Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Swan Song erschien 1987.

Copyright © 1987 by Robert McCammon

1. Auflage Mai 2015

Copyright © dieser Ausgabe 2015 by Festa Verlag, Leipzig

Veröffentlicht mit Erlaubnis von The McCammon Corporation

Literarische Agentur: Thomas Schlück GmbH, 30872 Garbsen

Titelbild: Arndt Drechsler

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-354-9

www.Festa-Verlag.de

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8

8:31 Uhr Mountain Daylight Time

Blue Dome Mountain, Idaho

Das hartnäckige Summen des Telefons auf dem Tisch neben seinem Bett riss den Mann aus einem traumlosen Schlaf. Geh weg, dachte er. Lass mich in Ruhe. Aber das Summen hielt an und schließlich wälzte er sich langsam auf die Seite, schaltete die Lampe ein und tastete mit zusammengekniffenen Augen nach dem Hörer. »Macklin«, murmelte er verschlafen und undeutlich.

»Ähm … Colonel, Sir?« Es war Sergeant Schorr. »Ich habe hier ein paar Leute zur Einweisung, die auf Sie warten, Sir.«

Colonel James ›Jimbo‹ Macklin warf einen Blick auf den kleinen grünen Wecker neben dem Telefon und sah, dass er schon mehr als 30 Minuten zu spät war für die Einweisungs- und Begrüßungsveranstaltung. Verdammter Mist!, dachte er. Ich hab diesen Scheißwecker doch auf 6:30 Uhr gestellt! »Okay, Sergeant. Halten Sie sie noch 15 Minuten hin.« Er legte auf, nahm den Wecker und drehte ihn um; der kleine Schalter auf der Rückseite war unten. Entweder hatte er den Wecker gar nicht gestellt oder er hatte ihn im Schlaf ausgeschaltet. Er saß auf der Bettkante und versuchte, genug Energie zum Aufstehen aufzubringen, aber sein Körper fühlte sich schwerfällig und aufgedunsen an. Noch vor ein paar Jahren, dachte er grimmig, hatte er nie einen Wecker gebraucht, um wach zu werden – ein verstohlener Schritt auf nassem Gras hatte gereicht, um ihn zu wecken, und innerhalb von Sekunden war er so wachsam wie ein Wolf gewesen.

Die Zeit vergeht, dachte er. Das ist lange her.

Er zwang sich aufzustehen. Zwang sich, aus dem Schlafzimmer, an dessen Wänden Fotos von Phantom- und Thunderchief-Jets hingen, in das kleine Badezimmer zu gehen. Er machte das Licht an und ließ Wasser ins Waschbecken laufen; es war rostig, als es aus dem Hahn kam. Er spritzte sich Wasser ins Gesicht, trocknete sich ab und starrte mit übernächtigten Augen den Fremden im Spiegel an.

Macklin war 1,85 Meter groß, und bis vor fünf oder sechs Jahren war sein Körper auch noch schlank und straff gewesen, sein Oberkörper muskulös, seine Schultern stark und gerade und seine Brust stolz gewölbt wie die Chobham-Panzerung an der Schnauze eines M-1-Panzers. Jetzt wurden die ehemals scharfen Konturen seines Körpers von loser Haut und schlaffem Fleisch verwischt und sein Bäuchlein blieb unbeeindruckt von den 50 Sit-ups, die er jeden Morgen machte – wenn er überhaupt dazu kam. Ihm fiel eine leichte Neigung seiner Schultern auf, als würde er von einem unsichtbaren Gewicht niedergedrückt, und das Haar auf seiner Brust war grau gesprenkelt. Sein Bizeps, einst steinhart, wurde allmählich schlaff. Einmal hatte er einem libyschen Soldaten allein mit der Kraft seiner Armbeuge das Genick gebrochen; jetzt fühlte er sich so schwach, als könnte er nicht einmal mehr mit einem Vorschlaghammer eine Walnuss knacken.

Er schaltete den Elektrorasierer ein und fuhr sich damit über die Stoppeln an seinem Kinn. Sein dunkelbraunes Haar, das zu einem präzisen Bürstenschnitt frisiert war, ging an den Schläfen bereits ins Graue über. Seine Augen unter der kantigen Stirn waren eisblau und lagen tief in müden Höhlen, wie Eisstücke, die auf trübem Wasser trieben. Während er sich rasierte, sinnierte Macklin darüber, dass sein Gesicht sich immer mehr den unzähligen Karten von Schlachtfeldern angeglichen hatte, über denen er vor langer Zeit gebrütet hatte: die vorspringende Klippe seines Kinns, die zur zerklüfteten Schlucht seines Mundes führte, dann hinauf zum Hochland seiner kantigen Wangenknochen und dem schroffen Bergrücken seiner Nase, wieder hinab zum Morast seiner Augen und schließlich ein Aufwärtsschwung zu den braunen Wäldern seiner buschigen Brauen. Und auch die Geländemerkmale waren alle da: die Pockenkrater der schweren Akne, unter der er als Jugendlicher gelitten hatte, der schmale Graben einer Narbe, die quer durch seine linke Augenbraue lief, Andenken an einen Querschläger in Angola. Über seine linke Schulter verlief eine tiefere und längere Narbe, die ein Messer im Irak gegraben hatte, und über der rechten Seite seines Brustkorbs trug seine Haut die Erinnerung an eine Vietcongkugel. Macklin war 44 Jahre alt, aber manchmal, wenn er aufwachte, fühlte er sich wie 70 und in seinen Armen und Beinen wühlten die Schmerzen von Knochen, die er sich bei Kämpfen an fernen Gestaden gebrochen hatte.

Er rasierte sich fertig und zog den Duschvorhang zur Seite, um das Wasser anzustellen, aber dann erstarrte er, denn auf dem Boden der kleinen Duschkabine lagen Deckenfliesen und Schutt. Wasser tropfte aus mehreren Löchern, wo die Decke der Duschkabine nachgegeben hatte. Als er das leckende Wasser betrachtete und ihm klar wurde, dass er verschlafen hatte und nicht duschen konnte, stieg plötzlich die Wut in ihm hoch wie geschmolzenes Eisen in einem explodierenden Hochofen. Er rammte seine Faust gegen die Wand, dann gleich noch einmal; beim zweiten Mal hinterließ die Wucht seines Schlages ein Netz von winzigen Rissen.

Er beugte sich über das Waschbecken und wartete, dass die Wut verrauchte, so wie sie es immer tat. »Ruhig«, befahl er sich. »Disziplin und Selbstbeherrschung. Disziplin und Selbstbeherrschung.« Er wiederholte es mehrmals, wie ein Mantra, dann tat er einen langen, tiefen Atemzug und richtete sich auf. Ich muss los, dachte er. Sie warten auf mich. Er fuhr sich mit einem Deostift durch die Achselhöhlen, dann ging er zum Kleiderschrank, um eine Uniform auszusuchen.

Er wählte eine akkurat gebügelte dunkelblaue Hose, ein hellblaues Hemd und seine beige Popeline-Fliegerjacke mit Lederflicken an den Ellbogen und dem Schriftzug MACKLIN auf der Brusttasche. Von dem Regal über seinem Kopf, wo er den Kasten mit seiner Ingram und den dazugehörigen Magazinen aufbewahrte, nahm er seine Colonelmütze von der Air Force. Er schnippte eine imaginäre Staubfluse von der blank polierten Krempe und setzte die Mütze auf. Dann überprüfte er sein Äußeres in dem mannshohen Spiegel auf der Innenseite der Schranktür: Knöpfe poliert, okay; Bügelfalten gerade, okay; Schuhe gewienert, okay. Er richtete den Kragen und war bereit zu gehen.

Sein privates Elektromobil parkte vor seinem Quartier auf der Kommandoebene. Er verschloss die Tür mit einem der vielen Schlüssel, die er an seinem Schlüsselbund trug, dann stieg er in den Wagen und fuhr den Korridor entlang. Hinter ihm, auf der anderen Seite seines Quartiers, befand sich die verriegelte Metalltür des Waffenlagers und der Notvorräte. Am anderen Ende des Korridors, vorbei an den Quartieren der anderen Earth-House-Techniker und -Bediensteten, lagen der Generatorraum und der Kontrollraum des Luftfiltersystems. Er fuhr an der Tür der Außenüberwachung vorbei, hinter der sich die Anzeigeschirme der kleinen tragbaren Feldradaranlagen befanden, die zum Schutz von Earth House aufgestellt worden waren, sowie der Hauptschirm der himmelwärts gerichteten Radarschüssel am Gipfel des Blue Dome Mountain. Von der Außenüberwachung wurde auch das hydraulische System kontrolliert, das im Falle eines Nuklearangriffs die Lüftungsschächte und die bleiverkleideten Zugangstüren versiegelte. Die Radarschirme waren rund um die Uhr besetzt.

Macklin lenkte den Wagen die Rampe zur oberen Ebene hinauf und fuhr in Richtung Gemeindesaal. Er kam an der offenen Tür der Turnhalle vorbei, wo gerade ein Aerobic-Kurs stattfand. Ein paar morgendliche Jogger liefen durch den Korridor; Macklin nickte ihnen zu, als er an ihnen vorbeifuhr. Dann erreichte er den ›Marktplatz‹ von Earth House, an dem sich mehrere Korridore kreuzten und in dessen Mitte sich ein Steingarten befand. Um den Platz herum gab es mehrere ›Läden‹, deren Ladenfronten an eine Einkaufsstraße in einer Kleinstadt erinnerten. Am Marktplatz gab es ein Sonnenstudio, ein Kino, in dem Videos gezeigt wurden, eine Bücherei, eine Krankenstation mit einem Arzt und zwei Krankenschwestern, eine Spielhalle und eine Cafeteria. Macklin roch das Aroma von Eiern und Speck, als er an der Cafeteria vorbeikam, und wünschte sich, er hätte Zeit für ein Frühstück gehabt. Es sah ihm eigentlich gar nicht ähnlich, zu spät zu kommen. Disziplin und Selbstbeherrschung, dachte er. Das waren die beiden Dinge, die einen Mann ausmachten.

Aber er ärgerte sich immer noch über die abgebröckelte Decke in seiner Duschkabine. In letzter Zeit kam es immer häufiger vor, dass die Wände und Decken von Earth House porös wurden und teilweise einstürzten. Schon mehrmals hatte er die Ausley-Brüder deshalb angerufen, aber die meinten nur, die Gutachten der Statiker hätten gezeigt, dass nun einmal mit gewissen Absenkungen zu rechnen sei. »Absenkungen – am Arsch!«, hatte Macklin geantwortet. »Wir haben hier ein Wasserproblem! Wasser sammelt sich oberhalb der Decken und bricht durch!«

»Jetzt regen Sie sich nicht so auf, Colonel«, hatte Donny Ausley in San Antonio gesagt. »Wenn Sie nervös werden, werden die Leute auch nervös, richtig? Und es gibt keinen Grund, nervös zu werden, denn der Berg steht da schon ’n paar Tausend Jahre und er wird da auch noch ’n paar Tausend Jahre bleiben.«

»Es ist nicht der Berg!«, hatte Macklin geschimpft, die Faust um den Hörer geklammert. »Es sind die Tunnel! Meine Wartungsteams finden jeden Tag neue Risse!«

»Ganz normale Absenkungen, weiter nichts. Jetzt hören Sie mir mal zu – Terry und ich haben zehn Millionen Mäuse in diese Anlage gesteckt und wir haben sie so gebaut, dass sie auch hält. Wenn wir nicht ein Unternehmen zu führen hätten, wären wir selbst dort unten bei Ihnen. So weit unter der Erde ist es völlig normal, dass es ’n paar Absenkungen und Wasserlecks gibt. Das ist nun mal so. Und wir zahlen Ihnen 100.000 Dollar im Jahr, damit Sie sich um Earth House kümmern und da unten leben und den großen Kriegshelden für uns spielen. Also sehen Sie zu, dass Sie die Löcher flicken und die Leute bei Laune halten.«

»Jetzt hören Sie mal zu, Mr. Ausley: Wenn nicht innerhalb einer Woche ein Baustatiker hier antanzt und sich den Laden ansieht, dann bin ich weg! Ich scheiß auf den Vertrag. Ich werde die Leute nicht bequatschen, hier unten zu bleiben, wenn es nicht sicher ist!«

»Ich glaube«, hatte Donny Ausley da gesagt, und sein texanischer Akzent war ein paar Grad kälter geworden, »es wäre besser, wenn Sie sich wieder beruhigen, Colonel. Sie werden nicht einfach so einen Vertrag brechen; das ist kein gutes Benehmen. Denken Sie lieber daran, wie Terry und ich Sie aufgegabelt und auf Vordermann gebracht haben, bevor Sie hier große Reden schwingen, klar?«

Disziplin und Selbstbeherrschung!, hatte Macklin mit wild hämmerndem Herzen gedacht. Disziplin und Selbstbeherrschung! Und dann hatte er zugehört und Donny Ausley hatte ihm versprochen, spätestens in zwei Wochen einen Baustatiker aus San Antone zu schicken, der jeden Millimeter von Earth House abklopfen würde. »Aber in der Zwischenzeit haben Sie da unten das Sagen. Wenn Sie ein Problem haben, dann beseitigen Sie es. Haben wir uns verstanden?«

Das war vor fast einem Monat gewesen. Der Baustatiker war nie gekommen.

Colonel Macklin stoppte sein Elektromobil neben einer Doppeltür. Über der Tür hing ein Schild mit der Aufschrift GEMEINDESAAL in altertümlichen verschnörkelten Buchstaben. Bevor er eintrat, zog er seinen Gürtel noch ein Loch enger, obwohl die Hose sich bereits straff über seine Mitte spannte. Dann richtete er sich kerzengerade auf und betrat die Aula.

Etwa ein Dutzend Leute saßen auf roten Lackstühlen vor dem Rednerpult, hinter dem Captain Warner Fragen beantwortete und anhand eines Planes, der hinter ihm an der Wand hing, das eine oder andere über Earth House erklärte. Sergeant Schorr, der bereitstand, um die schwierigeren Fragen zu beantworten, sah den Colonel hereinkommen und trat schnell ans Mikrofon des Rednerpultes. »Entschuldigen Sie, Captain«, sagte er und unterbrach eine Erläuterung des Abwasser- und Klärsystems. »Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen jemanden vorstellen, der eigentlich keiner Vorstellung bedarf: Colonel James Barnett Macklin.«

Der Colonel ging mit strammem Schritt durch den Mittelgang, während das Publikum applaudierte. Er stellte sich hinter das Pult, eingerahmt von einer amerikanischen Flagge und der Flagge von Earth House, und blickte in den Zuschauerraum. Der Applaus hielt an; ein Mann mittleren Alters in einer Feldjacke mit Tarnmuster stand auf, gefolgt von seiner genauso gekleideten Frau. Und dann waren alle auf den Beinen und applaudierten. Macklin ließ den Applaus noch 15 Sekunden weitergehen, dann dankte er den Leuten und bat sie, Platz zu nehmen.

Captain ›Teddybear‹ Warner, ein stämmiger ehemaliger Green Beret, der im Sudan sein linkes Auge durch eine Granate verloren hatte und nun eine Augenklappe trug, nahm auf einem Stuhl hinter Macklin Platz. Schorr setzte sich neben ihn. Macklin schwieg einen Moment und legte sich die Worte zurecht. Er hielt üblicherweise vor allen Neuankömmlingen die gleiche Begrüßungsrede, in der er ihnen erzählte, wie sicher Earth House sei und dass dies die letzte amerikanische Stellung sein würde, wenn die Russen das Land überfielen. Hinterher beantwortete er ihre Fragen, schüttelte ihnen die Hände und gab ein paar Autogramme. Dafür bezahlten die Ausleys ihn.

Er musterte die Zuhörer. Sie waren an saubere, bequeme Betten gewöhnt, an frisch duftende Badezimmer und Roastbeef am Sonntagnachmittag. Drohnen, dachte er. Sie lebten, um sich zu paaren, um zu essen und zu scheißen, und sie glaubten, alles über Freiheit, Loyalität und Mut zu wissen – dabei wussten sie nicht das Geringste über diese Dinge. Er ließ seinen Blick über ihre Gesichter wandern und sah nichts außer Verweichlichung und Schwäche. Das waren Menschen, die glaubten, sie würden ihre Ehepartner, ihre kleinen Kinder, ihre Häuser und all ihren Besitz mit Freuden opfern, um Amerika vor dem russischen Abschaum zu verteidigen – aber das würden sie nicht tun, denn ihre Geister waren schwach und ihre Gehirne von geistigem Junk Food zerfressen. Und hier saßen sie nun, wie all die anderen, und warteten darauf, dass er ihnen erzählte, was für großartige Patrioten sie doch seien.

Er wollte den Mund öffnen und ihnen raten, so schnell wie möglich aus Earth House zu verschwinden, wollte ihnen sagen, dass die ganze Anlage einsturzgefährdet war und dass sie – diese verweichlichten Versager! – lieber nach Hause gehen und sich in ihren Kellern verkriechen sollten. Jesus Christus!, dachte er. Was zur Hölle mache ich überhaupt hier?

Und dann durchfuhr ihn eine innere Stimme wie ein Peitschenknall: Disziplin und Selbstbeherrschung! Reiß dich zusammen, Mister!

Es war die Stimme des Schattensoldaten. Macklin schloss für eine Sekunde die Augen. Als er sie wieder öffnete, blickte er in das Gesicht eines mageren, zerbrechlich aussehenden Jungen, der in der zweiten Reihe zwischen seinen Eltern saß. Er sah aus, als könnte ihn ein einziger kräftiger Windstoß umblasen, aber dann betrachtete Macklin die blassgrauen Augen des Jungen genauer. Er glaubte, etwas in diesen Augen wiederzuerkennen – Entschlossenheit, Gerissenheit, Willenskraft –, das er auf Bildern von sich selbst in dem Alter gesehen hatte, als er ein fetter, tollpatschiger Waschlappen gewesen war, den sein Vater, der Air-Force-Captain, bei jeder sich bietenden Gelegenheit in den Arsch getreten hatte.

Von allen, die hier vor mir sitzen, dachte er, hat dieser magere Junge vielleicht als Einziger eine Chance. Die anderen waren Hundefutter.

Er riss sich zusammen und begann seine Einweisungsrede mit einem Enthusiasmus, als müsse er einen Latrinengraben ausheben.

Als Colonel Macklin sprach, beobachtete Roland Croninger ihn mit aufmerksamem Interesse. Der Colonel war um einiges dicker als auf den Fotos in Soldier of Fortune und er sah verschlafen und gelangweilt aus. Roland war enttäuscht; er hatte einen durchtrainierten, mitreißenden Kriegshelden erwartet, keinen Gebrauchtwagenhändler in Militärklamotten. Es war schwer zu glauben, dass dies der gleiche Mann sein sollte, der drei MiGs über der Thanh-Hoa-Brücke abgeschossen hatte, um einem Kameraden, dessen Flugzeug getroffen war, die Flucht zu ermöglichen, und sich dann mit dem Schleudersitz aus dem abstürzenden Kampfjet gerettet hatte.

Reiner Beschiss, dachte Roland. Colonel Macklin war nichts als Beschiss, und allmählich glaubte er, dass das ganze Earth House nichts weiter als Beschiss war. Als er heute Morgen aufgewacht war, hatte sein Kopfkissen eine nasse Stelle gehabt; aus einem fünf Zentimeter langen Riss in der Decke tropfte es herab. In der Dusche gab es kein warmes Wasser und das kalte Wasser war voller Dreck und Rost. Seine Mutter hatte fast einen hysterischen Anfall bekommen, weil sie sich nicht die Haare waschen konnte, und sein Vater hatte versprochen, mit Sergeant Schorr darüber zu reden.

Roland traute sich nicht, seinen Computer aufzubauen, weil die Luft in seinem Zimmer so feucht war, und sein erster Eindruck vom Earth House als einer coolen mittelalterlichen Festung verblasste sehr schnell. Natürlich hatte er sich etwas zum Lesen mitgebracht – Bücher über Machiavelli und Napoleon und eine Abhandlung über mittelalterliche Belagerungen –, aber er hatte eigentlich vorgehabt, während seines Aufenthalts ein paar neue Dungeons für Ritter des Königs zu programmieren. Dieses Spiel war seine eigene Kreation – 128 kB einer imaginären Welt, aufgespalten in feudalistische Königreiche, die miteinander im Krieg lagen. Jetzt sah es wohl so aus, als müsste er die ganze Zeit lesen!

Er beobachtete den Colonel. Macklins Augen wirkten träge, sein Gesicht war aufgedunsen. Er sah aus wie ein alter Bulle, der sein Gnadenbrot bekam, weil er keinen mehr hochkriegte. Aber als Macklins Blick den seinen traf und für einen Moment festhielt, bevor er wieder weiterglitt, fühlte Roland sich an ein Foto von Joe Louis erinnert, das aus der Zeit stammte, als der Boxchampion als Türsteher in Las Vegas arbeitete. Auf dem Foto sah Louis schlaff und müde aus, aber seine riesige Pranke umfasste die zerbrechliche weiße Hand eines Touristen und seine Augen waren hart und dunkel und auf irgendetwas weit Entferntes gerichtet – vielleicht war er wieder im Ring und erinnerte sich daran, wie es sich anfühlte, einem Gegner die Faust tief in den Leib zu rammen. Der gleiche in die Ferne gerichtete Blick lag auch in Macklins Augen, und genau wie man wusste, dass Joe Louis mit einem einzigen festen Druck die Knochen in der Hand dieses Touristen hätte brechen können, so spürte Roland, dass auch der Krieger in Colonel Macklin noch nicht ganz tot war.

Während Macklin noch seine Rede hielt, summte das Telefon an der Wand neben dem Lageplan. Sergeant Schorr stand auf und nahm den Hörer ab. Er lauschte ein paar Sekunden, legte auf und ging quer über das Podest zum Colonel. Roland hatte den Eindruck, dass sich etwas in Schorrs Gesicht verändert hatte, während er am Telefon zugehört hatte; Schorr erschien ihm jetzt älter, sein Gesicht war leicht gerötet. Er sagte »Entschuldigung, Colonel« und legte seine Hand über das Mikrofon.

Macklins Kopf fuhr herum, seine Augen funkelten wütend wegen der Unterbrechung.

»Sir«, meinte Schorr leise. »Sergeant Lombard sagt, Sie werden in der Außenüberwachung gebraucht.«

»Warum?«

»Das wollte er nicht sagen, Sir. Ich fand, er klang … verdammt erschüttert.«

Schwachsinn!, dachte Macklin. Lombard war jedes Mal »erschüttert«, wenn das Radar eine Schar Gänse oder ein Verkehrsflugzeug auffing, das über sie hinwegflog. Einmal hatten sie Earth House abgeriegelt, weil Lombard glaubte, eine Gruppe Drachenflieger wären feindliche Fallschirmspringer. Trotzdem musste Macklin natürlich nach dem Rechten sehen. Er winkte Captain Warner, ihm zu folgen, und wies Schorr an, die Einweisung zu beenden, sobald er gegangen war. »Ladies und Gentlemen«, sagte Macklin ins Mikrofon. »Ich muss Sie jetzt leider verlassen, um mich um ein kleines Problem zu kümmern, aber ich hoffe doch, dass wir uns heute Nachmittag beim Empfang der Neuankömmlinge sehen werden. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.« Und dann schritt er den Mittelgang entlang, dicht gefolgt von Captain Warner.

Sie fuhren mit dem Elektromobil die Strecke zurück, die Macklin gekommen war. Den ganzen Weg über schimpfte Macklin leise über Lombards Dämlichkeit. Sie betraten den Raum der Außenüberwachung. Lombard starrte gebannt auf den Bildschirm, der die Signale anzeigte, die von der Radarschüssel am Gipfel des Blue Dome aufgefangen wurden. Neben ihm standen Sergeant Becker und Corporal Prados, die beide ebenfalls auf den Schirm starrten. Der Raum war vollgestopft mit elektronischen Geräten, weiteren Radarschirmen und dem kleinen Computer, der die Ankunfts- und Abreisedaten der Bewohner von Earth House speicherte. Auf einem Regal über einer Reihe von Radarschirmen plärrte eine Stimme aus einem Kurzwellenradio, beinahe unverständlich im Knistern und Rauschen der Störgeräusche. Die Stimme war voller Panik und plapperte so schnell, dass Macklin kein Wort von dem verstand, was sie sagte. Aber der Klang der Stimme gefiel ihm ganz und gar nicht, seine Muskeln verkrampften sich und sein Herz begann zu hämmern.

»Gehen Sie zur Seite«, befahl er den anderen. Er stellte sich so hin, dass er einen guten Blick auf den Radarmonitor hatte.

Sein Mund wurde trocken und er glaubte das Klicken der Schaltkreise zu hören, die in seinem Gehirn an die Arbeit gingen. »Gott im Himmel«, flüsterte er.

Die verzerrte Stimme aus dem Kurzwellenradio plapperte: »New York hat’s erwischt … völlig vernichtet … die Raketen kommen über die Ostküste herein … treffen Washington … Boston … ich kann Feuer von hier sehen …« Andere Stimmen lösten sich aus dem Rauschen, Brocken und Fetzen von Informationen aus dem Netzwerk der Amateurfunker überall in den Vereinigten Staaten, aufgefangen von den Antennen auf dem Blue Dome Mountain. Eine Stimme mit Südstaatenakzent schrie: »Aus Atlanta kommt nichts mehr! Ich glaube, Atlanta ist getroffen!« Die Stimmen überlagerten sich, wurden lauter und leiser, vermischten sich zu einer Sprache, die aus Schluchzern und Schreien zu bestehen schien, aus leisem, schwachem Flüstern und den Namen amerikanischer Städte, die wie eine Litanei des Todes wiederholt wurden: Philadelphia … Miami … Newport News … Chicago … Richmond … Pittsburgh …

Aber Macklins Aufmerksamkeit wurde von dem in Anspruch genommen, was der Radarschirm zeigte. Ihm war sofort klar, was das bedeutete. Er schaute zu Captain Warner auf und wollte etwas sagen, aber einen Moment lang gehorchte ihm seine Stimme nicht. Dann befahl er: »Rufen Sie die Außenwachen rein! Versiegeln Sie den Eingang! Wir werden angegriffen. Los, Bewegung!«

Warner schnappte sich ein Walkie-Talkie und eilte davon. »Holen Sie Schorr hier runter«, rief Macklin, und Sergeant Becker – ein loyaler und zuverlässiger Mann, der mit Macklin zusammen im Tschad gedient hatte – nahm sofort den Telefonhörer ab und drückte ein paar Tasten. Aus dem Kurzwellenradio rief eine hektische Stimme: »Hier ist KKTZ in St. Louis! An alle, die mich hören! Ich sehe ein großes Feuer im Himmel! Es ist überall! Allmächtiger Gott, so etwas habe ich noch nie …« Ein durchdringendes Kreischen von Störgeräuschen und anderen fernen Stimmen füllte die Lücke, die St. Louis hinterlassen hatte.

»Es ist so weit«, flüsterte Macklin. Seine Augen leuchteten und auf seiner Haut lag ein feiner Schweißfilm. »Ob wir wollen oder nicht – es ist so weit!«

Und tief in seinem Inneren, in der Grube, in die so lange kein Licht mehr gefallen war, schrie der Schattensoldat vor Freude auf.