Mami -1768-


Lebe wohl, kleiner Jannis!


Gisela Reutling


  Wo der Junge nur blieb! Jetzt müßte er doch längst da sein. Er hatte ihr versprochen, den Vorortzug um halb sieben zu nehmen. Sie wollte nicht, daß er noch später allein unterwegs war, überhaupt bei dieser Dunkelheit und Kälte.

  Aber sooft Margot auch zum Fenster hinausspähte, keine kräftige Knabengestalt mit Anorak und rotwollener Pudelmütze auf dem Kopf kam forschen Schrittes die Straße entlang.

  Schließlich gab sie es auf.

  Der nächste Zug aus München fuhr, soviel sie wußte, erst nach acht.

  Na warte, Bürschchen, dachte sie, dir werd’ ich die Ohren langziehen. Erst beim »Omilein« – so hieß es immer, wenn er etwas von ihr wollte – durchsetzen, daß er allein zu seinem Freund Jan fahren durfte, und dann nicht gehorchen.

  Margot setzte sich in den Sessel im gemütlichen Wohnzimmer und nahm eine Strickarbeit zur Hand. Alle Pullover für Rolfi machte sie selbst, mit phantasievollen Mustern und in leuchtenden Farben. Ihm gefiel das, denn so schöne hatten die anderen nicht, behauptete er immer. Deren Mütter waren teilweise berufstätig und hatten keine Zeit oder keinen Sinn mehr für Handarbeiten. Es war ja auch viel einfacher, fertig zu kaufen.

  Aber sie, Margot, mochte es, man konnte dabei die Gedanken so schön schweifen lassen.

  Der 6. Dezember war heute, Nikolaustag.

  Hatte nicht Jürgen an einem 6. Dezember Geburtstag gehabt? Daß ihr das jetzt einfiel! Er mußte nun auch um die sechzig sein. Er war wenige Jahre älter als sie gewesen. Es erschien Margot unmöglich, sich den blonden jungen Mann von damals als älteren Herrn vorzustellen, weißhaarig und mit ausgeprägten Falten im Gesicht.

  Ein Gesicht, das sie einmal sehr geliebt hatte, als sie zwanzig war. Und er hatte sie auch geliebt. Zumindest hatte er es sie glauben lassen. Sonst hätte sie, Tochter aus behütetem Haus, seinem Werben wohl nicht nachgegeben. Damals war man noch nicht so freizügig wie heute.

  Aber wie entsetzt war er dann gewesen, als sie ihm sagte, daß sie schwanger war. Da stellte es sich heraus, daß Jürgen Martens an eine feste Bindung nicht gedacht hatte, zumindest vorläufig nicht.

  Er wollte nach China. Für drei Jahre sollte der Vertrag gelten. Seine Firma, ein deutsches Großunternehmen für Motoren, schickte eine Gruppe von Spezialisten dorthin. Er, gut ausgebildet, jung und dynamisch wie er war, sollte dazugehören.

  Drei Jahre, und ausgerechnet China!

  »Muß das denn sein?« hatte sie ihn gefragt.

  »So ein Angebot kann man doch nicht ausschlagen«, war seine Antwort gewesen. Nein, das konnte man wohl nicht, wenn man vierundzwanzig, erlebnishungrig und neugierig auf die Welt war.

  Aber nun das. Es schmetterte ihn geradezu nieder.

  Nein, sie hatte ihn nicht unter Druck setzen wollen, wenn er es denn gar so fürchterlich fand.

  Nach langen, schwerwiegenden Überlegungen erklärte sie ihm, daß es ein Irrtum gewesen sei. Alles wäre wieder in Ordnung.

  Gott, wie froh und erleichtert war er da gewesen! Und mit den Gedanken schon weit fort.

  »Wir bekommen dreimal im Jahr Heimaturlaub«, hatte er gesagt, »den ersten nach sechs Monaten. Dann sehe ich dich wieder.«

  Sie hatte ihm geschrieben, daß er nicht mehr zu kommen brauche. Sie hätte eine neue Liebe gefunden.

  Eine schwere Zeit war das gewesen. Aber deren hatte es ja mehr in ihrem Leben gegeben…

  Ihre Eltern zeigten, wie kaum anders zu erwarten, nur moralische Entrüstung. Ihre Tochter und ein uneheliches Kind! Welche Schande.

  Zum Glück war da noch Tante Gerda, deren Liebling sie immer gewesen war. Pensionierte Lehrerin, klug und tolerant. Sie nahm sie bei sich auf, die Nichte und das Baby, ein Bübchen war es, namens Bernd.

  Margot hatte ihre Ausbildung als Hotelfachfrau beendet. Mit ihren guten Zeugnissen und den erworbenen Sprachkenntnissen fand sie eine Anstellung in einem renommierten Hotel. Die Arbeit an der Rezeption gefiel ihr, gewandt und liebenswürdig stand sie den Gästen stets zur Verfügung. Ihren Kleinen wußte sie in guter Hut.

  Wenn sie vom Dienst nach Hause kam, krähte er ihr entgegen, oder er lag mir runden, rosigen Wangen in seinem Bettchen und schlief. Und Tante Gerda verwöhnte sie, sie hatten gute Stunden miteinander.

  Die ersten Schritte des Söhnchens, dieses vorsichtige Tasten in die Welt hinein, sein erstes Mama, wieviel Glück war das. Um all das hatte sich Jürgen nun gebracht. Sie hörte nichts mehr von ihm, und sie wollte es gar nicht.

  Die Eltern fanden sich allmählich damit ab, daß die Tochter ihren Weg allein ging. Schließlich konnten sie dem Lächeln, dem Lachen ihres Enkels doch nicht widerstehen, man kam sich wieder näher.

  Bernd war vier Jahre alt, als Margot Hansjörg Wieland heiratete. Sie kannten sich ein halbes Jahr. Er war gelegentlich mit einigen Herren zu einem Arbeitsessen ins Hotelrestaurant gekommen, und er zeigte der jungen Dame an der Rezeption deutlich, daß er an ihr interessiert war. Er konnte ihr eine Rose auf das Pult legen, einfach so, aber der Blick, den er dabei in ihre Augen senkte, ließ ihr Herz rascher schlagen. Sie sagte nicht nein, als er sie zu einem Treffen einlud.

  Dieser gutaussehende Mann hatte eine Ausstrahlung, der sich eine Frau kaum entziehen konnte. Sein weltmännisches Auftreten kam ihm in seinem Beruf als Immobilienmakler zugute, es trug zu seinem Erfolg bei. Er war zehn Jahre älter als sie. Daß er bereits zweimal geschieden war, hätte sie stutzig machen sollen. Aber da war sie schon für ihn entflammt. So lange war sie allein gewesen. Sie sehnte sich nach der Liebe und Zärltichkeit eines Mannes. Dieses Mannes.

  Daß sie ein Kind hatte, war für ihn kein Problem. Probleme schien es überhaupt keine für Hansjörg Wieland zu geben, oder zumindest verstand er es, sie mit leichter Hand beiseite zu schieben. Er hatte keine eigenen Kinder, er hatte keine gewollt. Aber dieses »nette Kerlchen«, wie er es nannte, störte ihn nicht. In seinem Haus war genügend Platz.

  Tante Gerda hatte es sich für die Nichte immer gewünscht, daß sie einen guten Mann und für Bernd einen Vater fände. Mit einem Lächeln, in dem sich ein Hauch Wehmut verbarg, ließ sie ihre beiden ziehen. Wehmut, weil es doch für sie persönlich eine erfüllte, ihr Leben unendlich bereichernde Zeit gewesen war.

  Aber sie verloren sich ja nicht. Sie lebten in derselben Stadt, eine innige Bindung würde bestehenbleiben.

  Für Margot waren die ersten Jahre ihrer Ehe von einem leidenschaftlichen Glück. Sie wurde heiß geliebt, und sie gab sich hin. Sie hatte nicht gewußt, daß Liebe so glühende Farben haben konnte.

  Es schien keinen Alltag zu geben in diesem schönen Haus, Glanz und Freude überwogen. Sie war die verwöhnte Frau eines erfolgreichen Mannes. Wenn Hansjörg abends Gäste einlud, verstand sie es, an seiner Seite zu repräsentieren, so, wie es ihm gefiel.

  Hatte sie ihr Söhnchen Bernd in jener Zeit vernachlässigt?

  Margot fragte sich das jetzt, während ihre Gedanken so in die Vergangenheit wanderten.

  Nein! Nein, das konnte sie wohl guten Gewissens von sich behaupten, daß sie ihn nichts an Zuwendung entbehren ließ. Er war ein eher stilles Kind, schmal, dunkelhaarig, mit manchmal unkindlich ernsten Augen und einem nachdenklichen, in sich gekehrten Blick.

  »Woran denkst du, Schätzchen?« hatte sie ihn wohl gelegentlich gefragt, wenn er so schaute.

  Dann hatte er erst noch sekundenlang geschwiegen, bis ein Lächeln sein Gesichtchen erhellte und seine Augen blank wurden. Das waren Momente, in denen ihr Mutterherz so weit wurde, daß es ihr fast den Atem nahm.

  »Wie lieb ich dich hab’, Mami«, antwortete er.

  »Ich habe dich auch sehr lieb.« Und sie küßte ihn, nahm dieses Lächeln, diesen Blick ihres Kindes wie ein Geschenk hin.

  Hansjörg war gut zu ihm, wenn auch auf eine etwas abwesende, zerstreute Weise. Er hatte ja nie etwas mit Kindern zu tun gehabt, es waren eher fremde Wesen für ihn.

  Als Bernd ihn, das war ganz im Anfang gewesen, schüchtern Papa nennen wollte, hatte er fast amüsiert aufgelacht.

  »Ach nein, so denn doch nicht«, hatte er gesagt. »Nenn mich lieber Hansjörg.« Bernd hatte nur gehorsam dazu genickt.

  Als er dann in die Schule kam, erfuhr er, daß auch andere Kinder ihre Väter beim Vornamen nannten. Irgendwie freute ihn das. So war es also doch nichts Außergewöhnliches.

  Bernd war ein guter Schüler, er lernte leicht. Besonders gern las er. In die Bücher, die er, seinem Alter entsprechend bekam, vertiefte er sich mit Begeisterung. Besonders Tante Gerda versorgte ihn damit, sie wies ihm den richtigen Weg.

  Aber er vermochte auch Freundschaften zu schließen, darüber war seine Mutter froh. Nicht den rauhen Buben, die wilde Spiele bevorzugten, schloß er sich an. Er suchte sich mehr seinesgleichen aus. Die durfte er mit nach Hause bringen, wenn sein Vater nicht da war. Hansjörg war manchmal tagelang unterwegs in Deutschland, um sich für Interessenten nach Grundstücken und Häusern umzusehen.

  Im Laufe der Jahre trat in diese anfänglich so glückliche Ehe eine Wandlung ein. Das stürmische Begehren, das sie einander immer wieder in die Arme getrieben hatte, ermattete, es wich einer gewissen Gewöhnung. Vielleicht war das ganz natürlich so. Aber Margot mußte feststellen, daß, wo die körperliche Anziehungskraft nachließ, es daneben eigentlich gar nicht viel gab, was sie verband. Die Wesens-unterschiede traten immer deutlicher zutage, sosehr sie sich auch bemühte, das Leben mit seinen Augen anzusehen.

  »Wir könnten noch ein Kind haben«, hatte sie einmal zu sagen gewagt.

  »Fang du nicht auch noch damit an«, erwiderte er nur, und damit war das Thema für ihn erledigt.

  Es bedrückte Margot, daß es manchmal wie ein luftleerer Raum zwischen ihnen war, auch wenn sich äußerlich alles gleich blieb.

  »Stimmt etwas nicht?« fragte Tante Gerda, die sie so gut kannte und ihre Vertraute seit eh und je war.

  »Doch, doch«, beeilte sich Margot zu versichern. Denn zu erklären war es doch schwer, weil es so wenig greifbar war.

  »Ihr habt sehr lange wie im Honigmond gelebt«, sagte die alte Dame ernst. »Bis in alle Ewigkeit kann das nicht so sein. Man muß sich dann eine andere Basis suchen.«

  Aber wenn die Basis fehlte?

  Geschäfte, Geschäfte… Und rote Rosen schenkte er ihr nur noch selten.

  Margot war sich auch nicht mehr sicher, ob er ihr immer treu war. Ob er allein übernachtete in dieser oder jener Stadt, wo er zu tun hatte. Sie fragte nicht danach. Mit sehr viel Haltung hielt sie die Fassade aufrecht.

  »Aber glücklich bist du nicht mehr, Mama«, sagte Bernd, der nun schon herangewachsen war und immer noch seinen nachdenklichen Blick hatte.

  »Ich bin glücklich, weil ich dich habe«, sagte seine Mutter.

  Immerhin hielt die Ehe dreizehn Jahre. Dann ließ sich Hansjörg Wieland wegen einer wesentlch jüngeren Frau von ihr scheiden. Er war neunundvierzig, aber immer noch hatte er dieses gewisse Etwas, das auf Frauen wirkte. Seine grauen Schläfen machten ihn nur interessant. Und, nicht zu vergessen, er war ein vermögender Mann.

  Großzügig zeigte er sich dann auch Margot und seinem Stiefsohn gegenüber. Das war für ihn kein Problem, beider Unterhalt sicherzustellen, eine sehr schöne, geräumige Eigentumswohnung für sie einzurichten.

  Kühlen Herzens nahm Margot dies alles an. Sie war selber nicht unbemittelt. Tante Gerda, inzwischen hochbetagt heimgegangen, hatte ihr ein nicht unbeträchtliches Vermögen hinterlassen. Aber was sollte es. Hansjörg Wieland hatte es ja. Seine Geschäfte gingen in jenen Jahren noch glänzend. Es schien sein Gewissen doch zu beruhigen, ausreichend für sie und Bernd zu sorgen.

  Auch der Siebzehnjährige nahm es gelassen, daß sie nun in den hübschen Vorort mit dem vielen Grün zogen. Es war kein Verzicht für Bernd.

  »Ein richtiger Vater war Hansjörg doch nie für mich«, sagte er, »und ihr habt doch zuletzt nur noch nebeneinander hergelebt. Das habe ich gemerkt, Mama. Wir werden jetzt froher allein zusammen sein als in dem großen Haus.«

  Damit sollte Bernd recht behalten. Ein Druck war von ihr gewichen. Mit ihrem Ex-Mann blieb sie in lockerer Verbindung. Er erkundigte sich gelegentlich nach ihrem Befinden, fragte auch nach dem Jungen, der auf das Abitur zuging. Der Ton zwischen ihnen war dann gehalten und freundlich. Es mochte ja sein, daß diese seine vierte Frau nun von Dauer sein würde.

  Nach dem Abitur wählte Bernd als Hauptfach an der Universität Literaturwissenschaften. Die Hinneigung dazu hatte sich schon früh gezeigt. Er zog sein Studium mit großem Elan durch, und er brachte ihr eine reizende Freundin namens Elke ins Haus. Es war zwischen den beiden Liebe auf den ersten Blick gewesen.

  Margot fand, daß ihr Sohn keine bessere Wahl hätte treffen können. Sie würden sich wunderbar ergänzen, ihr mehr nach innen gewandter, ernsthafter Bernd und dieses frische, lebenssprühende Mädchen mit den hellen wachen Augen unter wehendem Blondhaar und dem heiteren Lächeln um den Mund.

  Sie heirateten bald, zwei, die wußten, daß sie zusammengehörten. Bernd bekam seine erste Anstellung in einem Verlag, ein Söhnchen kam zur Welt, Rolf Dieter, Rolfi genannt.

  So glücklich waren sie alle gewesen, so glücklich…

  Jäh ließ Margot die angefangene Strickjacke sinken, an deren Rückenteil sie, trotz ihres gedankenvollen Versinkens in die Vergangenheit, ein ganzes Stück weitergekommen war.

  Und sie schloß die Augen, kniff sie zusammen, wie um plötzlich aufsteigende gräßliche Bilder abzuwehren.

  Nicht weiterdenken, nein, nicht weiter!

  Das Glück war zerbrochen – ein Autounfall, zwei Tote. Zwei junge Menschen, die das Leben noch vor sich gehabt hatten. Ein Bübchen von knapp zwei Jahren, das allein zurückblieb…

  Mit einer fluchtartigen Bewegung stand Margot auf, legte hastig ihre Handarbeit beiseite. Die Narbe begann schon wieder zu schmerzen. Sie zwang diesen Schmerz nieder, wie sie es in all den Jahren schon oft und oft mußte, um weiterleben zu können.

  Zu leben für Rolfi, ihren Enkel, der ihr geblieben war.

  Rolfi!

  Sie warf einen Blick auf die Uhr. Gleich neun.

  Aber jetzt müßte er doch da sein. Eine halbe Stunde Fahrt, zwanzig Minuten Fußweg vom Bahnhof hierher. Nicht einmal. Bei seinem flotten Schritt eine Viertelstunde. Und beeilen würde er sich ja wohl, denn ein schlechtes Gewissen hatte er bestimmt.

  Wieder trat sie ans Fenster, schob den Vorhang zurück. Nichts. Die Straße war leer – und so schwarz war die Nacht.

  Hätte sie ihn nicht fahren lassen sollen? Aber er war zwölf, in ein paar Monaten wurde er dreizehn, da sollte man doch meinen…

  Aber da kam er, unverkennbar, ihr Rolfi. Erleichtert seufzte Margot auf. Doch was trug er denn da, eine unförmige Tasche, oder was? Sie konnte es nicht erkennen. Es schien ihm jedenfalls schwer am Arm zu hängen.

  Margot ging zur Tür und drückte auf den Öffner. Sie wohnten im Hochparterre, es war nur eine Treppe. Ungewöhnlich langsam kam er die Stufen herauf. Sein »Guten Abend, Omi« klang auch nicht gerade frisch.

  »Guten Abend, Rolfi. Du kommst spät. Und was hast du da?«

  Eine Tragetasche war es, über der etwas Blaues ausgebreitet war.

  »Das ist doch dein Pullover, warum hast du ihn ausgezogen?«

  »Weil es draußen kalt ist, und die Decke war so dünn«, war seine rätselhafte Antwort.

  Sie hatte ihm die Tasche schon abgenommen, sie gingen hinein.

  »Aah, ist das hier schön warm!« Der Junge zog sich die Pudelmütze vom Kopf, legte die Arme kreuzweise über der Brust zusammen und rieb sich die Arme, schüttelte sich dabei ein wenig. Unter seinem Anorak hatte er nur ein baumwollenes T-Shirt an.

  »Was sollte das denn?« sagte Margot unwillig. »Du wirst dich erkältet haben. Zieh den Anorak aus und eine Strickjacke an.«