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Haupttitel

Paul Schulz

Atheistischer Glaube
 

Eine Lebensphilosophie ohne Gott
marixverlag

Inhalt

Einleitung

1. Auf dem Weg zum eigenen Selbst

[1] Bevormundungszwänge durch die Eltern

Befreiung von der Bevormundung der Eltern

[2] Sozialisierungszwänge durch die Kultur

Befreiung von der Bevormundung der Kultur

[3] Fremdbestimmung durch die Religion

Befreiung aus der Bevormundung der Religion

[4] Befreiung als Prinzip der Ich-Werdung

[5] Atheistisches Manifest 1 – 5

2. Rationale Geburt

[1] Grenzüberschreitung nach vorn

[2] Der kulturgeschichtliche Zweifel an Gott

[3] Der tagesaktuelle Zweifel an Gott

[4] Der ganz persönliche Zweifel an Gott

[5] Atheistisches Manifest 6 – 10

3. Bekennender Atheist

[1] Was heißt – ich erkenne?

[2] Religiöser Glaube contra naturam

[3] »Falsifizieren« als objektive Denkmethode

[4] Atheistischer Glaube als existenzielle Entscheidung

CODEX ATHEOS Mein atheistischer Glaube in sieben Leitlinien

[5] Atheistisches Manifest 11 – 15

4. Rückkehr zur Natur

[1] Totale Diesseitigkeit

[2] Geburt und Leben

[3] Sterben und Tod

[4] Das Nichts

[5] Atheistisches Manifest 16 – 20

5. Gott – ohne Gott

[1] Der offenbarte Gott

[2] Der erdachte Gott

[3] Die Vielfalt der Gottesvorstellungen

[4] Der eigene Gott als Schritt zum Atheisten

[5] Atheistisches Manifest 21 – 25

6. Der starke, autonome Mensch

[1] Vom schwachen zum starken Menschen

[2] Utilitaristische Humanität

[3] Der autonome Mensch und die res publica

[4] Der autonome Mensch und die res privata

[5] Atheistisches Manifest 26 – 30

7. Die Nützlichkeit des Schönen

[1] Ethik kontra Ästhetik?

[2] Die Sinnlichkeit der Erotik

[3] Spiritualität als Erfahrung des Erhabenen

[4] Kosmische Erhabenheit

[5] Atheistisches Manifest 31 – 35

Fußnoten

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Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d-nb.de abrufbar.
 
Alle Rechte vorbehalten
 
Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2011
Covergestaltung: Nele Schütz Design, München
Bildnachweis: Nele Schütz Design, München
Lektorat: Jens Ossadnik, Aach
eBook-Bearbeitung: Medienservice Feiß, Burgwitz
Gesetzt in der Palatino Ind Uni – untersteht der GPL v2
 
ISBN: 978-3-8438-0035-8
 
www.marixverlag.de


Einleitung

[Sokratisches Fragen]

Wenn man sich mit einem Menschen lange beschäftigt hat, weiß man natürlich viel über ihn. Mir geht das so mit Sokrates, dem Philosophen aus dem antiken Athen. Schon in der Schule hat mich dieser Mann fasziniert, weil er mit den Menschen, gerade auch mit jungen Menschen, so locker über wichtige Fragen ihres Lebens gesprochen hat. Erst später habe ich dann voll begriffen, welche große Bedeutung sein Denken für unsere moderne Zeit heute hat. Er ist schon eine der ganz wichtigen Gestalten der abendländischen Geistesgeschichte.

Trotzdem habe ich noch ein ganz anderes persönliches Bild von diesem Sokrates, gleichsam einen »selbst gefühlten Sokrates«, so wie ich ihn gerne vor Augen habe: Ein älterer Herr, ein bisschen Professor Unrat, denn er konnte zusammen mit jungen Leuten viel Blödsinn machen. Aber mit offenen Augen und einem klaren Blick, immer hellwach und auf dem Sprung nachzufassen und zu hinterfragen.

Ich stelle mir die Begegnungen mit ihm ganz plastisch vor: Kommt ein junger Mann zu Sokrates. Sie reden über dies und das, Sokrates war ’ne Klatschtante. Zu einem wichtigen Punkt sagt der junge Mann: – Das weiß ich jetzt aber ganz genau, das ist nämlich so. Sokrates hört ihm geduldig zu, nickt freundlich. Als der junge Mann fertig ist, sagt Sokrates: – Das finde ich wirklich toll, was du da gerade erzählt hast und dass du das so genau und sicher weißt. Der junge Mann lächelt stolz. – By the way, sagt So­krates, hast du bei deiner Antwort eigentlich auch Folgendes bedacht? Fast erschrocken sagt der Mann: – Mensch nein, daran habe ich überhaupt nicht gedacht.Na gut, sagt Sokrates, geh nach Hause und in acht Tagen kommst du wieder und erzählst mir, was du zu deiner Sache rausgekriegt hast.

Pünktlich nach acht Tagen kommt der junge Mann zurück und ruft freudestrahlend schon von weitem: – He, Sokrates, die ganze Woche habe ich über deine Frage nachgedacht. Jetzt weiß ich es, es ist so und so. – Unglaublich, sagt Sokrates, wie schnell du das erkannt hast. Jetzt wissen wir es doch richtig. Aber hast du dabei auch folgende Frage überlegt? Der junge Mann guckt verblüfft, zögerlich irritiert. – Warum ist mir das nicht selber eingefallen? Du hast Recht, das muss ich auch bedenken. – Natürlich, sagt Sokrates, darüber musst du auch nachdenken. Geh nach Hause, und wenn du es weißt, kommst du wieder und erzählst es mir. Ich bin gespannt.

Nach 14 Tagen kommt der junge Mann wieder. – He, Mann, das war ganz schön schwer. Aber ich hab es raus. Es kann nur so und so sein. – Glückwunsch, sagt Sokrates, jetzt wissen wir es. Es kann nur so ein, wie du es jetzt sagst. Komm, darauf trinken wir zusammen ’n Bier. Beim Prost zum dritten Bier sagt Sokrates: – Übrigens zu deiner Antwort von vorhin, du hast dabei doch auch sicherlich über Folgendes nachgedacht? – Hab ich nicht, braust der Mann auf. – Dann kann unsere Antwort doch wohl kaum richtig sein, oder? Denke noch einmal darüber nach. Den letzten Satz hat der Mann gar nicht mehr gehört. Weg war er.

Es dauert ziemlich lange. Doch dann bekommt Sokrates von dem jungen Mann eine Einladung zum Abendessen. Sokrates wird freundlich empfangen. – Eigentlich wollte ich nicht mehr mit dir reden, Alter, sagte der junge Mann vorwurfsvoll. Aber ich weiß jetzt wirklich, wie es richtig ist, es kann nur so sein. Sokrates sieht ihn über seine Brille ruhig an und sagt: – Na siehst du. Doch gut, dass ich gefragt habe, sonst wüsstest du es jetzt nicht. Das Abendbrot schmeckt beiden. Entspannte Stimmung. Dann steht Sokrates beim Abschied schon an der Tür wie Kommissar Colombo, der aus der Krimiserie, etwas schluffrig, die Hand an die Stirn gelegt, so als sei er schwer in Gedanken. Zögerlich hebt er an: – Da hab ich noch eine Frage. Hast du auch … – Nein, darüber habe ich nicht nachgedacht, brüllt es durchs Haus ...

Es ist berichtet, dass Menschen damals den Sokrates geschlagen, richtig verhauen haben. Sie sind bei seinem Nachfragen schlicht ausgerastet. Sie waren so genervt, weil sie den Eindruck hatten, dass seine Fragerei ihnen langsam den Boden unter den Füßen wegzog. In der Tat. Sokrates nahm ihnen die Sicherheit zu sagen, das weiß ich ganz genau. Er meinte vielmehr: Im Grunde weiß auch ich es nicht ganz genau. Deshalb bleib locker, Freund. Lass uns beide darüber lieber noch einmal nachdenken, oder?

– Mein persönlicher Sokrates ist doch eigentlich ein ganz netter Kerl, sage ich zu meinem Freund. – Ich weiß, sagt mein Freund, du magst den Sokrates sehr. Du hast viel von ihm gelernt, nicht?

Nun ja: Ich mag auch nicht, wenn Menschen immer sofort behaupten, alles richtig zu wissen, wenn Menschen also mehr antworten als fragen. Ich fände es viel besser, wenn sie sich selber häufiger, vor allem ernsthafter hinterfragen würden. Sie wären sicherlich entsetzt, auf welch dünnen Beinen ihre Antworten stehen. Doch nicht die Fragen, sondern ihre vielen falschen Antworten machen die Menschen unsicher.

Ich mag auch nicht, wenn Menschen sich bei ihrer Antwort vorschnell auf Gott berufen. – Warum ist das Meer so salzig?Das hat der liebe Gott gemacht. Das sagt doch gar nichts. Das zeigt doch nur, dass der Antwortende es nicht weiß. Wüsste er es, würde er sofort richtig antworten. Er weiß es nicht, also gibt er mit Gott eine Scheinantwort, die rein gar nichts erklärt. – Wie ist die Welt entstanden?Vorsicht! Sage ich mit Sokrates. Vielleicht sollten wir jetzt erst einmal viele Fragen stellen …

Deshalb ist dieses Buch für alle Fragen offen. Fragen bedeutet dabei nicht: – Ach, ich frage mal. »Fragen« bedeutet: Ohne Gott muss so vieles Alte in Frage gestellt werden, muss vieles ganz neu hinterfragt werden – sachbezogener, vom Bewiesenen her, dialogisch, auf gleicher menschlicher Augenhöhe, ohne ständigen Blick in den Himmel oder Herumkramen in der Dogmenkiste.

Ich gebe zu: Solche Fragen können gefährlich sein. Manchmal sind sie ja nur ein äußerst interessantes Gedankenduell. Manchmal sind sie ein knallharter Kampf um Durchsetzung von Positionen. Manchmal sind sie die einzige Chance, sich aus einer Lebenskrise zu befreien. Dann vor allem muss man mutige Fragen stellen, um den alten Denk- und Lebensansatz insgesamt außer Kraft zu setzen und mit einer neuen Lebensphilosophie durchzustarten. Da gilt dann nur eins: Be ready for take off!

Der Aufbau dieses Buches hat zwei Besonderheiten:

Zum einen: Jedes der sieben Kapitel beginnt mit einer kleinen Geschichte aus dem persönlichen Leben in der Absicht, locker in das Thema einzuführen. Kein bedeutungsschwerer Einstieg also. Obwohl: Irgendwo im Kapitel spiegelt sich die Geschichte dann natürlich wider.

Zum anderen: Jedes Kapitel wird in seinem letzten Teil [5] mit fünf Schlussthesen abgeschlossen. Sie fassen den Hauptgedankengang noch einmal zusammen und bilden das Ergebnis des Kapitelthemas.

7 Kapitel x 5 Thesen ergibt in summa 35 Thesen.

Mit ihnen steht die LEBENSPHILOSOPHIE OHNE GOTT

in ihren einzelnen Grundpositionen sofort zur Verfügung.

Diese 35 Thesen insgesamt sind eine in sich geschlossene
Thesenreihe zum Gesamtthema ATHEISTISCHER GLAUBE.

Sie ist allein aus sich heraus zu verstehen:

Die Teile [5] entlang – eine Crash-Tour für die Eiligen.

Als eigenständigen Teil nenne ich diese 35 Thesen:

ATHEISTISCHES MANIFEST.

Paul Schulz im September 2008

1. Auf dem Weg zum eigenen Selbst

Natur kontra Kultur

[Zur Frage der Fremdbestimmung]

Über Wochen hatte ich sie beobachtet. Ein Amselpaar. Sie hatten ihr Nest an meiner Palisadenwand gebaut, gut zwei Meter hoch, mit Rosen bepflanzt. Das Nest saß etwa 60 – 70 Zentimeter im Abstand zur oberen Kante, in Entfernung zum Boden etwa mannshoch. Unten strich Nachbars Kater vorbei, taxierte immer wieder die Lage, bis er schließlich jedes Interesse verlor. Er hatte keine Chance. Das Vogelpaar hatte klug gebaut.

Die Rosenwand lief von meiner Terrassentür aus direkt in den Garten hinein. Das Nest saß kaum zwei Meter von mir entfernt. Ich hatte von meinem Schreibtisch aus verfolgt, wie das Pärchen ständig hin und her flog, das Nest erst im Rohbau fertigstellte, und es dann weich ausstaffierte. Eines Morgens saß das Weibchen fest im Nest. Der Partner flog weiter mit großer Geduld hin und her, brachte Futter an, fütterte sein Weibchen.

Dann war ich längere Zeit nicht da. Als ich wiederkam, fiel mir sofort auf, dass das Nest leer schien. Bevor ich richtig hingucken konnte, landete der eine Vogel mit Nahrung im Schnabel, stopfte sie ins Nest rein, flog sofort wieder weg. Jetzt sah ich, wie zwei, drei kleine Köpfe ihm gierig die Hälse hinterherreckten. Da landete schon die andere Amsel mit neuer Nahrung, stopfte sie in die Schnäbel. So ging es den Tag über. Immer war einer im An- und Abflug. Immer jieperten die Jungen hinterher.

Je größer die Jungen wurden, – ich sah jetzt ständig ihre Köpfe ungeduldig über dem Nestrand – desto hektischer flogen die Alten. Sie mussten mit dem immer größeren Hunger ihrer Jungen mithalten und immer schneller Nahrung anschleppen. Es war faszinierend, mit welcher Aufopferung das Elternpaar seinen Nachwuchs versorgte. Trotzdem mag eines der Jungen in dieser Phase nicht durchgekommen sein.

Ich war abends spät nach Hause gekommen, saß aber schon früh am Schreibtisch, Sonntag Morgen kurz nach acht, schöne Sonne und friedliche Morgenstille. Blick aufs Nest. Die Alte stand auf dem Nestrand, aber nicht dort, wo sie sonst immer mit dem Futter gelandet war, sondern genau gegenüber. Nichts war zu sehen von den beiden doch sonst schon so frechen Jungen.

Plötzlich hackte die Alte mit ein paar harten Schnabelhieben ins Nest. Gleich noch einmal. Aufgescheucht wälzte sich das eine Junge hoch, plusternd. Die Mutter trippelte ihm auf dem Nestrand nach, hackte auf das Junge ein, bis es unsicher und zitternd auf den Nestrand hüpfte und da oben wackelig auf den Beinen stand. Die Mutter wartete einen Augenblick ganz ruhig, hackte wieder zu, noch eher vorsichtig, wartete wieder, und dann noch zwei-, dreimal kräftig.

Die junge Amsel fiel mehr aus dem Nest, als dass sie flog. Sie stürzte zu Boden, fing verzweifelt an zu flattern, fing sich kurz vor dem Aufprall ab, schaffte einen ersten, einen zweiten Aufschwung über das üppig hohe Blumenfeld und rettete sich etwa 15 Meter entfernt mit letzter Kraft auf den Kirschbaum. Von ihm aus hatten die Eltern wochenlang den Anflug auf das Nest gemacht. Jetzt saß dort ängstlich aufgeplustert das Junge. Entsetzt entdeckte ich den Kater in der anderen Gartenecke.

Die Mutter zurück in Ausgangsposition. Wieder hackte sie ins Nest. Jetzt erhob sich das zweite Junge. Wieder trieb sie ihr Junges vor sich her, ließ ihm einen Augenblick auf dem Nestrand Zeit, hackte dann endgültig zu. Auch dieses fiel eher, als es flog, fing sich flatternd, schaffte den ersten Aufschwung knapp über das halbe Blumenfeld, setzte zum zweiten an, stieg hoch und stürzte ab wie ein Stein. Keine sichtbare Regung mehr. Die Mutter trippelte noch ein paar Schritte um den Nestrand herum bis zu der Stelle, wo sie immer gelandet und gestartet war, hob mit kräftigem Flügelschlag ab und flog weg in die entgegengesetzte Richtung. Das Nest blieb für immer leer.

Lange hat mich dieses Bild bewegt, eigentlich bis heute. Lässt sich aus diesem Naturablauf ein tieferer Sinn ableiten, ein Maßstab setzen? Die Natur – Beispiel wofür?

[1] Bevormundungszwänge durch die Eltern

Natürlich sind Eltern ein einzigartiger Schutzraum für ein heranwachsendes Kind, vorausgesetzt die Eltern verstehen sich auf ihr Kind hin positiv. Handeln sie gegen das Kind, ist das Kind fast hilflos Opfer der Eltern. Die Zahl der Väter und Mütter, die ihre Kinder nicht kindgerecht großziehen, steigt in unserer Gesellschaft stark an1. Zwangsläufig wächst damit auch die Zahl der durch ihre Eltern frühgeschädigten Kinder. Dass Jugendliche häufig schon im frühen Alter mit ihren Eltern brechen, deutet darauf hin, dass vieles von den Eltern aus völlig falsch läuft.

Viele Probleme unserer Gesellschaft werden also allein schon daran sichtbar, wie wenig es Eltern heute gelingt, ihre Kinder bestmöglich ins Leben zu führen. Zwar stehen nach der Geburt alle um den neuen Erdenbürger herum und sind begeistert, dass er da ist. Doch je älter die Kinder werden, desto stärker werden ihre Lebenschancen gerade auch von den Eltern verspielt. Sie unterdrücken deren eigene Willensentwicklung, statt sie immer besser zu qualifizieren. Sie verdrängen Probleme, statt sie gemeinsam zu lösen. Sie reglementieren engstirnig Lebenswünsche, statt sie orientierend zu coachen. Nicht einmal die Eltern selbst bilden die Lobby für das Eigenrecht und die Eigenfähigkeit ihrer eigenen heranwachsenden Kinder.

Spätere Generationen werden sich darüber aufregen, dass in unserer so emanzipierten Gesellschaft das Recht und die Würde des Kindes und damit die Kinder selbst von den Erwachsenen derart missachtet wurden, sind doch die Kinder in unserer Welt der Erwachsenen am meisten schutz- und förderungsbedürftig. Aber Kinder werden in ihrem humanen Recht auf kindgemäße Partnerschaft und Mitverantwortung in unserer Gesellschaft nicht ernst genommen und in ihrer persönlichen Eigenentwicklung rechtlich, gerade auch verfassungsmäßig, nicht ausreichend geschützt und abgesichert.

Als Beispiel für eingeschränkte Entwicklungsfähigkeit des Kindes können selbst Familien gelten, in denen die Eltern meinen, für ihr Kind positiv zu handeln. Positiv, indem sie ihm Zuwendung schenken nicht allein im notwendig Materiellen, sondern auch im menschlichen Miteinander. Diese Eltern werden unter Erklärungsdruck von Erziehungsproblemen mit Sicherheit sagen: Wir wollen doch nur das Beste für unser Kind.

Kaum etwas aber ist auf die Eltern hin so verdächtig wie dieser Satz2. Denn auch die Rechtfertigungen in Familien mit äußerst negativem Konfliktstress für die Kinder enden fast immer mit den Erklärungsversuchen der Eltern: Wir wollten doch nur das Beste für unser Kind. In diesem Satz selbst, genauer, in dem Denken der Eltern, die diesen Satz sagen, könnte das Grundproblem elterlichen Fehlverhaltens liegen, der Grund für das Auseinanderdriften von Eltern und Kindern, denn:

Was ist das Beste für das Kind? Wer bestimmt dieses Beste, setzt die Maßstäbe? Wirklich unkontrolliert die Eltern? Kann das Kind sein Bestes nur im Gehorsam gegenüber den Eltern finden? Wenn das Kind gegen die Eltern Widerstand leistet, verpasst es dann sein Bestes? Welches Mitsprache- und Einspruchsrecht aber hat das Kind selbst auf das hin, was sein Bestes sein soll?

Es wäre völlig falsch, zu glauben, die totale Bindung an Vater und Mutter sei das beste und höchste Ziel der Eltern-Kind-Beziehung. Diese These hat die BIBEL den Menschen über Jahrtausende als göttliche Maxime eingehämmert mit dem 4. GEBOT ihrer ZEHN GEBOTE3: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass es dir wohlgehe und du lange lebest auf Erden. Ein gutes und langes Leben gilt daher den Kindern als Belohnung für ein auf die Eltern positiv bezogenes Leben. Derartige Sinngebung des Verhaltens wird hier ausschließlich von den Kindern gefordert, nicht von den Eltern. Vom Verhalten der Eltern auf das Kind hin wird kein Wort gesagt.

Dieses Gebot haben seit je speziell die Väter für sich in Anspruch genommen und zu ihren Gunsten interpretiert. Denn solange das alte Patriarchatsprinzip galt, dass nämlich der Vater gleichsam der Stellvertreter Gottes in der Familie sei, war seine vorrangige Familienstellung damit eindeutig religiös legitimiert. Folglich genoss der Vater in der bürgerlich-christlichen Gesellschaft nahezu uneingeschränkte Autorität und Respekt.

Diesem autoritären Vater waren die Kinder gleichsam als Ausdruck ihres »Verehrens« zu bedingungslosem Gehorsam verpflichtet. Entsprechend war ihre Erziehung und damit ihr Kindsein streng untertänig. Jegliche Erziehungsbildung unterstand dem Willen und der Macht des Vaters. Alle Rechte liefen einseitig zugunsten des Vaters. Der Vater verwirklichte sich selbst in seiner Autorität auf Kosten der Kinder.

Das autoritäre Vaterideal hatte in unserer christlichen Kultur noch bis vor gut zwei Generationen volle Gültigkeit. Seine Legitimation (leider nicht überall seine eingeübte Praxis) ist erst in den letzten 50 Jahren in atemberaubender Geschwindigkeit zusammengebrochen. Durch den Verlust dieser Vaterlegitimation ist eine neue Gewichtung der Eltern-Kind-Beziehung entstanden, in der die Mutter eine zunehmend zentrale Bedeutung gewonnen hat.

Besonders einsichtig schlüsselt diesen elementaren Umbruch immer noch Elisabeth Badinter auf mit ihrer soziokulturellen Untersuchung DIE MUTTERLIEBE4 . In ihr weist sie nach, dass die moderne Mutterrolle keine naturgegebene ist, sondern eine Erfindung der bürgerlichen Gesellschaft Ende des 18. bis ins 19. Jahrhundert, also Produkt gesellschaftlich-kulturellen Wandels.

In dessen Folge ist das Handeln der Eltern heute in neuartiger Form durch die wachsende Dominanz der Mutter bestimmt als ein Liebesüberdruck von den Eltern auf die Kinder. Vor allem Mütter lassen ihre Kinder überhaupt nicht mehr los, decken sie zu mit ihrer Überfürsorge, nehmen ihnen mit ihrer Anteilnahme nahezu jeden eigenen Spielraum, erleben in der Jugend ihrer Kinder ihre Jugend noch einmal nach oder besser, erleben sie da überhaupt voyeurhaft zum ersten Mal. Es gibt hundert Gründe einer in Besitz nehmenden Anteilnahme, denn schließlich will man doch nur das Beste für das Kind.

Dies gilt auch, wenn Mütter diesem Mutterbild nur schwer oder gar nicht gerecht werden. Sie erfüllen dies Bild dann zwar nicht praktisch, aber sie haben jene Vorstellung so verinnerlicht, dass sie ständig Maß daran nehmen und sich damit ihr schlechtes Gewissen bilden, nicht so zu sein, wie sie meinen, sein zu müssen. Nicht selten bewirkt das schlechte Gewissen zumindest punktuell verstärkte Überliebe in Ersatzhandlungen, die demonstrieren sollen: Schaut her, so liebe ich mein Kind, ich bin eine tolle Mutter – bis hin zu einer besitzergreifenden Intensität, in der die Mutterliebe einem eher unreflektierten Kinderhass gleichkommt.

In summa: Das Grundproblem der heranwachsenden Kinder liegt gar nicht in einzelnen Negativerfahrungen mit den Eltern. Diese verfliegen als Einzeleindrücke meist schnell. Das Grundproblem liegt vielmehr in den permanenten Auseinandersetzungen mit dem elterlichen Überdruck, sei es unter dem Autoritätsgehabe des Vaters oder unter dem Liebesüberschwang der Mutter, also in einer permanenten Bevormundung durch die jeweilige ungehemmt egoistische Vater- oder Mutterdominanz über das Heranwachsen und Leben des Kindes.

Deren Zwänge verengen die Selbstentwicklung des Kindes und verfremden damit die Entfaltung des Selbst in unzulässiger Weise. Das Kind kommt dagegen mit seiner Meinungsfindung nicht zum Zuge, wird im Gegenüber zu den Eltern nicht in Selbstverantwortung gefordert, wird mangels partnerschaftlicher Dialoge in seiner eigenständigen Persönlichkeitsbildung unterdrückt.

Das Festhalten an der uneingeschränkten Meinungshoheit innerhalb der Familie wird von den Eltern oft durchgehalten bis ins eigene hohe Alte und gegen die Kinder bis in deren Erwachsenenalter durchgesetzt. Hier liegt oft der letzte Grund für die vielen Spannungen zwischen den Generationen, im Klammern der Eltern, in der Egozentrizität der Vorgeborenen, in deren Unfähigkeit loszulassen.

Befreiung von der Bevormundung der Eltern

Wie war das doch mit dem Beispiel der Amseln? Sie gewährten ihren Jungen den größtmöglichen Schutz und alle Fürsorge, solange diese hilflos waren. Sie setzten sich voll ein und taten alles für die Nachwachsenden in der Zeit, in der sie aus sich heraus noch nicht fähig waren, selbstständig zu ein.

Das Verhalten der Eltern änderte sich mit einem Schlag in dem Augenblick, als die Jungen flügge waren. Da ließen sie los, trennten sich! Sie setzten ihre Jungen in bedingungsloser Konsequenz frei – selbst unter dem Risiko des Verlustes. Gleichzeitig kehrten sie selbst zurück in ihr eigenes Leben. Richtig?

Der Vergleich zum Menschen ist natürlich nur bedingt übertragbar. Die Natur ist viel härter als das Humanum, das selbst zwingende Konsequenzen immer noch abzufedern versucht. Denn selbstverständlich ist der Weg des menschlichen Heranwachsens viel komplexer. Allein der höhere Kulturbezug schafft höherstufige Konditionen – auch für das Kind. Es muss länger heranreifen in viel differenzierteren Schritten. Das braucht Zuwendung und Solidarität über die primären Reifungsstufen hinaus.

Dennoch hat das Amselbeispiel auch für das menschliche Verhältnis Eltern – Kinder eine paradigmenhafte Gültigkeit, nämlich in dem zentralen Punkt: Allein das Selbstständigwerden des Kindes ist in allem das höchste Ziel. In der Erziehung geht es nicht um Selbstverwirklichung der Eltern, sondern um Lebensbefähigung der Kinder. Nicht um Existenzsicherung der Eltern, sondern um Zukunftssicherung der Kinder. Nicht um Lebensqualität der Eltern, sondern um Lebensqualifizierung der Kinder. Die Eltern brauchen keinen Schutzparagraphen, solange das Recht der heranwachsenden Kinder nicht gesichert ist.

Deshalb ist das höchste Ziel elterlicher Erziehung nicht die ständige und permanente Elternbindung, sondern die rechtzeitige Freisetzung des Kindes. Dieses Ziel Freisetzung ist überhaupt das ganz natürliche Wesen des Werdens eines jungen Menschen. Freisetzung und nicht permanente Bindung macht den Fortschritt der menschlichen Entwicklung von Anfang an aus. Entbindung, die Loslösung liegt von Anfang an im Werden des Kindes, denn:

– Schon die Geburt selbst ist die radikalste Freisetzung des Kindes. Die Natur riskiert hier einen äußerst gefährlichen Start, indem sie ein völlig unfertiges Wesen in ein völlig neues, sozialfeindliches Umfeld entlässt. In ihm muss das kleine Kind wie auch immer durchkommen. Dabei ist die Abnabelung ein ultimatives Datum ohne jegliche Möglichkeit des Zurück. Diese Freisetzung setzt sich im frühen Alter des Kindes konsequent fort in einer Reihe fortlaufender Neuerungen5, die alle in engen Zeitrhythmen ablaufen, also keinesfalls der Beliebigkeit unterliegen, sondern dem Naturzwang Schritt zu halten:

– Das Abstillen des Kindes. Indem das Kind von der Mutterbrust entwöhnt wird, vollzieht sich die Nahrungsaufnahme in Loslösung von einem festen Zentralpunkt und damit als Öffnung für beliebige Abgabequellen und Anlaufstellen.

– Das Krabbeln und Laufenlernen. Indem das Kind seine eigene Kraft der Fortentwicklung einübt, erwirbt es Mobilität als Loslösung von einem Fixpunkt und damit die Eroberung seiner Umwelt zunehmend über alle Begrenzungen hinaus.

– Das Trockenwerden des Kindes. Indem das Kind die Windeln erst und dann den Pott loswird und eigenständig zur Toilette geht, macht es nicht nur einen wesentlichen Schritt zur körperlichen Selbstreglementierung, sondern zur Eroberung seines Intim- und Sexualbereiches.

– Die sogenannte Trotzphase, der erste ganz große Schritt zum eigenen Ich. Sie ist das Einstiegssignal selbstbewusster Ich-Äußerung des Kindes gegen seine Außenwelt. Das Kind probiert die Kraft des Nein-Sagens und löst sich damit von der Notwendigkeit, immer Ja sagen zu müssen. Diesem Versuch gehen kleine, aber äußerst signifikante Stufen voraus:

Erstes eigenes Erkennen im Spiegeltest. Er zeigt, dass sich ein Kleinkind auf allererster Stufe zum ersten Mal als Selbst erkennt. Es nimmt mit seinem Spiegelbild Kontakt auf – und lächelt. Es beginnt ganz langsam zu begreifen, dass es selbst da ist.

Das erste Ich-Sagen. Kleinkinder sprechen von sich selbst zunächst in dritter Person: Weil Kolja nicht will, soll heißen, weil ich nicht will. Plötzlich sagt Kolja zum ersten Mal: Ich will nicht. Der große Philosoph Fichte hat sein einziges Glas Sekt in seinem Leben getrunken, als sein Sohn so zum ersten Mal Ich sagte. Diesen Augenblick nannte der Philosoph Fichte die eigentliche Ich-Werdung des Menschen, für ihn das hochwertigste Ereignis im menschlichen Leben überhaupt. Ich!

Aus eben dieser Bewusstwerdung entsteht der erste massive Widerstand des Kindes, die Trotzphase. Die Natur gibt dieses Probierfeld des Widerspruchs vor. Doch wie ist gerade in diesen Lebensmonaten des natürlichen Ungehorsams auf Kinder eingedroschen worden. Väter in ihrer ganzen Manneskraft – auch autoritätsgepolte Mütter – gehen auf das kleine Kind los in der Absicht, den Willen und den Widerstand des Kindes von Anfang an zu brechen, indem sie es zum Gehorsam zwingen, und damit demonstrieren, wo die Autoritätsgewalt liegt. Dagegen ginge es um Förderung des erwachenden Selbst, um Gestaltung der ersten bewussten Willensäußerung des Kindes.

Vom Trotzalter des Kleinkindes aus als wesentlicher Verselbstständigungsschritt sind hier jetzt nicht alle weiteren Stufenfolgen der Freisetzung des Kindes zu erklären. Im Gesamten gilt, genau zu beobachten und zu respektieren, in welcher Freisetzungsphase sich ein Kind auf seinem Weg flügge zu werden befindet. Die Unterstützung dieses Flüggewerdens, des Freiwerdens des Kindes, ist die Bringepflicht der Eltern.

Deshalb definiere ich gegen das schon zitierte Kind-Gebot der Bibel

Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren,
auf dass es dir wohlgehe und du lange lebest auf Erden

ein eigenes Eltern-Gebot:

Eltern haben grundsätzlich die vorausgehende

Verpflichtung gegenüber ihren Kindern,
sie bestmöglich ins Leben freizusetzen, damit es

ihren Kindern wohlergehe und sie lange leben auf Erden.

Eltern haben sich dabei so zu verhalten, dass ihre
Kinder ihnen vertrauen und sie respektieren können.

Das Heranwachsen des Kindes verstehe ich als einen ständigen Befreiungsakt von nicht fertigen Lebenszuständen und damit als ein Hineinwachsen in eine höhere Lebensstufe, als ein immer komplexeres Werden des Ich. Das Kind muss dabei selber ständig loslassen, um weiterzukommen. Loslösungen sind somit für das Kind immer wieder Befreiungsakte zur Unabhängigkeit und damit zum Wachsen in seiner Eigenperson.

Autoritäres Festhalten der Eltern aus vorgegebenen Prinzipien erzwingt deshalb notwendigerweise das Zuwiderhandeln der Kinder gegen das Festhalten am Vorgegebenen und damit gegen die Eltern. Ungehorsam ist das prinzipielle Anrecht der Kinder zur Selbsterfahrung! Bevormundungen zwingen Kinder folglich auch immer wieder zum Kampf um Freisetzung aus falschem Elternverhalten in autoritärer Vater- oder Mutterdominanz.

Erziehung als Orientierungshilfe ist dagegen die elterliche Fähigkeit, das Kind in seinen Begründungen und Meinungen frühzeitig ernst zu nehmen und seine Widersprüche mit Sachüberzeugungen zu steuern mit dem Ziel, seine Fähigkeit zur Selbstständigkeit zu fördern und damit zur prinzipiellen Loslösung gerade auch von den Eltern. Die letzte Freisetzung durch die Eltern wäre das gewollte und erklärte völlige Loslassen des Kindes in die Eigenständigkeit.

Das meint in allem nicht eine Selbstaufgabe der Eltern zugunsten der Kinder. Ganz im Gegenteil. Die elterliche Position ist in sich sowohl in allem notwendig autonom als glaubhaftes Gegenüber zum Kind auch als Widerspruchs- und Reibungsfläche. Das Eigenrecht der Eltern ist unantastbar. Das Ziel ist dabei statt einer romantischen Liebesabhängigkeit eine ehrliche Partnerschaft, in der Eltern wie Kinder zunehmend zu Freunden werden und sich gegenseitig achten: Der Vater Freund des Sohnes, der Sohn Freund des Vaters, ebenso Mutter und Tochter, Mutter und Sohn, Vater und Tochter – sich in jeweiliger Eigenständigkeit gegenseitig respektierende Freunde fürs Leben.

[2] Sozialisierungszwänge durch die Kultur

Denken und Handeln der Eltern sind Teil der Kultur, in der sie leben. Sie sind so ganz automatisch Vermittler der Kultur. Insofern ist ein Kind vom ersten Augenblick an eingebunden in den tradierten Kulturrahmen der Gesellschaft. Es beginnt schon mit der Art der Nahrung, mit der Sprache, mit den Erziehungsmethoden, mit allem, was die Eltern und die Familie in Inhalt und Form auf das Kind hin praktizieren. In dem Maß, in dem sich das Kind bewusst wird, nimmt es teil an der Kultur der Familie und damit an der Kultur überhaupt.

Wenn das Kind dann die ersten Schritte über die Familie hinaus macht, etwa in den Kindergarten, in die Schule, in den Sportverein, in den Kindergottesdienst oder auch nur zu Freunden in die Wohnung über die Straße, erfährt es Kultur im erweiterten Rahmen. Es trifft auf neue, abweichende Formen, die über das hinausgehen, was es von zu Hause kennt. Die Vielfalt der Kultur ist eine entscheidende Erweiterung seines Erfahrungshorizontes.

Zum einen erkennt das Kind dabei zunächst eher unbewusst Kultur als tragende Grundlage der Kommunikation. Es lernt soziales Verhalten in immer neuen Situationen und andersartigen Gruppen. Notwendig ist das schon, weil das Kind natürlich die Fähigkeit zum sozialen Verhalten in Gruppen und Situationen erwerben und ausprobieren muss. Zugleich muss es geltende Wertigkeiten in ihrer inneren Logik und in ihren Zusammenhängen und natürlich in ihren äußeren Folgen und Konsequenzen einschätzen lernen. Mit dem Begriff Sozialisation wird dieser Eingliederungsprozess des Kindes in den offenen Kulturraum beschrieben und dabei weitgehend als ein positiver Vorgang verstanden, nämlich als Anpassung des Individuums an allgemein geltende Normen und Regeln. Ohne derartige Erfahrungen würde ein Kind von Anfang an fremd zur Gesellschaft stehen.

Zum anderen aber erfährt das heranwachsende Kind gerade dabei Kultur zunehmend als Begrenzung des Ich. Es unterliegt immer stärker den Zwängen der sozialen Anpassung, indem es als natürliches Wesen mit seinen Wünschen und Bedürfnissen auf das kollektive Bewusstsein der Gesellschaft trifft und so ganz gezielt reglementiert und eingeschränkt wird. Speziell Kinder sind dem Prozess der Sozialisierung fast wehrlos ausgeliefert, weil sie schon von früh an ohne alternatives Bewusstsein unter dem Zwang fremdbestimmender Konditionierungen stehen.

Grundsätzlich besteht ein Urkonflikt zwischen der Kultur und den Interessen des Individuums von klein auf:

– Die Werte der Gesellschaft stehen gegen die Bedürfnisse des Ich. Ein Kulturraum bündelt die geistigen und sozialen Strömungen seiner Gesellschaft zu festgefügten Standards. Werte und Normen, Konventionen, Rituale und Umgangsformen sind allgemeine Direktiven des herrschenden kollektiven Bewusstseins. Sie schleifen dem Individuum die scharfen Ecken und Kanten so ab, dass es in der Gemeinschaft möglichst wenig aneckt. Dadurch entsteht eine widerspruchslosere Gesellschaft, in der das Gemeinschaftsleben kontrollierbarer abläuft.

– Die Bedürfnisse des Ich stehen gegen die Werte der Gesellschaft. Der Einzelne prallt immer wieder mit seinen Bedürfnissen und Wünschen auf die Festlegungen der Gesellschaft. Seinem persönlichen Spielraum werden dabei durch kollektive Normen Grenzen gesetzt. Individuelle Abweichungen vom Kollektiven werden stigmatisiert. Damit wird der Mensch in seiner persönlichen Entfaltung auf ein gewolltes Mittelmaß beschränkt, ja, notfalls sogar mit Gewalt unterdrückt, verfolgt, eliminiert.

Solche Zwänge sind in unterschiedlichen Gesellschaften äußerst verschieden, ohne dass sie für den Einzelnen je ganz ohne Gefahr sind. Zum Beispiel sind sie in unserer Gesellschaft heute viel liberaler als in der deutschen Gesellschaft vor einhundert Jahren:

Die wilhelminische Zeit damals, das deutsche Kaiserreich zwischen 1871 bis 1919, war vor allem unter Wilhelm II. eine besonders rigide Kulturepoche mit einer autoritären Wertegemeinschaft, in der das Ich des Einzelnen in seinem Eigenrecht stark bedroht war. Diese Zeit stand extrem unter dem Wertezwang: Gehorsam als eine unbedingte militärische preußische Disziplin, Ehre als ein extremer Korpsgeist der Offiziersklasse, Vaterland als ein chauvinistisches Nationalbewusstsein. Von diesen drei Stoßrichtungen her wurde von oben, von Gottes Gnaden, in die Gesellschaft hinein und damit auf den Einzelnen in seinem täglichen Alltag durchregiert.

Noch heute lohnt es sich, Literatur dieser Zeitepoche zu lesen, um den damaligen kollektiven Zwangsgeist zu erfassen, etwa EFFI BRIEST von Theodor Fontane aus dem Jahr 18956: Wie in einem Spiegelbild zeichnet Fontane in Effis Ehe die Verhältnisse der preußischen Gesellschaft um die Jahrhundertwende nach: Von Instetten, älterer Karrieremann im Staatsdienst, Heirat mit der noch unmündigen, aber standesgemäßen jungen Effi, Aufstiegsjahre in Hinterpommern, in denen sich Effi langweilt, schließlich berufliche und gesellschaftliche Anerkennung in Berlin und auch persönliches Glück mit seiner wenn nicht geliebten, so doch hochverehrten Frau.

Per Zufall entdeckt von Instetten Liebesbriefe an Effi aus den frühen Aufstiegsjahren. Die Intensität dieser Affäre bleibt im Dunkeln, vielleicht waren es nur einige Spaziergänge aus Langeweile. Von Instetten hält die Angelegenheit deshalb persönlich auch für eine Komödie. Doch gesellschaftlich sieht er sie sofort als Katastrophe. Zwar könnte er sie selbst noch abwenden, denn nur er allein weiß ja um die Existenz dieser Briefe. Doch ich habe keine Wahl, ich muss. Dem Ehrenkodex seines Standes opfert er in unerbittlicher Staatsraison seine Frau und mit ihr das gemeinsame persönliche Glück.

Dieser Ehrenkodex damals war die geballte Wucht der Werte und Normen dieser kaiserlich guten Gesellschaft. Sie lebte gegenüber der Obrigkeit in der absoluten Pflicht strengster Verhaltensvorschriften. Durch Erziehungsdrill von klein auf war das äußerliche Verhalten im Standesbewusstsein voll verinnerlicht, das heißt, die Rolle, die Mann und Frau zu spielen hatten, war gerade auch in ihren Begrenzungen genau vorgegeben. Abweichungen führten ohne Rücksicht auf den Einzelnen unweigerlich in die gesellschaftliche Katastrophe.

Die Bedürfnisse des Einzelnen als Mensch wurden entsprechend völlig ignoriert und damit unterdrückt. Dies eben macht Fontane mit Effi besonders an der Rolle der Frau sichtbar. Die Frau funktioniert an der Seite ihres Mannes. Vor der Ehe wird die junge Frau weder gefragt noch aufgeklärt, es wird über sie verfügt. In der Ehe nimmt sie alles fast wortlos duldend hin, hat keine Meinung zu haben. Im Konflikt selbst kommt sie nicht einmal zu Wort, weder zur Erklärung noch zur Rechtfertigung, sie wird ganz einfach ausgestoßen. Nach der Katastrophe ringt sie sich durch zur Einsicht, dass alles schon so seine Richtigkeit hätte. Ergebenheit als Selbstaufgabe aller Eigenrechte des Ich.

Befreiung von der Bevormundung der Kultur

Die Loslösung von einem derart überspitzten Kulturdruck auf den Einzelnen ist gesellschaftspolitisch ein höchst komplizierter und langwieriger sozialer Wandlungsprozess. Er geschieht nicht unmittelbar durch den einzelnen Menschen, denn der ist in der manipulierten Masse viel zu schwach, um alleine Veränderungen herstellen zu können. Er geht gewöhnlich als Opfer unter. Wandlungen vollziehen sich eher durch neue Einsichten und Theorien, die sich immer stärker gegen die herrschende Kultur durchsetzen. Prinzipiell kann man sagen: Auf Dauer zermürbt die Natur des Ich eine Kultur, in der sich das Ich immer weniger entfalten kann. In dem Maße, in dem die Kultur das Leben verengt, bricht sich die Natur des Menschen neue Bahnen, schafft neue Theorien zur Korrektur der Kultur und damit zur Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Konkret entwickelt sich dieses Prinzip in langwierigen und komplizierten Prozessen. Damals in der wilhelminischen Zeit kam die Kritik aus drei unterschiedlichen Stoßrichtungen:

1. Kulturkritik von Karl Marx

Sie entstand aus der sozialen Verelendung breiter Menschenmassen heraus gegen die herrschende Klassengesellschaft, damit gegen politische und wirtschaftliche Machtstrukturen. Marx hatte ökonomisch erkannt, dass das Kapital der herrschenden Klasse, speziell ihr exklusiver Besitz der Produktionsmittel in der expandierenden Zeit der Industrialisierung, Ursache der Verelendung der lohnabhängigen Arbeiter war.

Seine Kritik zielte deshalb politisch besonders auf die wirtschaftliche Veränderung der Gesellschaft von Grund auf, notfalls durch revolutionären Umsturz im Klassenkampf. Seine Stoßrichtung kam deshalb von unten, als Kampf vom unterdrückten Volk aus. Die kommunistische Arbeiterbewegung war insofern auch eine Kulturrevolution7, weil sie für die neue Gesellschaft zugleich einen neuen Menschentyp schaffen wollte8.

2. Kulturkritik von Sigmund Freud

Sie entwickelte sich gleichsam von innen gegen das damals herrschende Menschenbild, speziell gegen die christliche Sexualmoral. Freud ging dabei aus von einem psychologisch-psychotherapeutischen Ansatz, indem er die psychische und psychosoziale Beschaffenheit des Menschen völlig neuartig definierte. Alle bis dahin geltenden Vorstellungen über die Ganzheitlichkeit des Menschen gingen anhand einer Fülle von Detailerkenntnissen über Triebstruktur und daraus entstehenden Verhaltenszwängen und -mustern zu Bruch.

Freuds säkular-anthropologischer Ansatz löste – abgesehen von seinen umsturzartigen humantherapeutischen Wirkungen – speziell eine Kunstrevolution aus. Viele Künstler nahmen Freuds revoltierendes Menschenbild auf in Literatur, in Malerei und Musik, insbesondere in der Opernwelt, aber auch im Film und überall im modernen Lifestyle des 20. Jahrhunderts. Mit ihren Werken durchbrachen sie alle bisherigen alten Normen9.

3. Kulturkritik von Friedrich Nietzsche

Sie brach mitten heraus aus der Philosophie gegen die Philosophie, gezielt gegen den geistigen Stau des gesamten christlich-abendländischen Denksystems. Nietzsche durchlöcherte die liberal-konservative Bürgerfront nicht nur mit seinem Aufschrei Gott ist tot10, sondern auch mit seinen nihilistischen Attacken generell gegen die christliche Religion.

Mit seiner Ankündigung der Umwertung aller Werte jenseits von gut und böse11 – zerlegte er nicht nur ihre religiöse Sklavenmoral, sondern propagierte zugleich einen neuen Menschentypus, der, sich autonom erhebend, völlig neue Maßstäbe und Zukunftsziele setzt, insgesamt einen Herrenmenschen, der in der Lage ist, die Welt einzureißen und sie von Grund auf neu aufzubauen. Wirkung erzielte Nietzsche mit seinen mythischen Visionen am Anfang vor allem bei den kritischen geistigen Eliten, die eine Neuerung herbeisehnten.

Alle drei Kulturkritiken von Marx, Freud und Nietzsche – jede für sich und im Zusammenspiel – machten den politischen Zusammenbruch des Wilhelminischen Reiches 1918/19 mit dem Ende des Ersten Weltkrieges und der Auflösung des Kaiserreiches darüber hinaus zu einem gesellschaftspolitisch-kulturellen Zusammenbruch mit der Auflösung aller bis dato als absolut geltenden Kunst- und Moralvorstellungen und des Menschenbildes.

Dieser Zusammenbruch wird allerdings insofern oft zu überhöht gewertet, als er keineswegs zugleich die Herstellung einer neuen freiheitlichen Epoche zur Folge hatte. Ganz im Gegenteil. Die Geschichte zeigt vielmehr, dass die nachfolgenden Zeitepochen auf Restauration zielten, also nicht etwas wirklich Neues wollten, sondern nur die Wiederherstellung des Alten. Konkret waren sie unbedingt darauf aus, das Zerstörte, das Verlorene, das Alte in neuer Gestalt wieder zur Geltung zu bringen:

– Die Hitlerzeit von 1933 bis 1945 (Das Dritte Reich) war eine derartige Restauration des chauvinistischen Staates in Fortsetzung mit anderen Mitteln: die Alleinherrschaft der Diktatur anstelle der Alleinherrschaft der Monarchie. Man kann die Hitlerzeit verstehen als säkularisierte Restauration der wilhelminischen Monarchie mit entsprechenden Werteprinzipien, Ritualen und Symbolformen des absoluten Obrigkeitsgehorsams, des Korpsgeistes des Volkes und des faschistischen Vaterlands als Reichsidee.

– Die Nachkriegsgesellschaft des Zweiten Weltkrieges von 1949 bis 1968 war ebenfalls kein wirklicher Neuanfang, sondern eine Tradierung deutscher Grundverhältnisse – auch hier wieder nur mit anderen Mitteln, diesmal mit einem demokratischen Modell. Auch hier herrschte aufgrund von allgegenwärtiger Personenkontinuität vor allem in den Politik-, Bildungs- und Wirtschaftsschichten immer noch ein starkes Gehorsamsprinzip, ein Lobbyismus der Amtshörigkeit, ein deutsches Nationalbewusstsein im Modell der Wiedervereinigung, ein mit dem Wiederaufbau der Kriegsruinen restaurierter Muff von 1000 Jahren12.

Der entscheidende Versuch eines endgültigen Auszuges aus dem traditionellen Deutschtum der alten wilhelminischen Welt und damit der originäre Kulturkonflikt unserer Zeit überhaupt wurde in den sechziger Jahren von außen ausgelöst durch die Hippie-Bewegung aus Amerika. Viele Jugendliche protestierten dort damals gegen die Lebensbedingungen, die ihnen durch ihre Elterngeneration mittels traditioneller Erziehung überkommen und damit wie selbstverständlich aufgezwungen waren. Sie wehrten sich gegen den Leistungszwang, gegen die Arbeitshektik; gegen die moralischen Normierungen, gegen die hierarchischen Abgrenzungen; sie wehrten sich gegen den Wohlstandskonsum und die Regeln des Luxuslebens.

Ein Protest also gegen den gesamten westlichen Lebensstil, speziell gegen seinen Zwang, immer mehr haben zu müssen. Das Vorhandene reicht nie aus. Deshalb ist alles Streben darauf ausgerichtet, immer mehr zu erreichen, immer mehr zu besitzen. Glück, selbst persönliches Glück, ist so immer wesentlich mit immer noch mehr verbunden.

Um den von ihnen kritisierten Verhältnissen ihrer Eltern zu entfliehen, machten sich Hunderttausende von Jugendlichen auf die Suche nach einem anderen Lebensstil. Sie wollten frei und ungebunden sein, den Tag genießen. Sie wollten Lust, Freude, Schönheit empfinden, wollten aber auch weinen dürfen, traurig und gefühlvoll sein, anderen menschlich nahe sein, Konflikte friedlich lösen, Vertrauen, Geborgenheit, Liebe spüren. In dem Sinne gaben sie auch ihren sexuellen Bedürfnissen freien Lauf.

Es konnte gar nicht ausbleiben, dass sie bei ihrem Auszug aus der westlichen Lebensart die alten fernöstlichen Lebensweisheiten entdeckten, und so hielt in diese Jugendbewegung die alt­asiatische Lebenskunst voll Einzug, nämlich die persönlichen Bedürfnisse auf ein Minimum zurückzunehmen, um so weit wie möglich von Konsum- und Produktionszwängen frei zu werden.

Denn eben das faszinierte die Jungen ja gerade: Alle materiellen Lebensbedürfnisse so zu vereinfachen, dass man sich mehr und mehr aus der Konsum-Produktions-Spirale losreißt, um die technischen Bedürfnisse auf ein Minimum zu beschränken, um in naturbezogener Weise zu leben, im Weniger Genüge zu haben, im Unmittelbaren sich selbst zu finden. Viele Jugendliche pilgerten in fernöstliche Länder, gleichsam auf der Suche nach den kulturgeschichtlichen Quellen des einfachen Lebens.

So machten sie die Blume zum Symbol ihrer Hoffnung auf ein einfaches, schönes, freies Leben. Als Blumenkinder wollten sie den Auszug wagen, ihr Glück probieren. LSD manifestierte ihre Bewusstseinserweiterung zur flower power. Schließlich wurde das Rockfestival in Woodstock 196913 so zu einer weltweiten Demonstra­tion der neuen Jugendkultur mit ihrer Vorstellung von einem Glück, in dem sich das Weniger als völlig genug erwies.

Gescheitert sind sie schließlich mit ihrem Auszug aus unserer Welt und Kultur. Natürlich – so haben viele Alte selbstzufrieden gesagt –, denn so einfach, wie es sich die Hippies gemacht haben, so einfach ist es eben nicht, die Zwänge unserer Gesellschaft zu überwinden, schon gar nicht gegen den Widerstand der Alten.

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