umschlag fallen ließ.

Er hatte mich ausfindig gemacht und das, obwohl er im Gefängnis saß. Bis heute fragte ich mich, wie er meine Adresse herausgefunden hatte. Niemand wusste, dass aus Laura Melory, Lisa Green geworden war, außer Tante Nancy, Mum und meinem Stiefvater Peter.

In mir zog sich alles zusammen, als ich heute ein weiteres Mal einen vertrauten Umschlag aus dem Briefkasten zog. Ich irrte mich nicht – gleicher Absender und Stempel. Ich brauchte ihn nicht zu öffnen, ich wusste auch so, welchen Inhalt er haben würde. Meine Nackenhaare stellten sich auf. Meine Gedanken spielten verrückt und ich musste ein paar Mal schlucken, bevor ich in der Lage war, den Umschlag in die Tasche zu stecken und die Stufen zu meiner Wohnung hinaufzulaufen.

Mein Anrufbeantworter leuchtete. Ich drückte auf den Abspielknopf und hörte die Nachrichten ab, während ich mich umzog.

Mimi, meine Katze, schlich dabei um meine Beine.

»Hi meine Süße!« Ich kraulte sie am Kopf, was sie besonders gerne mochte, und erkannte Tante Nancys Stimme.

»Ja, schon wieder ich. Wo steckst du denn? Und wieso meldest du dich nicht? Meine Güte! Eine Studentin wird doch noch ein wenig Zeit für ihre Tante übrig haben. Dein Job kann nicht stressiger sein als meiner!« Sie kicherte und fand den Vergleich wohl sehr witzig. »Ende der Nachricht piiieeep!«

Ich nahm Mimi hoch und setzte mich aufs Sofa.

»Zweite neue Nachricht«: »Äh, ja, ich bin‘s. Also, entweder schläfst du noch oder bist unterwegs. Ich meld mich wieder, wenn du in ein paar Minuten nicht aufgetaucht bist.«

Ich grinste, als ich Aidans Stimme erkannte. Gleich der nächste Anruf war auch von ihm.

»Also ehrlich, Lisa. Langsam mache ich mir wirklich Sorgen um dich. Ruf mich an, ja?«

Mimi schnurrte und ich schloss für ein paar Sekunden meine Augen. Ich musste eine Entscheidung fällen.

Es waren noch genau drei Monate und acht Tage, dann würde der berühmtberüchtigte Skinburner von Little Falls freikommen und seine Rache nehmen, so, wie er es angedroht hatte.

Sein Gesicht tauchte vor meinen Augen auf. Es war mir fremd und doch so vertraut. Seine Stimme konnte ich klar und deutlich hören und die Schmerzen, die er mir körperlich und seelisch angetan hatte, waren wieder so deutlich spürbar, dass ich mich automatisch auf dem Sofa einrollte und leise anfing zu weinen. Ich wollte einfach, dass das alles aufhörte!

Mein Nacken glühte, der Geruch nach verbrannter Haut existierte nur in meinem Kopf, doch alles fühlte sich wie damals an – das Zischen, die Glut, die den schrecklichen Schmerz verursacht hatte, als die ersten Hautschichten Blasen geworfen hatten. Der ganze Horror war wieder da, traf mich, als wäre er nie fort gewesen. Dieser Teil meines Lebens würde mich einholen.

In ein paar Monaten wäre er wieder frei und könnte das alles wieder tun – vielleicht noch Schlimmeres.

Damals hatte ich oft an den Tod gedacht. Es gab Zeiten, da glaubte ich, nur in ihm Frieden zu finden. Aber irgendwie schaffte ich es, mir meinen Lebenswillen zu erhalten.

Das Telefon riss mich aus meinen Gedanken und damit aus meiner quälenden Vergangenheit.

Für einen kurzen Augenblick erfasste mich die lähmende Angst, er könnte dran sein. Deshalb ließ ich es klingeln, bis der Anrufbeantworter ansprang.

Erleichterung durchströmte mich, als ich Hannahs Stimme erkannte.

Ich sprang auf und nahm den Hörer ab. Es tat so gut, ihre Stimme zu hören. Ich war durcheinander, unterdrückte ein Zittern.

»Hannah? Ich bin da«, sagte ich in den Hörer und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht.

»Lisa? Endlich! Ich habe dir ein paar Nachrichten auf deinem Handy hinterlassen. Hast du deine Nummer geändert oder so?«

Erleichtert stieß ich ein Lachen aus. Sogleich waren meine dunklen Gedanken wie eine Seifenblase verpufft.

»Nein, ich hatte nur viel zu tun. Und wie läuft es bei dir?«

»Oh, ganz wunderbar.« Ihre Stimme klang überschwänglich. »Ich würde dir alles am Freitagabend bei einem Drink erzählen. Wir waren schon lange nicht mehr aus.«

»Das stimmt! Aber ich habe Aidan schon versprochen, mit ihm etwas trinken zu gehen.«

»Aidan? Na, dann bring ihn doch einfach mit. Erzähl, wie läuft es zwischen euch? Gibst du ihm endlich eine Chance?«

Ich grinste und schüttelte den Kopf.

Hannah war meine beste Freundin, die ich schon ein paar Wochen nicht mehr gesehen hatte. Ihr Leben hatte sich durch ihre große Liebe Jake sehr verändert. Bis vor kurzem hatte sie noch Probleme, aber jetzt schien sie glücklich zu sein. Sie sprudelte nur so vor Energie.

Die Unterhaltung mit ihr tat mir gut und sie schaffte es, meine Panik zu vertreiben.

Wir verabredeten uns für den kommenden Freitag, ich konnte es kaum erwarten.

Als ich das Gespräch beendet hatte, nahm ich mein Handy aus der Handtasche, dabei blickte ich wieder auf den Briefumschlag. Sofort wich die Unbeschwertheit, die mir Hannah kurz eingehaucht hatte. Dann schrieb ich eine Nachricht an Aidan. Bestimmt freute er sich auf unser Treffen.