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Vorwort des Herausgebers

»[Es ist] besser zu genießen und zu bereuen,

als zu bereuen, dass man nicht genossen hat.«

Decamerone, 3. Tag, 5. Erzählung

 

Das Dekameron (oder Decamerone) ist eine Sammlung von 100 Novellen, die Giovanni Boccaccio etwa zwischen 1349 und 1353 niederschrieb. Der Titel Decamerone ist eine Wortzusammensetzung aus griechisch ›deka‹ ›zehn‹ und ›hemera‹ ›Tag‹) – also ›Zehn-Tage-Werk‹. Die Zahl Zehn ist dabei nicht ohne Bedacht gewählt, denn man hielt sie damals für ein Symbol des Vollkommenen.

Zur Zeit der Pest in Mittelitalien, im Jahre 1348, lässt Boccaccio zehn junge Menschen, drei Männer und sieben Frauen, in einer abgelegenen Villa in den Hügeln von Florenz Zuflucht suchen. Hier, in der Abgeschiedenheit und Einsamkeit, erzählen sie sich, um sich die Zeit zu vertreiben, Geschichten. Zehn Tage lang, und jeden Tag zehn Episoden. Das ist die Rahmenhandlung.

Diese Geschichten kommen aus allen Lebensbereichen und allen damals bekannten Kulturkreisen – und gerade das macht das Panoptikum so lesenswert. Sie sind frech, frivol und ungezwungen, manchmal auch obszön und derb, manchmal nur witzig, spöttisch und lästernd. Eine bunte Mischung des politisch Inkorrekten – würde man heute sagen. »All das, was später an Libertinage, Freizügigkeit und Sittenlosigkeit in die Literatur einging ... im Decamerone ist es vorgeprägt, in einer heiteren, leichtfüßigen, die Sünde verharmlosenden Sprache.«[1]

Und genau aus diesem Grund ist es Boccaccios literarisches Meisterwerk. Der erfand übrigens nicht alle Episoden neu, sondern verwendete auch Themen griechischer und lateinischer Autoren sowie aus alten Schwankbüchern, und übersetzte sie in seinen eigenen literarischen Stil.

Wie es scheint, ist das Decamerone nur knapp der Zerstörung entgangen, denn Boccaccio, im Alter geläutert und fromm geworden (wie es heißt), soll das Manuskript dem Kartäusermönch Giacchimo Ciani aus Siena übergeben haben, der es unter Verschluss hielt, damit es – nachdem es reichlich abgegriffen und zerlesen war – zerstört werden sollte. Doch Jahrzehnte später fand der Mönch Hilario beim Ordnen der Bestände der Bibliothek von Pavia das Buch in einer Schatulle, mit einem beigelegten Zettel: »Der ehrwürdige Vater Ciani hatte mich gebeten, das Manuskript zu vernichten. Gott wird mir hoffentlich verzeihen, dass ich es nicht getan habe.«

So kehrte das Decamerone durch Hilario, der zwischen der Sittenlosigkeit und Heiterkeit der Texte hin- und her gerissen war, zurück ans Licht der Welt. Er schickte es einem Mitbruder zur Veröffentlichung, schrieb aber dazu: »Ich würde [...] empfehlen, das Buch in einem weltlichen Verlag veröffentlichen zu lassen, sonst heißt es noch, wir würden aus der Unmoral Profit ziehen!«

Einmal gedruckt und vervielfältigt – die Druckerpresse war gerade erfunden[2] – war der Erfolg nicht mehr aufzuhalten. Das »Zehn-Tage-Werk« mit den hundert Novellen eroberte ganz Europa, beeinflusste in Frankreich Rabelais und Balzac, in England Shakespeare, in Spanien Cervantes, in Deutschland Goethe – um nur wenige zu nennen. Bis hin zu den großen italienischen Filmemachern des 20. Jahrhunderts, Pasolini, Fellini, Visconti, die sich in die Liste der Wiederentdecker einschrieben. Das Decamerone zählt zu den wichtigsten und bekanntesten Werken der Weltliteratur.

 

Über den Autor

Giovanni Boccaccio wird im Juni oder Juli 1313 in Florenz oder dem in der Nähe gelegenen Bergdorf Certaldo als unehelicher Sohn des Kaufmanns Boccaccio di Chellino, geboren. Seine Mutter stirbt kurz nach der Geburt. Später kommt die in vielen Quellen zitierte und auch von ihm selbst geförderte Legende auf, er sei in Paris geboren, hervorgegangen aus einer Beziehung zwischen seinem Vater und einer französischen Adligen namens Giovanna.

Seine Kindheit verlebt Giovanni in Florenz im Haus des Vaters, der für eine Bankgesellschaft arbeitet. Dem Plan des Vaters nach soll er ebenfalls im kaufmännischen Bereich sein Brot erwerben, und so schickt er ihn nach Neapel zur Arbeit in eine Filiale der Compagnia dei Bardi, einer Bank. Doch statt sich in das Studium der Handelstätigkeit oder des kanonischen Rechts zu vertiefen, lässt sich Boccaccio von den Verlockungen der Stadt in den Bann ziehen, strebt nach Kunst, Kultur und Literatur. Er bekommt Zugang zum neapolitanischen Hof des Robert von Anjou, wo er den eleganten, höfischen Lebensstil kennenlernt, mit Intellektuellen verkehrt und sich autodidaktisch eine breitgefächerte Bildung aneignet.

Gegen 1340 kommt Boccaccio zurück nach Florenz, arbeitet in diplomatischer Mission im Staatsdienst, und feilt gleichzeitig weiter an seinen literarischen Versuchen. Sein erstes größeres vollendetes Werk, Filocolo, dürfte der erste Prosaroman der italienischen Sprache sein. 1348 dann ein großer Einschnitt: Florenz wird von der Beulenpest heimgesucht, fast die Hälfte der 90.000 Einwohner fällt der Seuche zum Opfer; auch Boccaccios Vater stirbt. Als das gröbste Unheil überstanden und der Nachlass des Vaters besorgt ist, als langsam wieder Normalität einkehrt, beginnt er mit dem Decamerone, dessen Rahmenhandlung in der Zeit der schlimmen Pest angesiedelt ist. Nicht viel später lernt Boccaccio den anderen großen Literaten dieser Epoche, Petrarca, kennen, und sie werden beste Freunde. Beide widmen sich verstärkt dem Studium klassischer Texte und versammeln einen Kreis gleichgesinnter Intellektueller um sich.

Möglicherweise wegen finanzieller Schwierigkeiten tritt Boccaccio 1360 in den minderen Geistlichenstand ein, und begegnet im Jahr 1362 dem Kartäusermönch Giacchimo Ciani aus Siena, der ihn angeblich zum »frommen Leben« bekehrt, und dem er das Decamerone übergeben haben soll. Boccaccio starb am 21. Dezember 1375 in Certaldo, wo er ein kleines Landgut besaß.

Redaktion eClassica

 

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Anmerkungen:

[1] So der Mönch Hilario, der das Manuskript bei einer Inventur der Bibliothek des Klosters von Pavia wiederentdeckte.

[2] Gemeint ist der Buchdruck mit beweglichen Metall-Lettern, um 1455 erfunden von Johannes Gutenberg (1400–1468) in Mainz.

 

Verwendete Quellen:

• ›Giovanni Boccaccio: Das Dekameroner‹, Brief des Bruders Hilario, aus dem Italienischen übersetzt von Herbert Heckmann, in: ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher, Suhrkamp 1980

• Der große Brockhaus Literatur, Leipzig, Mannheim, 2007

›Macht des Geistes, List der Lust‹, Klaus Thiele-Dohrmann über Giovanni Boccaccio, in ZEIT, No 23/2013


DAS DECAMERONE

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Motiv aus der Rahmenhandlung: Die jungen Leute erzählen sich Geschichten; Ölgemälde von Salvatore Postiglione (1861–1906)