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Vorwort des Herausgebers

Eine demokratische Wahl legitimiert nicht alles.

Thoreau erinnert eindrücklich daran, dass die Macht einer jeden Regierung eine geborgte ist – dass aber die Regierenden, einmal gewählt, diese Tatsache nur allzu schnell aus den Augen verlieren. Die politische Elite koppelt sich vom Volk ab, handelt maßlos und selbstgerecht, ignoriert jene, die sie nicht gewählt haben – und beginnt sogar jenen zu schaden, die sie gewählt haben. Diese Gefahr besteht nicht nur in autokratischen, sondern ebenso in demokratischen Systemen.

Thoreau: »Die Macht liegt in den Händen des Volkes, und durch eine Wahl wird einer Mehrheit gestattet, für eine gewisse Zeit zu regieren – möglicherweise für eine sehr lange Zeit. Der wahre Grund dafür ist aber nicht, dass sich diese Mehrheit mit großer Wahrscheinlichkeit im Recht befindet oder dass dies der Minderheit gegenüber am gerechtesten erscheint, sondern schlicht, weil diese Mehrheit der Minderheit physisch überlegen ist. Aber eine Regierung, in der in jedem Fall die Mehrheit entscheidet, kann nicht auf Gerechtigkeit gegründet sein, nicht einmal soweit Menschen Gerechtigkeit begreifen.«

Dennoch, es ist die bestmögliche Regierungsform, die wir kennen. Allerdings nur, wenn die gewählte Mehrheit dafür Sorge trägt, dass die Interessen der gesamten Bevölkerung gewahrt bleiben, nicht nur eines Teils davon. Minderheiten, abweichende Meinungen müssen in den demokratischen Prozess einbezogen werden. Ignoriert eine Regierung diese Tatsache, hat sie auch ihr Recht zu regieren verloren, wie erst kürzlich der Fall des ägyptischen Präsidenten Mursi zeigte (Juli 2013), der zwar demokratisch gewählt war, aber nach seiner Wahl einen bedeutenden Teil der Bevölkerung aus seiner Politik ausgegrenzt hat.

Eine demokratische Wahl legitimiert natürlich auch nicht, dass eine Regierung eine illegale Geheimüberwachung der eigenen Bevölkerung duldet, und damit die eigene Verfassung bricht – wie es offensichtlich durch englische und amerikanische Geheimdienste stattfindet, mit einem Schwerpunkt in Deutschland.

»Alle Menschen bekennen sich zum Recht auf Revolution; dass heißt zu dem Recht, der Regierung die Gefolgschaft zu verweigern und ihr Widerstand zu leisten, wenn ihre Tyrannei oder ihre Untüchtigkeit zu groß und unerträglich werden. Aber fast alle sagen, das sei zur Zeit nicht der Fall.«

Machtbesessene, arrogante und vom Volk entkoppelte Politikern, die in solche Machenschaften verstrickt sind, sollten Thoreau heute als Pflichtlektüre lesen – und sich gewahr werden, dass die Balance, auf die sie ihre Regierungsmacht aufgebaut haben, eine empfindliche ist. Wenn demokratische Instrumente versagen, wenn die Regierung zu Handlangern von Rechtsbrechern wird, kann das Volk seine Meinung, es sei nicht die Zeit für eine Revolution, durchaus ändern.

»[Es gibt] Menschen, die sogar die Frage der Freiheit hinter der des Freihandels zurückstellen. [...] Sie zaudern, und sie bedauern, und manchmal unterschreiben sie eine Petition. Aber sie tun nichts, das ernsthaft Wirkung zeigt.«

Die »Freiheit hinter der des Freihandels zurückstellen« – genau das tut heute auch die Europäische Union, wenn sie mit den USA über ein Freihandelsabkommen verhandelt, und dabei die globale Bespitzelung durch die NSA und andere Geheimdienste verharmlost oder sogar ignoriert. Thoreau könnte aktueller nicht sein!

Er rät uns, tätig zu werden. Uns nicht mit austauschbaren Politik-Marionetten zufrieden zu geben. Aufzustehen und unsere eigenen Interessen zu vertreten. Er führt uns vor Augen, dass das ›Richtige‹, das ›Gute‹ und ›Humane‹ wichtiger sind als das formaljuristisch Korrekte. Er ermutigt uns, politische Menschen zu sein, statt nur ›Untertanen‹. Und er bestärkt uns darin, dass Änderungen des politischen Systems, so verkrustet es sein mag, möglich sind.

»Lege in deine Stimme dein ganzes Gewicht, wirf nicht nur einen Papierzettel, sondern alles was du hast, in die Waagschale. Eine Minderheit ist machtlos, wenn sie sich der Mehrheit anpasst; sie ist dann noch nicht einmal eine Minderheit. Unwiderstehlich aber ist sie, wenn sie ihr ganzes Gewicht einsetzt.«

 

Über den Autor:

Henry David Thoreau wurde am 12. Juli 1817 in Concord, Massachusetts, als Sohn eines Bleistiftfabrikanten geboren und studierte von 1833 bis 1837 an der Harvard University. Für kurze Zeit arbeitete er als Lehrer an der Public School in Concord, überwarf sich aber bald mit der Schulleitung – z.B. weil er die Prügelstrafe ablehnte. 1841 lernt er den Literaten Ralph Waldo Emerson kennen, der ein Freund und Förderer für ihn werden sollte. 1843 bis 1845 lebt Thoreau alleine und naturverbunden in einer Blockhütte am Waldensee. 1849 erscheint der heute berühmte Essay ›Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat‹, 1854 erscheint ›Walden, oder Leben in den Wäldern‹. In den folgenden acht Jahren setzte sich Thoreau mit all seinen Möglichkeiten für die Beendigung der Sklaverei ein und unterstützt den Bürgerrechtler John Brown. Thoreau stirbt bereits am 6. Mai 1862, im Alter von nur 44 Jahren, an Tuberkulose. – Im gleichen Jahr wird die Sklaverei in der Hauptstadt Washington aufgehoben. Drei Jahre später, nach dem Ende des Bürgerkriegs, ist die Sklaverei in allen US-Bundesstaaten abgeschafft.

Mahatma Gandhi verteilte »Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat« unter seinen Schülern, später wurde die Schrift in der französischen Widerstandsbewegung gegen Hitlerdeutschland gelesen. In den sechziger Jahren beeinflussten Thoreaus Gedanken die Bürgerrechtsbewegungen, ebenso wie die Hippie-, Friedens- und Umweltbewegung der Siebziger und Achtziger. Und auch heute, im Jahr 2013, hat Thoreaus Schrift nichts von ihrem Wert und ihrer Aktualität verloren.

A. Fischer, Redaktion eClassica