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Inhalt

Einleitung

Geleitwort

Teil 1 – Im Gefecht

Isa Khel, Karfreitag 2010

Drei Jahreszeiten in Kunduz

Verwundung – ein Kampf, auf den ich nicht vorbereitet war

Operation »Halmazag«

Operation »Freies Tal« – Landung aus der Luft

Selbstmordattentäter

Teil 2 – Planung und Analyse

Der Gegner im Raum Kunduz

Lage und operationelle Gedanken des taktischen Planers

Mit Recht kämpfen

(K)einer bleibt zurück

Dulce et decorum est – Soldatisches Töten und Sterben

Abkürzungen und Erläuterungen

Autorenverzeichnis »Feindkontakt – Gefechtsberichte aus Afghanistan«

Im Gedenken an unsere 2010 gefallenen Seedorfer Kameraden

 

Hauptfeldwebel Nils Bruns

Stabsgefreiter Robert Hartert

Hauptgefreiter Martin Kadir Augustyniak

Oberfeldwebel Florian Pauli

 

Wir werden sie niemals vergessen!

Titelbild:

Fliegerleitoffizier im Einsatz

Quelle: Walter Wayman/Bundeswehr

 

 

 

 

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

eISBN 978-3-8132-1015-6

© 2015 by Maximilian Verlag, Hamburg

 

ISBN 978-3-8132-0954-9

© 2013 by Maximilian Verlag, Hamburg

2. überarb. Auflage

Verlag E.S. Mittler & Sohn, Hamburg, Bonn

 

Ein Unternehmen der Tamm Media

Alle Rechte vorbehalten

 

Layout und Produktion: Anita Böning

eBook Produktion: rombach digitale manufaktur, Freiburg

Sascha Brinkmann, Joachim Hoppe, Wolfgang Schröder

Einleitung

Afghanistan, Karfreitag 2010: Die Gefechte zwischen Bundeswehr und Aufständischen erreichen einen neuen Höhepunkt. Während die Fallschirmjäger in Kunduz immer stärker unter Druck stehen, bereiten sich ihre Kameraden in der Heimat voller Anspannung auf einen schwierigen Einsatz vor. Aber wie dachten und fühlten die Männer und Frauen in einem Jahr, das wie kein anderes von einem verbissen um jeden Meter Boden kämpfenden Gegner geprägt war, der das Duell mit den ISAF-Truppen nicht scheute?

Dieser Frage gehen Herausgeber und Autoren im Anschluss an ein Geleitwort des damaligen Kommandeurs des Regionalkommandos Nord, Generalleutnant Hans-Werner Fritz, mithilfe einer ausgewählten Sammlung von Texten nach und führen den Leser in Innen- und Außenperspektive durch das Afghanistan von 2010. So machen sie begreifbar, was Krieg für den Menschen im 21. Jahrhundert bedeutet – ob für den einfachen Soldaten, Planer oder militärischen Führer.

Ausgangspunkt des Buches bilden die Ereignisse am und um den Karfreitag des Jahres 2010. An diesem Tag erleben die deutschen Soldaten im 15 Kilometer westlich von Kunduz gelegenen Isa Khel die bis dahin vermutlich schwersten und verlustreichsten Kämpfe im Verantwortungsbereich
der Bundeswehr in Afghanistan. Drei Soldaten fallen, vier weitere werden schwer verwundet und müssen fortan zum Teil mit erheblichen körperlichen Einschränkungen leben. Neben Leid und Schicksal steht dieser Tag auch für Mut und Tapferkeit. Zahlreiche der Männer, die verbissen im Ort kämpfen, und andere, die ihnen als Verstärkung zu Hilfe eilen, erhalten nach ihrer Rückkehr in die Heimat vom Bundesminister der Verteidigung das
Ehrenkreuz für Tapferkeit. Über diese Ereignisse berichten Hauptmann S., der seine Kompanie in und um Isa Khel geführt hat, sowie Major Andreas Trenzinger, der nach Beginn der Gefechte im Feldlager Kunduz alarmiert wurde und folgend in die Geschehnisse eingriff.

Unter dem Eindruck der Ereignisse in Isa Khel bereiten sich die Nachfolger dieser Einheiten in Deutschland auf ihren Einsatz vor. Sie erleben eine bewegende Trauerfeier für die gefallenen Kameraden, an der auch erstmals die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland teilnimmt. Ab Juni 2010 stehen sie vor der Aufgabe, sich einem Gegner entgegenzustellen, dem es gelungen ist, die Bewegungsfreiheit der deutschen Soldaten im Raum Kunduz innerhalb eines Jahres immer weiter einzuschränken.

Hauptmann W., Kompaniechef einer Infanteriekompanie im Feldlager Kunduz, die ab August 2010 Teil des neu aufgestellten Ausbildungsschutzbataillons, genannt Taskforce Kunduz, wird, führt den Leser durch sieben Monate in Kunduz und Baghlan, mit allen Höhen und Tiefen, militärischen Erfolgen und Rückschlägen, Hoffnungen und Zweifeln. Er berichtet in »Drei Jahreszeiten in Kunduz« von Gefechten und Anschlägen, erläutert dabei sein taktisches Rational und seine Analyse über die Taliban, spart aber das Zwischenmenschliche innerhalb seiner Kompanie nicht aus.

In »Verwundung – ein Kampf, auf den ich nicht vorbereitet war« wird aus der Perspektive des einzelnen Soldaten von einem der Gefechte berichtet, die im vorherigen Beitrag dargestellt wurden. Oberstabsgefreiter Tim Focken kämpft an diesem Tag in einem Dorf, 15 Kilometer westlich von Kunduz, entschlossen gegen die Taliban. Er wird von einer gegnerischen Gewehrkugel getroffen und erlebt mitten im tosenden Gefecht die Hilflosigkeit des Verwundeten. Danach führt ihn sein Weg aus dem Gefecht heraus ins Feldlager Kunduz und weiter vom Feldkrankenhaus in Mazar-e Sharif nach Deutschland. Hier geht sein Kampf weiter, um die eigene Zukunft, ohne Gegner, aber mindestens genauso fordernd wie im Gefecht bei Kunduz, für das er später vom Bundesminister der Verteidigung mit dem Ehrenkreuz für Tapferkeit ausgezeichnet wurde.

»Operation Halmazag«: Zahlreiche Monate mit intensiver operativer Tätigkeit der Taskforce Kunduz sind bereits vergangen und manches Gefecht ist überstanden. Die Kompanien haben in kleinen Schritten ihre Bewegungsfreiheit erweitern und Vertrauen bei der Bevölkerung sowie bei den afghanischen Sicherheitskräften aufbauen können. Unter dem Druck der sich immer weiter vortastenden Infanterie und zahlreicher nächtlicher Spezialkräfteoperationen sind die Taliban in ihren Rückzugsräumen mehr und mehr zu Absicherungsmaßnahmen gezwungen. Dennoch, sie halten ihren Raum und viele im Feldlager Kunduz spüren, dass der entscheidende Durchbruch noch nicht geschafft ist, obwohl der Winter bald vor der Tür steht. Da eröffnet sich die große Chance: Nach vielen Gesprächen gelingt es dem Kommandeur der Taskforce Kunduz, die afghanische Armee und die Polizei zusammen mit deutschen und amerikanischen Kräften zu einer gemeinsamen Großoperation tief in das Talibangebiet hinein zu bewegen. Hiervon berichtet der Kommandeur der Taskforce Kunduz, Oberstleutnant Christian von Blumröder.

»X-1: Fertigmachen« lautet die Anweisung des Piloten einer amerikanischen CH-47 an die deutschen Fallschirmjäger, bevor er sie in den späten Abendstunden des 27. Dezember 2010 weit hinter den feindlichen Linien der Taliban im Zweistromtal nordwestlich von Kunduz absetzt. Hier geht die Offensive der internationalen Schutztruppe weiter. Diesmal sind es amerikanische Kräfte, unterstützt durch eine Kompanie der Taskforce Kunduz, die im Rahmen der Operation »Freies Tal« in einen der ältesten Rückzugsräume der Taliban im Raum Kunduz eindringen. Hauptmann L., Kompaniechef eben jener deutschen Kräfte, berichtet über den Weg seiner Fallschirmjäger »aus dem Himmel auf die Erde ins Gefecht«. Er skizziert dabei nicht nur den Fortgang der Operation, sondern erläutert ebenfalls seine Vorbereitung und spart dabei auch kritische Lagen und Friktionen nicht aus, die für nahezu jede militärische Operation kennzeichnend sind.

Ein Blick zurück in den Herbst 2010. Am 7. Oktober befindet sich eine Kompanie der Taskforce Kunduz zur Unterstützung der deutschen Kräfte in Baghlan. Es ist die zweite Kompanie in Folge, die dorthin abkommandiert wird, um nach schweren Gefechten der deutschen Quick Reaction Force wichtige Zugangswege zu einem von Amerikanern und Afghanen besetzten Außenposten offenzuhalten. Viele Tage vergehen ereignislos, dann greifen die Taliban schnell und entschlossen an. Während sie den Außenposten direkt attackieren, versuchen sie zeitgleich, die zur Verstärkung herannahenden deutschen Kräfte zu binden. Dazu greifen sie mit einem Selbstmordattentäter einen deutschen Zug der Taskforce Kunduz an, der an der Brücke von Kotub zur Sicherung eingesetzt ist. Oberfeldwebel Florian Pauli stirbt sofort durch die Wucht der Explosion, viele weitere werden verwundet. Der Zugführer, Hauptfeldwebel Martin Müller, berichtet, wie die Soldaten ihren anfänglichen Gefechtsschock überwinden, um das Überleben der Kameraden kämpfen und dann in das Gefecht eingreifen, um das Blatt zugunsten der ISAF-Kräfte zu wenden.

Mit den folgenden Beiträgen wechselt das Buch die Perspektive. Nun kommen militärische Planer und Spezialisten zu Wort. Sie ordnen die vorher beschriebenen Ereignisse in den erweiterten Kontext der Lage in Nordafghanistan 2010 ein. Zunächst schreibt der Nachrichtenoffizier der Taskforce Kunduz. Der damalige Hauptmann Karsten Goy erläutert dabei nicht nur die militärische Vorgehensweise und Struktur eines facettenreichen Gegners, sondern zeigt, wie er auf die Bevölkerung und die Sicherheitsorgane der afghanischen Regierung wirkte. Er macht klar, wie »kriegsentscheidend« ein umfassendes Lagebild und konkret operativ umsetzbare Informationen sind. Dabei fasst er zusammen, wie sich die Gegnerlage innerhalb knapp eines Jahres operativer Tätigkeit der internationalen Schutztruppe sowie afghanischer Sicherheitskräfte im Großraum Kunduz zum Positiven verändert hat.

Hinter jeder Operationsführung steht eine umfangreiche und detaillierte Planung. Sie berücksichtigt nicht nur den militärischen Auftrag und den Gegner, sondern insbesondere das Umfeld, in dem der Einsatz stattfindet. Der heutige Oberstleutnant Oliver Henkel, Chefplaner der Taskforce Kunduz 2010, erläutert seine operationellen Gedanken und die damaligen Rahmenbedingungen in Nordafghanistan. Er skizziert Gelände und Umweltbedingungen, beschreibt das Verhalten der afghanischen Bevölkerung und analysiert die afghanischen Sicherheitskräfte und weitere Verbündete. Dabei geht er am praktischen Beispiel eigener Operationsführung auf den Zusammenhang zwischen Aufstandsbekämpfung im Sinne der Counterinsurgency-Doktrin und den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen sowie den damit verbundenen Rück- und Wechselwirkungen ein.

Am 16. April 2010 stellt der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof seine Ermittlungen gegen den damaligen Oberst i. G. Georg Klein anlässlich des Luftangriffs gegen zwei Tanklaster in der Nähe von Kunduz im Herbst 2009 ein. Nach heftigen Reaktionen in Deutschland ist damit amtlich: Keiner der beteiligten Soldaten hat sich strafrechtlich relevant verhalten. Mit der Bewertung, bei den Auseinandersetzungen zwischen den aufständischen Taliban und der afghanischen Regierung sowie den NATO-Truppen der ISAF in Afghanistan handele es sich eindeutig um einen sogenannten »Nicht-Internationalen bewaffneten Konflikt«, verändert der oberste Ankläger der Bundesrepublik in Strafsachen die Fremd- und Eigenwahrnehmung der rechtlichen Rahmenbedingungen für die Soldaten erheblich. Nur zwei Wochen zuvor, in Isa Khel, haben sie noch unter deutlich anderen Regeln gekämpft. Leitender Regierungsdirektor Gerhard Stöhr, Wehr- und Einsatzrechtsexperte, erläutert in seinem Aufsatz »Mit Recht kämpfen – Über den verfassungsmäßigen Auftrag zum Ethos des Soldaten« die Tragweite der Entscheidung und ihre konkreten Folgen für den Soldaten vor Ort und im Gefecht. Darüber hinaus beschäftigt er sich grundsätzlich mit dem Bestimmungszweck von Streitkräften und diskutiert dessen Perzeption in der Bevölkerung. Hierbei spricht er aus, was viele Soldaten bewegt. Ein klares und engagiertes Plädoyer für die Sache und den Auftrag des Soldaten heute!

»(K)einer bleibt zurück«: Wunsch und Sorge jedes militärischen Führers in einem Halbsatz zugleich, der sich nur durch einen Buchstaben unterscheidet, aber in seiner Konsequenz doch so unterschiedlich ist. Am 7. Oktober 2010 passiert wieder, wovor viele sich gefürchtet haben. Oberfeldwebel Florian Pauli fällt in Baghlan, ein halbes Jahr nach dem schicksalhaften Karfreitag. Die Bestürzung unter den Kameraden ist überall zu spüren. Ja, es hatte in den vergangenen Monaten viele leicht Verwundete gegeben, aber das Soldatenglück war bis hierhin aufseiten der deutschen Soldaten geblieben. Hauptfeldwebel Thomas Sikorsky, Kompaniefeldwebel der in Baghlan eingesetzten Einheit, beschreibt in diesem Artikel seine unmittelbaren Erlebnisse und Gedanken am und nach diesem denkwürdigen 7. Oktober.

Sascha Brinkmann, seinerzeit Hauptmann und Planungsoffizier im Stab der Taskforce Kunduz, spürt in diesen Tagen die Stimmung unter den Männer und Frauen in Kunduz. In seinem Beitrag »Dulce et decorum est – Soldatisches Töten und Sterben« sucht er, ausgehend vom Zitat des römischen Dichters Horaz, nach Antworten auf die elementaren Fragen des Soldaten im Angesicht von Tod und Verwundung. Dazu geht er einen auf den ersten Blick ungewöhnlichen Weg. Er reflektiert das Thema anhand von drei Begriffen: Ehre, Vaterland und Sterben. Hier enden seine Reflexionen jedoch nicht. Weit über althergebrachte Denkmuster hinaus zeigt er kritisch auf, vor welchen Herausforderungen der Soldat heute steht, wenn er sein Handeln letztendlich vor sich selbst begründen muss.

Der Einsatz in Kunduz und Baghlan endet im Januar 2011 für die Soldaten, die in diesem Buch berichten und über die berichtet wird. Manche von ihnen waren oder sind bereits wieder dort. Und viele von ihnen schweifen in ihren Gedanken immer wieder dorthin zurück, besonders wenn über Gefechte und Anschläge berichtet wird.

Wir, die Herausgeber und Autoren, widmen daher dieses Buch allen gefallenen und an Leib und Seele verwundeten Kameraden unseres Einsatzes sowie jenen, die vor und nach uns in Nordafghanistan ebendieses Schicksal erfahren haben. Wir hoffen, dass sie und ihre Angehörigen sich wie wir den Glauben an den Sinn ihrer Aufgabe bewahren können.

Generalleutnant Hans-Werner Fritz
Befehlshaber des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr

Geleitwort

Mit »Feindkontakt – Gefechtsberichte aus Afghanistan« erscheint ein Buch, das sich mit dem inzwischen mehr als zwölf Jahre währenden Einsatz deutscher Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan auseinandersetzt – und zwar auf eine neue, so noch nicht nachzulesende Weise.

Die in diesem Buch zusammengeführten Gefechtsberichte vermitteln dem Leser einen Eindruck aus erster Hand über die fordernde Aufgabe, die Komplexität des Umfelds und die besondere Belastung, tatsächlich kämpfen und sein Leben aufs Spiel setzen zu müssen – eine Herausforderung, die trotz zwölf Jahren ISAF-Einsatz nicht für jeden Bundeswehrsoldaten in Afghanistan alltäglich war und ist. Die hier zu Wort kommenden Soldaten schildern einerseits ihre persönlichen Erlebnisse bei Gefechtssituationen im Raum Kunduz/Baghlan in den Jahren 2010/2011, andererseits reflektieren sie ihr eigenes Handeln, ihr soldatisches Ethos und den rechtlichen Rahmen ihres Einsatzes. Das Buch geht allerdings noch weiter, denn die Autoren erlauben dem Leser einen unverstellten Blick in ihr Innerstes, in ihre Gefühlswelt und ihr Seelenleben.

»Feindkontakt – Gefechtsberichte aus Afghanistan« ist eben nicht nur ein weiteres Buch über den Soldatenalltag in Afghanistan, vielmehr nimmt es den Leser mit; er wird Teil der Truppe im Einsatz, Teil einer Gefechtssituation. Es zeigt Zusammenhänge und Hintergründe auf und es regt zum Nachdenken an.

Mich persönlich berührt dieses Buch in mehrfacher Weise.

Als Kommandeur der Division Spezielle Operationen war ich in Deutschland Vorgesetzter der bei den beschriebenen Karfreitagsgefechten gefallenen Hauptfeldwebel Nils Bruns, Stabsgefreiter Robert Hartert und Hauptgefreiter Martin Kadir Augustyniak sowie des am 7. Oktober 2010 gefallenen Oberfeldwebel Florian Pauli. Die Bilder der bewegenden Trauerfeier, die Worte des damaligen Verteidigungsministers zu Guttenberg und die Ansprache der Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel werden mir immer in Erinnerung bleiben. Gleichermaßen aber auch das Gedenken an unsere gefallenen Kameraden im Camp Marmal selbst. Wer jemals ein Ehrenspalier – meist frühmorgens – gestanden hat oder den Särgen gefolgt ist, um den Gefallenen die letzte Ehre zu erweisen, bevor sie in die Heimat geflogen werden, wird dies in seinem Leben nicht mehr vergessen. Gleichzeitig eint diese Erinnerung – so traurig sie auch ist – alle, die damals dabei waren.

Ab Juni 2010 war ich selbst für mehr als neun Monate als Kontingentführer des deutschen Einsatzkontingents ISAF und als Kommandeur des Regionalkommandos Nord verantwortlich für über 5.000 deutsche Soldatinnen und Soldaten, rund 5.000 US-Soldaten und 1.000 Soldatinnen und Soldaten anderer Partnernationen.

Bei der Lektüre des Buches wurden unglaublich viele Erinnerungen an diese bisher intensivste Zeit meines beruflichen Lebens wieder wach. Ich fühlte mich hineinversetzt nach Afghanistan im Jahr 2010.

Das Jahr 2010 war das bis dahin verlustreichste Jahr der internationalen Militärpräsenz in Afghanistan. Die Bewegungsfreiheit der ISAF Truppen im Verantwortungsbereich des Regionalkommandos Nord, besonders im Kunduz-Baghlan-Korridor, war in Teilen eingeschränkt, einige Bereiche waren fest in der Hand regierungsfeindlicher Kräfte. Dort war an den Aufbau staatlicher Strukturen oder die Umsetzung von Hilfs- und Entwicklungsprojekten zu Gunsten der Bevölkerung dieses geschundenen Landes nicht zu denken. Es kam deshalb darauf an, die Operationsführung auf die aktive Bekämpfung regierungsfeindlicher Kräfte auszurichten, um damit die Voraussetzungen für erfolgreiche Regierungs- und Entwicklungsarbeit zu schaffen, ganz im Sinne der neuen »Counter Insurgency«-Strategie. Die beschriebene Operation »Halmazag« im November 2010 oder die Luftlandeoperation im Zweistromland nordöstlich von Kunduz in der Weihnachtszeit desselben Jahres sind Teil der Umsetzung dieser Strategie.

Alle in den nachfolgenden Aufzeichnungen erwähnten oder berichtenden Soldaten durfte ich in Deutschland oder später vor Ort in Afghanistan persönlich führen. Sie waren Fallschirmjäger, Zugführer, Kompaniechefs, Stabsoffiziere und Bataillonskommandeure in meiner Division. Ich habe Entscheidungen getroffen, die von »meinen« Soldaten umzusetzen waren, damit konnte ich Teil des Teams sein. Der Leistungswille und die Professionalität, mit der die deutschen und die internationalen Soldatinnen und Soldaten, aber auch die afghanischen Sicherheitskräfte ihren Auftrag ausgeführt haben, erfüllten mich schon damals mit Stolz und großem Respekt. Wir haben gemeinsam um gefallene Kameraden getrauert und ich erinnere mich an jeden verwundeten Kameraden, den ich am Krankenbett besucht habe. Meinen Teil zum Auftrag beigetragen zu haben und, wie man diesem Buch entnehmen kann, bei dem einen oder anderen Kameraden einen persönlichen Eindruck hinterlassen zu haben hat für mich besondere Bedeutung.

Als Befehlshaber des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr trage ich erneut Führungsverantwortung für die mir anvertrauten Männer und Frauen in den Einsatzgebieten der Bundeswehr. Auch die Konfrontation mit Tod und Verwundung deutscher Soldatinnen und Soldaten ist damit wieder unmittelbarer Teil meines beruflichen Lebens, wie es mir der Tod eines Kameraden Anfang Mai 2013, nur wenige Tage nach meinem Amtsantritt, schmerzhaft vor Augen führte.

Auf der operativen Führungsebene ist es meine Aufgabe, politische Absichten, Zielsetzungen und Vorgaben, die ihren Ausdruck in der Regel in einem Bundestagsmandat finden, sowie militärstrategische Weisungen so umzusetzen, dass sie von den taktischen Führern vor Ort, beispielsweise in Afghanistan, in erfolgreiches militärisches Handeln umgesetzt werden können und die erforderliche Handlungssicherheit entsteht. Das zu berücksichtigende Spektrum umfasst dabei alle militärischen Disziplinen: Personal, Nachrichtenwesen, Ausrüstung, Logistik bis hin zur Rechtsberatung. So werden beispielsweise die für den Einsatz zur Verfügung stehende Ausrüstung oder die Zusammenstellung der Truppe vor Ort durch meinen Stab im Einsatzführungskommando der Bundeswehr in enger Abstimmung mit den Verantwortlichen im Einsatzland geplant und letztendlich verantwortet. Für das Einsatzführungskommando der Bundeswehr gilt daher die Maxime »Vom Einsatz her denken und handeln« in ganz besonderer Art und Weise.

Meine persönliche Einsatzerfahrung aus den Jahren 2010/2011 in Afghanistan kann ich hier unmittelbar einbringen, sie ist mein innerer Kompass. Ich bin ausgesprochen froh darüber, dass die Angehörigen des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr in weiten Teilen ebenfalls über ihr persönliches Maß an Einsatzerfahrung verfügen und dieses zum Wohl unserer Kameradinnen und Kameraden im Einsatz in die tägliche Arbeit einbringen.

Der ISAF-Einsatz in der bekannten Form neigt sich seinem Ende entgegen. Neben den in diesem Buch geschilderten Ereignissen können und müssen aus den Erfahrungen in Afghanistan Lehren gezogen werden, die allerdings nicht auf das militärische Engagement begrenzt bleiben dürfen. Die vorliegenden Schilderungen vom persönlichen Erleben einer Verwundung oder dem Tod eines Kameraden sind Mahnung, dass der Einsatz militärischer Gewalt auch weiterhin zwar nicht das letzte, aber das äußerste Mittel der Politik ist und dass der Einsatz militärischer Mittel stets in ein Konzept gesamtstaatlichen Handelns eingebunden sein muss, um nachhaltigen Erfolg zu haben. Militär kann der Politik Zeit verschaffen, aber politische Lösungen nicht ersetzen.

In meiner nun fast vierzigjährigen Dienstzeit hat mich selten eine Phase so stark geprägt wie der Einsatz in Afghanistan. Selten habe ich die Verantwortung für die mir anvertrauten Menschen so stark gespürt wie als Kommandeur im Regionalkommando Nord. Genauso stark war aber das Empfinden für die gelebte Kameradschaft aller Dienstgrade untereinander und füreinander. Sie hat uns alle über vieles hinweggeholfen. Mein persönlicher Dank geht an alle, die damals täglich mit uns zusammengearbeitet haben und deren Unterstützung ich mir jederzeit sicher sein konnte. Ich denke noch oft an sie.

Ich hoffe, dass dieses Buch eine breite Leserschaft findet und seinen Beitrag dazu leistet, dass die ethischen und menschlichen Aspekte des militärischen Einsatzes durch die Öffentlichkeit an konkreten Beispielen diskutiert werden. Ich danke den Autoren, dass sie sich die Zeit genommen haben, einen sehr persönlichen Blick zurück auf ihren Einsatz in Afghanistan zu werfen und ihre Erlebnisse mit Offenheit und Ehrlichkeit in Worte zu fassen.

Teil 1 – Im Gefecht

Hauptmann S. und Andreas Trenzinger

Isa Khel, Karfreitag 2010

Hauptmann S. – Kompaniechef der 1. Infanteriekompanie des PRT Kunduz

Als sich Mitte Februar 2010 die Fallschirmjäger aus dem niedersächsischen Seedorf im Rahmen eines feierlichen Appells in den Afghanistan-Einsatz verabschiedeten, hatte auch ich, Hauptmann S., die Gelegenheit, zu den Soldaten meiner Kompanie und deren Angehörigen ein paar Worte zu sprechen. Ich ließ zunächst die mehrmonatige, intensive Vorbereitung auf diesen Einsatz Revue passieren und wollte damit vor allem eines deutlich machen: Für die bevorstehenden Aufgaben in Afghanistan sind wir gut gerüstet. Ich nutzte die kurze Ansprache aber auch, um unmissverständlich klarzumachen, wie gefährlich unser Auftrag ist. Schließlich war es die Infanteriekompanie, die außerhalb des Feldlagers unterwegs war und Tag für Tag Kontakt mit der afghanischen Bevölkerung hatte. Jeder, auch die Angehörigen meiner Soldaten, sollten sich dieser Tatsache bewusst sein. Dass keine zwei Monate später die Kämpfe mit den Aufständischen ein bis dahin ungeahntes Ausmaß annehmen und dabei drei unserer Kameraden in den Tod reißen würden, ahnte zu diesem Zeitpunkt niemand.

Der Einsatz in Afghanistan begann für mich und meine Kompanie mit ihren rund 130 Frauen und Männern Ende Februar 2010. Die 1. Infanteriekompanie war, neben der 2. Infanteriekompanie und der Schutzkompanie, eines der operativen Elemente des Regionalen Wiederaufbauteams (Provincial Reconstruction Team, PRT) Kunduz. In dieser Funktion hatte sie zahlreiche Aufgaben zu erfüllen. Sie musste den Raum um die Provinzhauptstadt Kunduz gegenüber Aufständischen behaupten, die Bewegungsfreiheit auf den Hauptverkehrsstraßen sicherstellen, mit afghanischen Sicherheitskräften zusammenarbeiten und das Vertrauen der Bevölkerung gewinnen. Das bedeutete, ständig mit eigenen Kräften im Einsatzraum präsent zu sein und den Kontakt zur Bevölkerung sowie zu den afghanischen Sicherheitskräften zu suchen. Keine einfache Aufgabe. Der Einsatzraum des PRT Kunduz umfasste neben der Provinz Kunduz auch die Nachbarprovinz Takhar und war mit einer Fläche von über 20.000 Quadratkilometern schwer zu kontrollieren. Die afghanischen Sicherheitskräfte waren dabei nur bedingt in der Lage, ihren Aufgaben zum Schutz der Bevölkerung nachzukommen. Sowohl die afghanische Armee (Afghan National Army, ANA) als auch die Polizei (Afghan National Police, ANP) waren personell nicht besonders gut aufgestellt, auch ließen Ausrüstung und Ausbildungsstand zu wünschen übrig. Immerhin war die Bereitschaft zur Zusammenarbeit vorhanden.

Im Schwerpunkt der Operationsführung stand im Frühjahr 2010 der Distrikt Chahar Darrah. Ein Raum, der sich auf über 1.200 Quadratkilometer westlich der Stadt Kunduz erstreckte und als eines der Hauptoperationsgebiete der Aufständischen in der Provinz galt.

So kontrollierten verschiedene Gruppierungen der Aufständischen, die nur zum Teil den Taliban zugeordnet werden konnten, einzelne Gebiete und Dörfer. Immer wieder wurden Angriffe und Hinterhalte gegen deutsche und afghanische Sicherheitskräfte durchgeführt. Nicht selten wurden dabei auch Sprengfallen (sogenannte IEDs, Improvised Explosive Devices) eingesetzt. Zur ortsansässigen Bevölkerung bestanden vielfach ethnische und familiäre Verbindungen, aufgrund derer den Aufständischen Tarnung, Unterschlupf und Versorgung gewährt wurden. Ihre Rückzugsräume wurden gegen Eindringlinge verteidigt und waren mit Sprengfallen gesichert. Ziel der Aufständischen war es, eine Art Schattenregierung zu installieren. Oft war es dazu notwendig, die Bevölkerung einzuschüchtern und das Vertrauen in die Sicherheitskräfte zu untergraben.

 

Am Morgen des 31. März verließ die Kompanie mit ihren drei Zügen, benannt nach den Buchstaben des NATO-Buchstabieralphabets Foxtrot, Golf und Hotel, sowie weiteren Unterstützungskräften das Feldlager und marschierte mit ihren gepanzerten Fahrzeugen nach Chahar Darrah. Ziel war das Polizeihauptquartier (PHQ) des Distrikts, in dem die Kompanie für die folgenden fünf Tage ihre Operationsbasis haben sollte. Vor Ort wurde die Fahrzeugkolonne bereits erwartet. Die 2. Infanteriekompanie freute sich, nach mehreren Tagen Aufenthalt in diesem unruhigen Gebiet wieder in das Feldlager zurückkehren zu können. Bevor es aber für die abzulösende Truppe losgehen konnte, wurden noch schnell Informationen ausgetauscht. Ich besprach mit meinem Kompaniechefkameraden die Lage. Vor allem ging es um jüngste Erkenntnisse über den Gegner, die Aufständischen. Aber auch aktuelle Informationen über das Verhalten der Zivilbevölkerung und der afghanischen Polizei wurden an die frischen Kräfte weitergegeben. Gerade die unübersichtliche Gemengelage verschiedenster Akteure machten das Gewinnen und Weitergeben eigener Erkenntnisse als Grundlage für eigenes Handeln im Raum notwendig.

Nach und nach verließen dann aber die Fahrzeuge der alten Truppe die Polizeistation und meine Kompanie richtete sich in einem schäbigen Rohbau, der unmittelbar neben dem neu erbauten Hauptgebäude der Polizei errichtet worden war, ein. Es wurden aber nicht nur Feldbetten aufgestellt und Vorräte sowie Wasser von den Fahrzeugen abgeladen, auch fanden weitreichende Waffen und Beobachtungsgeräte ihren Weg in ausgebaute Stellungen auf dem Dach der provisorischen Unterkunft. Auch wenn ein Angriff Aufständischer auf diesen von einer zwei Meter hohen Mauer umgebenen Komplex eher unwahrscheinlich schien, so beobachteten doch einige meiner Soldaten ständig die Umgebung. Keine drei Kilometer weiter südlich, auf den Höhen 431 und 432, übernahmen ebenfalls Kräfte der Kompanie die Stellungen und richteten ihre Waffen ein.

Wie bei jeder Ankunft im PHQ suchte ich zuerst das Gespräch mit dem lokalen Polizeichef. Bei einer Tasse Tee tauschte man wie gewohnt zunächst einmal Höflichkeiten aus. Darüber hinaus war die allgemeine Sicherheitslage im Distrikt Gesprächsthema.

Nach kurzer Zeit wurden aber auch Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen afghanischen Polizisten und deutschen Soldaten für die nächsten Tage ausgelotet. Wir einigten uns zunächst auf die gemeinsame Absicherung eines zukünftigen Bauprojekts, für das am folgenden Tag eine Vermessung durch afghanische Architekten stattfinden sollte. Über die Pläne der Kompanie sprachen wir dagegen kaum. Ich hielt mich bedeckt, um zu verhindern, dass diese Informationen möglicherweise weitergegeben und in falsche Hände geraten konnten. Auch wenn die Zusammenarbeit mit afghanischen Sicherheitskräften ohne einen gewissen Vertrauensvorschuss nicht denkbar war, so war dennoch Vorsicht geboten. Zu undurchsichtig waren ethnische und vor allem auch familiäre Verflechtungen, die es ermöglichten, dass die Aufständischen an Informationen aus dem Bereich der afghanischen Polizei oder Armee gelangten. Am Abend saß das Offizier- und Unteroffizierkorps der Kompanie wie üblich zusammen und ich wies in die Aufträge für den nächsten Tag ein. Noch schien die bevorstehende Woche mehr oder weniger wie die vergangenen zu werden.

Am ersten April marschierten Teile der Kompanie von der Polizeistation zur sogenannten Westplatte, ein Hochplateau etwa zehn Kilometer westlich der Stadt Kunduz. Gemeinsam mit einer Handvoll afghanischer Polizisten wurde dort eine weiträumige Sicherung um die zukünftige Baustelle eines neu geplanten Dorfes angelegt. Architekten, Projektleiter und weitere Personen, beladen mit Bauplänen und Vermessungsequipment, liefen in dem kargen Gelände geschäftig auf und ab.

Auch der höchste zivile Vertreter des Distrikts gab sich die Ehre. Die Lage an diesem Tag war außerordentlich ruhig. Der Polizeichef lud sodann auch zum Picknick ein. Auf freier Fläche wurden kurzerhand Decken ausgebreitet und Lamm, Brot sowie Tee gereicht. Neben dem Polizeichef waren auch der örtliche Geheimdienstchef und der Distriktmanager anwesend. Für mich eine gute Gelegenheit, das Vertrauen der wesentlichen Akteure im Einsatzraum der Kompanie zu gewinnen bzw. zu stärken.

Nach Rückkehr in das Polizeihauptquartier begann die Kompanie mit den Vorbereitungen für den nächsten Tag. Die umfassende Operation war bereits Tage zuvor im Feldlager geplant worden und sollte den Schwerpunkt des mehrtägigen Aufenthalts im Einsatzraum bilden. Nachdem die Bewegungsfreiheit deutscher und afghanischer Kräfte in den Monaten zuvor durch Angriffe und IEDs immer weiter eingeschränkt worden war, sollte nun zunächst der Raum südlich der Höhe 432 wieder für eigene Kräfte zugänglich gemacht und damit auch der so wichtige Kontakt zur Bevölkerung ermöglicht werden. Da davon auszugehen war, dass die Aufständischen zahlreiche Sprengfallen sowohl in die Hauptverbindungsstraße durch das südliche Chahar Darrah, die sogenannte Little Pluto, als auch in die Zufahrten zu den anliegenden Dörfern eingebracht hatten, war die Operation im Kern als ein IED-Sweep, ein gezieltes Absuchen der Wege nach vergrabenen Sprengfallen und deren Räumung durch speziell ausgebildetes Personal, geplant.

Absicht der Kompanie für den nächsten Tag war es, zunächst die Hauptverbindungsstraße Little Pluto, ausgehend von den vordersten Stellungen bei der Höhe 432, etwa einen Kilometer nach Süden und dann im weiteren Verlauf die Zufahrt zum Dorf Isa Khel auf Sprengfallen hin abzusuchen. Ich befahl am Abend die letzten Maßnahmen und sprach mit den Zugführern den Ablauf der Operation noch einmal im Detail durch. Die Nacht verlief ruhig. Über dem Einsatzraum kreisten Drohnen.

Während ein Großteil der Kompanie versuchte, ein paar Stunden Schlaf zu finden, verfolgte der Fliegerleitoffizier auf seinem Laptop aufmerksam die Aufnahmen der fliegenden Aufklärungssysteme, die per Funk in Echtzeit übertragen wurden. Etwas unruhig wurde er, als er eine Person beobachtete, die sich mitten auf der Little Pluto, der Marschstraße für den folgenden Tag, zu schaffen machte. Als die Person das Surren der Drohne über sich zu bemerken schien, verschwand sie in den Feldern. Sollte hier tatsächlich jemand versucht haben, eine Sprengfalle in die Straße einzugraben? War es möglicherweise sogar gelungen, das Vorhaben zum Abschluss zu bringen, bevor die Drohne die unbekannte Person stören konnte? Wir mussten es unbedingt überprüfen, bevor eigene Kräfte den Bereich passieren konnten.

Am Morgen des 2. April, es war Karfreitag, verließ gegen acht Uhr zunächst der Golf-Zug gemeinsam mit den Spezialisten zum Finden und Räumen von Sprengfallen das Polizeihauptquartier. Die Beobachtungen in der Nacht hatten mich veranlasst, zunächst die Stelle, an der möglicherweise eine Sprengfalle vergraben worden war, gründlich überprüfen zu lassen. Nach kurzer Zeit gab der Zugführer aber Entwarnung. Es war nichts zu finden. Die Straße war frei und der Golf-Zug fuhr wie geplant weiter Richtung Süden bis zur Höhe 432. Ihm folgte der Hotel-Zug, der u. a. über zwei Schützenpanzer Marder verfügte.

Die Soldaten des Foxtrot-Zuges befanden sich nunmehr bereits seit zwei Tagen in ihren Stellungen auf den Höhen 431 und 432 und beobachteten das umliegende Gelände. Für die anstehende Operation konnten sie mit ihren weitreichenden Waffen sowie mit Scharfschützen das Vorgehen der Hauptkräfte der Kompanie überwachen. Bevor es allerdings losging, versammelte ich auf der Höhe 432, dem Ausgangspunkt für den IED-Sweep, die Zugführer und den Fliegerleitoffizier um mich. Von der Anhöhe aus hatte man einen guten Blick in den Einsatzraum. Zudem galt es, letzte Details abzusprechen.

Währenddessen saßen unterhalb der Höhe die Männer des Golf-Zuges sowie belgische und deutsche Kampfmittelräumkräfte von ihren Fahrzeugen ab und bereiteten sich für die Suche nach Sprengfallen im Zuge des weiteren Straßenverlaufs vor. Eine weitere Gruppe des Golf-Zuges fuhr derweil unter der Führung des stellvertretenden Zugführers über einen bereits zwei Wochen zuvor erkundeten Umgehungsweg in einen Vorort Isa Khels. Der schmale Feldweg, der etwa 500 Meter nördlich der Hauptzufahrt nach Isa Khel verlief, lag im Beobachtungsbereich der Höhe 432.

Dieser Weg war frei von Sprengfallen und ermöglichte es so, mit einigen Soldaten Stellungen in der Flanke und schließlich auch vor den nach IEDs suchenden Kräften zu beziehen.

Neben der Sicherung der Suchkräfte der Kompanie kam dieser Gruppe aber noch eine weitere Bedeutung zu. Sie versuchte, Kontakt zu der Bevölkerung des Vorortes aufzunehmen, die sich außerhalb der Häuser und auf den Feldern aufhielt. Nur allzu oft ließen sich aus dem Verhalten der Dorfbewohner Rückschlüsse auf bevorstehende Angriffe ziehen. An diesem Tag war jedoch alles ruhig und einige Menschen hatten sich nur wenige Hundert Meter von den Soldaten entfernt zu einer Feier versammelt.

Inzwischen hatten alle Soldaten der Kompanie ihre Stellungen bezogen. Auf den beiden Höhen überwachten die Männer des Foxtrot-Zuges das Gebiet weiträumig. In der linken Flanke, angelehnt an den Vorort von Isa Khel, hatte die Gruppe des Golf-Zuges ihre vorgeschobene Position eingenommen und sicherte nach Osten, wo sich auch das Hauptdorf befand. Unterhalb der Höhe 432 stand eine Gruppe des Hotel-Zuges mit dem Beweglichen Arzttrupp (BAT, vergleichbar einem Notarzt und seinen Rettungssanitätern) als Reserve bereit.

Auf der Little Pluto bewegten sich nun Meter für Meter die Hauptkräfte des Golf-Zuges und die Kampfmittelabwehrspezialisten in Richtung Süden vor. Sie suchten zu Fuß, ausgerüstet mit Metalldetektoren und Harken, auf und neben der Straße nach Anzeichen für vergrabene Sprengfallen. Die Fahrzeuge folgten ihnen langsam. Ziel des ersten Abschnitts war eine Kreuzung, an der die Hauptzufahrt nach Isa Khel abzweigte. Dort sollten auch die beiden Schützenpanzer Marder ihre Stellungen beziehen, die zunächst noch den Suchkräften im Schritttempo folgten. Der Fliegerleitoffizier und ich verfolgten von der Höhe 432 das Geschehen. Hier hatten wir in dieser Phase der Operation den besten Überblick. In der Luft kreiste eine Drohne, um eine Bedrohung meiner Kräfte möglichst frühzeitig zu erkennen.

Die Lage an diesem Freitag schien äußerst ruhig. Nichts deutete auf einen Angriff der Aufständischen hin. Auch die Soldaten in dem Vorort meldeten keine Auffälligkeiten. Um weiter in Richtung Isa Khel aufzuklären, starteten sie eine Miniaturdrohne. Doch der kleine Hubschrauber, der in der Lage war, Bilder in Echtzeit zu übertragen, stürzte auf einem Feld ab. Ein vierköpfiger Spähtrupp, der abgesessen im weiteren Verlauf des Vorortes aufklärte, bekam vom Zugführer den Auftrag, nach dem havarierten Fluggerät Ausschau zu halten.

Gegen 12 Uhr hatten die Suchkräfte die Kreuzung erreicht. Es wurde keine einzige Sprengfalle gefunden. Während sich nun die Suchkräfte nach einer kurzen Pause darauf vorbereiteten, von der Kreuzung aus weiter die Hauptzufahrt nach Isa Khel abzusuchen, begaben sich die Schützenpanzer zügig in die geplante Position. Zusätzlich wurden Scharfschützen im Bereich der Kreuzung ausgelegt. Sie bezogen ihre Stellung auf dem Dach eines unbewohnten Hauses, um möglichst weit wirken zu können. Ich nutzte die Gelegenheit und verschaffte mir vor Ort ein Bild von der Lage.

Nach einem kurzen Gespräch mit dem Zugführer des Golf-Zuges sowie dem Führer der Pionierkräfte wurde die Operation fortgesetzt.

Kurz vor 13 Uhr beobachteten die Soldaten in dem Vorort Isa Khels, wie Dorfbewohner und Bauern die Szenerie verließen. Ein untrügliches Zeichen für einen unmittelbar bevorstehenden Angriff. Aber anders als noch zwei Wochen zuvor, als es der Kompanie gelungen war, einen Angriff des Feindes frühzeitig aufzuklären und schließlich zurückzuschlagen, blieben diesmal weitere Aufklärungsergebnisse aus. Plötzlich durchbrachen Schüsse die Stille. Zunächst lag der Spähtrupp, der sich bis an die nordöstlichen Ausläufer des Vorortes vorgearbeitet hatte, unter Feuer.

Nur wenig später wurden auch die Suchkräfte sowie die Soldaten auf der Höhe 432 beschossen. Die Suche nach Sprengfallen wurde sofort abgebrochen und das Feuer erwidert. Allerdings waren die feindlichen Stellungen nur schwer auszumachen. Die Angreifer kämpften aus ummauerten Gehöften heraus und nutzten die Bewässerungsgräben zwischen den Feldern und den zum Teil dichten Bewuchs, um unerkannt ihre Stellungen zu wechseln. Schnell wurde mir klar, dass es sich hier um einen groß angelegten, koordinierten Angriff des Gegners handelte. Etwa 40 Aufständische attackierten die deutsche Kompanie mit Kalaschnikows, Maschinengewehren vom Typ PKM und RPG-7-Panzerfäusten von drei Seiten.

Heftiges Feuer kam vor allem aus dem Dorf Isa Khel im Osten und dem Dorf Quatliam, das etwa 500 Meter südlich der Kreuzung lag. Die dort postierten Schützenpanzer feuerten mit ihren 20-Millimeter-Kanonen auf die feindlichen Stellungen. Auch die Scharfschützen bekämpften vom Dach des verlassenen Gebäudes, selbst unter Feuer liegend, gezielt die Angreifer. Von der Höhe 432 führte der Foxtrot-Zug ebenfalls mit Scharfschützen sowie vor allem der Granatmaschinenwaffe, einem Granatwerfer mit einer großen Reichweite, den Feuerkampf.

Hauptmann Trenzinger – zu diesem Zeitpunkt als Chef der Schutzkompanie noch im PRT Kunduz

Ich saß in einem Baucontainer, in dem sich auch mein Dienstzimmer als Kompaniechef der Schutzkompanie des PRT Kunduz befand, als der penetrante Rufton meines Tetrapolfunkgerätes ertönte. Dieses Gerät, ursprünglich als Baustellenfunk entwickelt, hatte Einzug in die Bundeswehr gehalten, da es kryptiert und somit abhörsicher war. Damit war gewährleistet, dass ich Tag und Nacht erreichbar war, ständig und immer. Ich nahm den Ruf etwas genervt entgegen und vernahm die Stimme des J3, des Operationsoffiziers in der taktischen Operationszentrale (TOC): »Hier ist der J3. Ich informiere Sie darüber, dass wir die IRF alarmieren und in Marsch setzen. Finden Sie sich in der TOC ein.« Dies ließ meinen Puls noch nicht höher schlagen.

Die Immediate Reaction Force (IRF) diente als schnelle Eingreifreserve des PRT Kunduz und wurde abwechselnd durch einen Infanteriezug der Kampfkompanien gestellt. Wenn es draußen einmal Schwierigkeiten gab, musste sie in der Lage sein, binnen 15 Minuten abzumarschieren, um im Operationsraum zu unterstützen.

Am zweiten April 2010 wurde sie durch den Charlie-Zug meiner Schutzkompanie gestellt. Es kam öfter vor, dass die IRF alarmiert und irgendwo voraus stationiert wurde, um schon bei Anbahnung einer schwierigen Situation eine kürzere Reaktionszeit zu haben. Ich machte mich sofort auf den Weg zur TOC. Kaum hatte ich den Container verlassen, konnte ich sehen, wie sich auf einer Parallelstraße innerhalb des Feldlagers mein Charlie-Zug mit Fahrzeugen in Richtung Ehrenhain bewegte.

Der Ehrenhain war ein großer Platz, kurz hinter der Einfahrt des Feldlagers, auf dem sich ein Ehrenmal zum Gedenken an unsere gefallenen und verwundeten Kameraden befand. Zugleich war es der Ort, an dem die Patrouillen auffuhren, um ihre Marschvorbereitungen abzuschließen oder die Marschnachbereitung zu beginnen. An diesem Tag unterbot sich der Charlie-Zug mal wieder selbst, was die Zeit zwischen Alarmierung und Marschbereitschaft betraf. Ich nahm das mit Zufriedenheit und Stolz zur Kenntnis und erreichte mit besser werdender Laune die TOC.

Mein Lächeln fror augenblicklich ein und muss wohl fast fratzenhaft gewirkt haben, als ich den Raum betrat. Ich hörte die angespannte, beunruhigte Stimme meines langjährigen Kameraden, des Kompaniechefs der 1. Infanteriekompanie. Unsere Kompanien hatten nicht nur gemeinsam die Einsatzvorausbildung durchlaufen, wir beide hatten auch weite Abschnitte unserer Offiziersausbildung gemeinsam absolviert. So wie in diesem Moment hatte ich ihn jedoch noch nie erlebt. Die sonst spürbare Ruhe und Gelassenheit war seiner Stimme entwichen und ohne genau zu hören, was er gerade meldete, wusste ich, dass er arg in der Klemme stecken musste. Mein Charlie-Zugführer stand vor dem Lagebrett und wurde vom Lageoffizier in die aktuelle Situation eingewiesen. Ich stellte mich sofort dazu, um mitzubekommen, was gerade los war. Parallel lauschte ich den stetigen Meldungen.

Hauptmann S. – Distrikt Chahar Darrah, südlich Höhe 432

In meiner Stellung im Graben neben der Little Pluto ging ein Funkspruch nach dem anderen ein. Plötzlich meldete der Spähtrupp am Rande des Vorortes einen Verwundeten. Der Spähtruppführer, ein Oberfeldwebel, war mehrfach am Bein getroffen worden und lag auf einem Feld. Das offene Gelände sowie massives Feuer des Feindes aus Stellungen keine hundert Meter entfernt machten eine Bergung durch die drei anderen Kameraden des Spähtrupps unmöglich. Die Aufständischen versuchten, die Lage für sich zu nutzen und näher an den Verwundeten heranzukommen.

Jedoch gelang es dem am Boden liegenden Spähtruppführer auch unter dem Einsatz von Handgranaten, die schließlich bis auf 30 Meter herangekommenen Angreifer abzuwehren. Derweil rückten die Hauptkräfte des Golf-Zuges mit ihren Fahrzeugen und auch zu Fuß zu den Kräften im Vorort vor und verstärkten diese. Unter tosendem Gefechtslärm koordinierte der Zugführer seine Männer und stellte eine Gruppe zur Bergung des verwundeten Oberfeldwebels zusammen.

Unter anhaltend starkem Feindfeuer kämpften sich die Soldaten im Zuge eines schmalen Weges durch die Ortschaft zu dem Verwundeten vor, als ein Stabsgefreiter durch ein Kalaschnikow-Geschoss im Bereich der Schulter getroffen wurde. Von außen nicht erkennbar, wanderte das Geschoss im Inneren seines Körpers und verwundete den Soldaten schließlich tödlich. Sanitäter versorgten ihn und versuchten, ihn zu reanimieren.

Hauptmann Trenzinger – Im PRT Kunduz