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Vorwort des Herausgebers

›Jane Eyre‹ ist eine moderne Aschenputtelgeschichte. Das Ringen zwischen Fremdbestimmung und Autonomie ist das Spannungsfeld, in dem sich Jane Eyre von der ersten Seite des Buches an bewegt. Zunächst als Waisenkind fast völlig entrechtet, im Lauf der Entwicklung immer mehr Möglichkeiten gewinnend, und am Ende frei und unabhängig.

Der Roman ist keine Autobiographie, wie der Untertitel suggeriert, aber er trägt durchaus autobiographische Züge der Autorin Charlotte Brontë. An der Schule, die sie als Kind zeitweise besuchen musste, der Clergy Daughters School in Cowan Bridge (Lancashire), einem Internat für Pfarrerstöchter, herrschten katastrophale Zustände. Dass zwei ihrer Schwestern – Maria und Elizabeth – bereits im Kindesalter starben, kann man damit in Verbindung bringen. 1839 und 1841 arbeitete Charlotte als Gouvernante und machte auch hier Erfahrungen, die sie ins Buch einfließen ließ. Die Protagonistin Jane Eyre wird als »einfaches, ruhiges und intelligentes Mädchen mit einer leidenschaftlichen Seele und einer Neigung zu unangebrachter Direktheit und Ausbrüchen« beschrieben, und dürfte damit auch charakterlich ihrer Schöpferin wesensverwandt sein.

Insgesamt aber war Charlotte wohl die beherrschteste und rationalste der drei hochbegabten Brontë-Schwestern, Töchter eines Pfarrers, die sich, abgeschieden aufwachsend in der Ortschaft Haworth in West Yorkshire, so sehr vorgenommen hatten, Schriftstellerinnen zu werden. Nach einem gemeinsamen Lyrikband unter Pseudonym, der unterging, wie ein Buch nur untergehen kann (nur zwei von Tausend Exemplaren wurden verkauft) brachten sie fast zeitgleich, im Jahr 1847, jede einen bedeutenden Roman heraus – zwei davon, »Sturmhöhe« von Emily und »Jane Eyre« von Charlotte, zählen heute zur Weltliteratur.

Zu Lebzeiten – und jeder der drei Schwestern war nur ein kurzes Leben beschieden – war Charlotte mit »Jane Eyre« die literarisch erfolgreichste der drei Schwestern. Der Roman war zunächst unter dem männlichen Pseudonym ›Currer Bell‹ veröffentlicht. Als sie später ihre Identität preisgab, wurde Charlotte in die Londoner literarischen Kreise eingeführt und genoss eine Weile den Ruhm. Als einzige der drei Schwestern kam sie zu anderen Schriftstellern in persönlichen Kontakt, z.B. zu Elizabeth Gaskell (ihre spätere Biographin) und William Makepeace Thackerey.

Ihre Bücher erschienen dennoch, wie die ihrer Schwestern, weiterhin unter Pseudonym. Erst 1899 gab es erstmals eine Werkausgabe der drei Schwestern unter ihren Realnamen im Verlag Harper & Brothers, New York.

Heute gilt Emily Brontës »Sturmhöhe« wegen der für die damalige Zeit avantgardistischen Erzähltechnik und der reich angelegten Charaktere und fast epischen Familiensaga im Erzählhintergrund als literarisch noch bedeutsamer.

1854 – Charlotte war jetzt 38, und ihre Schwestern waren bereits gestorben – heiratete sie Arthur Bell Nicholls, den Hilfspfarrer ihres Vaters. Schon ein knappes Jahr später, im März 1855, starb sie, vermutlich wegen einer schwangerschaftsbedingten Stoffwechselstörung.

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Die Erzählstimme des Romans ist stark, leidenschaftlich und überzeugend. Jane ist in ihrem Denken, Auftreten und Handeln eine für die damalige Zeit sehr unkonventionelle Frau, für die man im Laufe der Lektüre immer mehr Sympathien entwickelt. Verkürzte Orts- oder Namensangaben im Text z.B. »–shire« stellen keinen Fehler dar. Vielmehr benutzten viele Schriftsteller damals diese Methode, um geschützte Privatsphäre deutlich zu machen und damit Authentizität zu suggerieren. In Wirklichkeit war es jedoch in den allermeisten Fällen nichts weiter als ein literarischer Trick – denn die betreffenden Personen oder Orte waren meist ohnehin frei erfunden. Ein literarisches Stilmittel – ebenso wie der Untertitel »An Autobiography«, der den gleichen Zweck erfüllt.

Redaktion eClassica