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Titel

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ISBN 978-3-7751-7139-7 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5444-4 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
Satz & Medien Wieser, Stolberg

© der deutschen Ausgabe 2013
SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: info@scm-haenssler.de

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:
Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung 2006, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

Umschlaggestaltung: Jens Vogelsang, Aachen
Titelbild: fotolia.com
Satz: Satz & Medien Wieser, Stolberg

Inhalt

Vorwort

1. Jeden Morgen neu anfangen

2. Freiheit und Verantwortung

3. Loslassen, zulassen, gelassen sein

4. Ein fröhliches Tauschen

5. Wenn Worte ihren Duft entfalten

6. Fehlerfreundlich

7. Der Bumerang kommt zurück

8. Alles ist im Werden

9. Wenn die Seele erschöpft ist

10. Haben wir etwas von dem, was wir haben?

11. Das Leben feiern

12. Hoffnungsmenschen pflanzen Bäume

13. Gestern, heute und morgen

14. Ein Lied für alle Fälle

15. Verliebt ins Gestalten

16. Leben auf weitem Raum

17. Mit leichtem Gepäck unterwegs

18. Friedensgespräche

19. Wenn der Glaube ins Herz rutscht

20. Frischen Wind reinlassen

21. Nachdenker und Vordenker

22. Die Wunder der Schöpfung entdecken

23. Lachen befreit

24. Das Ungestüme der Jugend

25. Schwächen machen sympathisch

26. Übung macht den Künstler

27. Wes das Herz voll, des gehet der Mund über

28. Klagen erlaubt

29. Abschied nehmen

30. Sie lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Ende

31. Klein oder groß – das ist hier die Frage

32. Einen Engel auf den Weg schicken

33. Selbstvertrauen aus Gottvertrauen

34. Zu viel des Guten

35. Verwandlungskünstler

36. Wunschlos glücklich?

37. Ja sagen zu dem, was ist

38. Wer zwei Hasen jagt, fängt keinen

39. Auf die Einstellung kommt es an

40. Selbst bestimmt, selbst genug, selbst gerecht

41. Aus dem Vollen schöpfen

42. Das Sakrament des Augenblicks

43. Bettler und König

44. Wer etwas weiß, der kann auch reden

45. Leise werden

46. Wenn die Schulen zunehmen, stehts wohl im Land

47. Wenn es fürs Sorgenmachen einen Oscar gäbe …

48. Die Wahrheit macht frei

49. Das berühmteste Tintenfass der Welt

50. Starke Frauen

51. Das Schneeball-Prinzip

52. Goldene Sätze

53. Die Kinder dieser Welt

54. Das Bier riecht nach dem Fass

55. … auf dass wir klug werden

56. Die Freude ist der Doktorhut des Glaubens

57. Ein Backofen voller Liebe

58. Dem Volk aufs Maul schauen

59. Die Größe eines Menschen zeigt sich darin, wie er mit kleinen Leuten umgeht

60. Gottesbilder

61. Sprachkultur

62. Gott und Reinhard sei Dank

63. Dünnbrettbohrer

64. Erinnern und Vergessen

65. Recht haben und lieb haben

66. Im Himmel und auf Erden

67. Anstrengungen machen stark

68. Ist es gut, ist es schlecht?

69. Als wär’s ein Teil von mir

70. Bilder vom guten Leben

71. Aus dem Nichts heraus …

72. Dem Körper etwas Gutes tun

73. Markenzeichen

74. Briefeschreiben – eine vergessene Kunst?

75. Spielregeln für das Leben

76. Die Welt ist voll alltäglicher Wunder

77. Wo die Liebe wohnt

78. Auf der Durchreise

79. Sich ständig den Puls fühlen

80. Wir haben die Wahl

81. Heilende Kräfte

82. Freunde fürs Leben

83. Wollen und Vollbringen

84. Im Bilde sein

85. Unvollkommen vollkommen sein

86. Der Schatz der Kirche

87. Tischgespräche

88. Gutes sagen

89. Glaube nicht alles, was du hörst

90. Was sagen denn die Leute?

91. Eine feste Burg

92. Wie du lebst, redet lauter als das, was du sagst

93. Alles hat seine Zeit

94. Hinterher ist man immer schlauer

95. Den Tag rund machen

Die wichtigsten Daten auf einen Blick

Quellen

Vorwort

Die Zeit war reif für Veränderungen.

Christoph Kolumbus entdeckte Amerika und Vasco da Gama den Seeweg nach Indien. Nikolaus Kopernikus stellte das damals herrschende Weltbild auf den Kopf, als er behauptete, dass die Erde sich um die Sonne dreht – und nicht umgekehrt. Die Menschheit stand am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit.

Martin Luther, ein hochbegabter und gebildeter junger Mann, hatte eine aussichtsreiche Karriere vor sich. Nach dem Willen seines Vaters sollte er Jurist werden. Der Lebensentwurf stand.

Als er am 2. Juli 1505 in der Nähe von Stotternheim von einem heftigen Gewitter überrascht wurde, betete er in Todesangst: »Hilf du, heilige Anna, ich will ein Mönch werden!« Wir aufgeklärten Menschen von heute würden sagen: »Schlaf erst einmal eine Nacht darüber. Es ist verständlich, dass ein Mensch in solch extremen Situationen überreagiert.«

Für Luther war das Erlebnis von Stotternheim ein Wendepunkt. In sein Leben war etwas eingebrochen, das ihn getrieben hat, das größer war als er selbst.

»Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?« Diese Frage hat ihn nicht zur Ruhe kommen lassen. Sie hat in ihm mit einer Wucht rumort, die wir uns wohl kaum vorstellen können. Eines Tages ist Luther aufgegangen, was ihn und danach die weltweite Kirche verwandelt hat: Gott ist ein liebender Vater. Gott gibt dem Menschen seinen Wert und seine Würde, jenseits dessen, was er zustande bringt.

Du musst keine Angst haben, ob du wirklich gut genug bist. Du musst nicht rackern bis zum Umfallen, um dir selbst und Gott und anderen zu beweisen, dass du tatsächlich etwas taugst. Du bist geliebt. Und wen Gott reich macht, der kann die Welt bereichern, der hat den Kopf, das Herz und die Hände frei, um viel Gutes zu bewirken.

Nach dieser Erkenntnis hat Luther gesagt: »Da fühlte ich mich wie neu geboren, als sei ich geradewegs durch geöffnete Tore in das Paradies selbst eingetreten.«

Aus welcher Kraft hat dieser Mann gelebt? Was hat ihn, der sich oft mit Schwermut geplagt hat, immer wieder von Freude singen lassen? Was hat ihm diese Stärke gegeben, um mutig vor den Kaiser und die kirchlichen Würdenträger zu treten? Diesem Geheimnis möchte ich nachspüren!

Ich finde unsere Lebensthemen bei Luther wieder: Angst, Depression, Verlieren, was einem lieb ist, an sich zweifeln, Fehler machen, sich nicht abfinden wollen und können mit dem, was aus dem Ruder läuft. Wie ist es möglich, auf der Erde, mit allem, was uns am Boden hält, die Kraft des Himmels zu spüren?

In bekannten Lutherworten habe ich vieles gefunden, das uns an- und aufregen kann, das uns wertvolle Impulse zu einer christlichen Lebenskunst gibt.

Die Theologen mögen es mir nachsehen, wenn die Recherchen lückenhaft sind, wenn sie einer kritischen Prüfung nicht immer standhalten. Mich bewegt das Geheimnis eines Mannes, der Geschichte machen sollte, obwohl er sich selbst nie als »Macher« gesehen hat.

Mich bewegt das Geheimnis eines Mannes, der voller Widersprüche war – und sich damit in der Gnade Gottes aufgehoben wusste. Er wollte das Evangelium von Jesus Christus in das Leben, in die Alltage der Menschen buchstabieren. Wenn davon in diesem Buch etwas aufflackert, dann wäre ich sehr glücklich.

Die Zeit ist reif für Veränderungen, immer wieder.

Ich grüße Sie herzlich,
Ihre Heidrun Kuhlmann

1. Jeden Morgen neu anfangen

»Wenn der erste Knopf richtig geknöpft ist, dann passen auch die anderen«, so habe ich es als Kind gelernt. Der erste Knopf ist der wichtigste. Er entscheidet über alles Weitere.

Die erste Stunde des Tages ist ähnlich wichtig. Ich kenne Menschen, die gut gelaunt und voller Tatendrang das Bett verlassen. Sie begrüßen den Tag mit ein paar Atemübungen und einem kleinen Gymnastikprogramm am offenen Fenster. Chapeau. – Die anderen kenne ich auch. Sie kommen nur schwer in Gang, möchten am liebsten unter der warmen Decke weiterkuscheln und ringen mit sich selbst um jede Minute. – Ich denke auch an die Mamas und Papas, die morgens um halb sechs von ihren Kindern unsanft geweckt und zu einem »Kaltstart« gezwungen werden. Der Morgen hat viele Gesichter. Die einen sagen: »Früher Vogel fängt den Wurm«, die anderen haben das Motto: »Der frühe Vogel kann mich mal!«.

Die erste Stunde ist entscheidend für den Tag. »Wovon sollen wir träumen«, singt Frida Gold im Radio vor der Unwetterwarnung. Schnell noch die Mails checken, den Abholzettel für die Reinigung suchen und die Heimatzeitung durchblättern. »O nein, der DAX ist gesunken und Oma wartet auf einen Anruf.« – »Jetzt ist es aber höchste Zeit. Wo habe ich denn den Schirm?«

Möchte ich das wirklich, so oder ähnlich? – Ich habe beschlossen, Körper, Seele und Geist etwas Zeit zu gönnen, damit sie sich auf den Tag einstimmen können. Bevor ich wie der Hamster in das Rad klettere, bevor ich mir von der Stimmung anderer meine eigene Stimmung diktieren lasse, bevor mich Aufgaben, Nachrichten und Menschen in Beschlag nehmen, möchte ich mich erst einmal daran erinnern, dass Gott auch an diesem Tag gegenwärtig ist. Es gibt viele gute Texte, die vom Himmel, der die Erde berührt, erzählen. Das gönne ich mir. Dieser Tag ist ein Geschenk des Lebens an mich, einmalig und kostbar. Er kommt nie wieder.

Wenn ich Luthers »Morgensegen« anschaue, dann habe ich den Eindruck, dass der Reformator nach dem »Manna-Prinzip« gelebt hat. Als das Volk Israel vor 2 500 Jahren durch die Wüste gezogen ist, als Essen und Trinken knapp und knapper wurden, da hat Gott jeden Morgen »Manna« vom Himmel regnen lassen. Es war ein Wunder. Für jeden Tag war genug da. Jedoch nicht auf Vorrat! Immer nur für einen Tag. Luther hatte eine lebendige Quelle, aus der er reichlich geschöpft hat. »Erneuerbare Energie« sagen wir heute. Luther hatte Zugang zu Gottes Reichtum, Geist und Kraft. Kann es sein, dass wir heute so schnell müde und erschöpft sind, weil wir meinen, wir müssten die Kraft aus uns selbst schöpfen?

Luther

Des Morgens, wenn du aufstehst,
kannst du dich segnen mit dem Zeichen
des heiligen Kreuzes und sagen:
Das walte Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist! Amen …
Alsdann mit Freuden an dein Werk gegangen und etwa
ein Lied gesungen oder was dir deine Andacht eingibt.

Jeden Morgen können wir neu anfangen. Der Tag liegt wie ein unbeschriebenes Blatt vor uns. Wir sind nicht auf das festgelegt, was gestern war. Wir können heute besser machen, was gestern nicht gut war. Wir können heute Worte sagen, zu denen wir gestern noch nicht in der Lage waren. Heute trauen wir uns etwas, wozu uns gestern noch der Mut fehlte.

Ich bin gespannt, Gott, womit du mich überraschen und trösten wirst. Vor mir liegt ein neuer Tag. Was immer er bringen wird, welche Wege er mich führen wird, du bist da.

2. Freiheit und Verantwortung

Bundespräsident Joachim Gauck hat uns die wichtige Verbindung von Freiheit und Verantwortung ans Herz gelegt. Freiheit ist ein kostbares Gut. Das weiß besonders der zu schätzen, der sie schon einmal entbehren musste und vermisst hat. Wählen können, seine Meinung äußern dürfen, nicht bespitzelt und beschnitten werden, ein Recht auf Bildung und Chancen haben … diese Freiheit gilt es zu feiern, zu fördern und zu nutzen.

Es gibt Menschen, die verstehen unter Freiheit: »Ich kann tun und lassen, was ich will.« Nein, diese »Freiheit« meint Joachim Gauck nicht. Ihm geht es darum, dass der Mensch seine Begabung, seine Zeit und seine Kraft einbringt und damit einen Beitrag zum Gelingen des Ganzen leistet.

Er schreibt: »Unsere Fähigkeit zur Verantwortung gehört zum Grundbestand des Humanum.« Das ist ein starker Satz. Wir dürfen uns nicht aus der Verantwortung herausmogeln. Wer zu einer Familie gehört, der genießt Rechte, die teilweise sehr angenehm sind. Wer zu einer Familie gehört, hat aber auch Pflichten, im Rahmen seiner Möglichkeiten. Zehnjährige, die einen Computer meisterhaft bedienen können und mit ihrem Skateboard in einer Halfpipe geschickt unterwegs sind, sind durchaus in der Lage, einen Geschirrspüler auszuräumen oder im Herbst Laub zu harken. Wer zur Familie gehört, hat keinen Anspruch auf eine Rundumversorgung ohne Gegenleistung. Darum geht es. Auch in der Menschheitsfamilie.

Rosa Luxemburg (1871–1919) hat gesagt, dass die Freiheit eines Menschen immer nur so weit gehen darf, dass die Freiheit des anderen dadurch nicht beschnitten wird. Darüber können wir lange nachdenken. Es gibt viel zu entdecken. Ich habe die Freiheit, Musik zu hören, aber nur so laut, dass ich andere damit nicht belästige. Ich habe die Freiheit, bis in die Morgenstunden zu feiern, aber mein Chef erwartet mich zu Recht um 7.00 Uhr am Arbeitsplatz. Rauchen ist erlaubt, wenn andere dabei nicht gegen ihren Willen zugequalmt werden.

Wir leben in einem der freiesten Länder dieser Welt. Halleluja. Aber sind wir auch innerlich frei? Freifrauen von und zu? Freiherren von und zu? Wie gehen wir in Freiheit und Verantwortung mit dem, was uns aufgegeben ist, um? Wann sagen wir Ja? Wann sagen wir Nein? Wann ist Zeit zum Tun und wann ist Zeit zum Lassen?

Luther

Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge
und niemandem untertan.
Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge
und jedermann untertan.

Vor Gott muss der Mensch sich beugen. Er muss sich verantworten, wenn er gefragt wird (frei nach dem Hauptmann von Köpenick): »Watt haste jemacht mit dein’n Leben?« Vor der großen Ordnung des Lebens muss der Mensch sich beugen. Alles andere ist zu kurz gedacht.

Aber dies gilt auch: Wir müssen uns nicht von Möchtegern-Diktatoren in unserem Umfeld unter Druck setzen lassen. Niemand hat das Recht, uns so sehr zu vereinnahmen, dass uns die Puste ausgeht. Niemand hat ein Recht, uns so sehr die Flügel zu beschneiden, dass wir verkümmern. Wie gelingt das Miteinander von Freiheit und Verantwortung?

Wer in der Nähe Gottes lebt, ergebnisoffen betet »Dein Wille geschehe«, der kann aufrecht und frei durch die Welt gehen. Frei von dem Druck, etwas darstellen zu müssen. Frei für die Menschen, die uns anvertraut sind – und für die Welt, die uns aufgegeben ist.

3. Loslassen, zulassen, gelassen sein

Sie ist eine Powerfrau. Kluges Zeitmanagement beherrscht sie aus dem Effeff. Für das, was sie an einem Tag leistet, brauchen andere Menschen zwei oder drei Tage. Ihre Wohnung ist mit viel Geschmack eingerichtet. Alles ist tipptopp. Sie ist weit gereist, belesen und kreativ. Ich staune immer wieder über ihren großen Freundeskreis, den sie mit Geschick und Liebe aufgebaut hat und pflegt. Wie macht sie das nur, mit Pilates, Omapflichten und Ehrenämtern? – In einer stillen Stunde gesteht sie: »Ich spüre, dass dieser Lebensstil einen hohen Preis fordert. Ich bin ruhelos, wie eine Getriebene, die ständig unter Strom steht.«

Szenenwechsel: Auf dem Titelbild einer Gartenzeitschrift sehe ich einen Gärtner im Liegestuhl. Er hat es sich mit einem Buch und einem Tee in einer ruhigen Ecke bequem gemacht. Neben ihm blüht eine Kletterrose. Der Gärtner hat gegraben, gesät, gepflanzt, gegossen, gedüngt und gejätet: alles, was nötig war. Und nun ruht er aus. »Abwarten und Tee trinken.« Er kennt den Rhythmus der Natur.

Alles hat seine Zeit. Arbeiten und ausruhen. Säen und wachsen lassen. Alles Menschenmögliche zum Gelingen hat er beigetragen und ist nun auf den Segen Gottes angewiesen. Tun, was zu tun ist und gleichzeitig wissen: Das Wesentliche geschieht im Verborgenen – ohne unser Zutun!

Zwei unterschiedliche Lebenswelten. Die Powerfrau und der Gärtner. Wem fühlen wir uns näher?

Wenn ich mal wieder ungeduldig bin, erinnere ich mich gerne an diese Geschichte: Ein Landwirt ist neidisch auf seinen Feldnachbarn. Bei dem steht der Weizen schon viel höher als bei ihm. Es ist nicht zu fassen! Was soll er tun? In einer Nachtaktion, als ihn keiner sieht, hilft er nach und zieht seine Weizenhalme in die Höhe … Über so viel Dummheit können wir nur lachen! Aber seltsam: Ich ertappe mich oft dabei, dass auch ich »nachhelfen« möchte, damit die Dinge (und Menschen) sich nach meinen Vorstellungen entwickeln. »Komm, da geht noch was. Dies noch und das noch.«

Luther

Während ich hier sitze und ein Wittenbergisch Bier trinke,
läuft das Evangelium.

Martin Luther hat viel gearbeitet. In nur elf Wochen hat er das Neue Testament aus dem Griechischen übersetzt. Er hat unzählige Briefe geschrieben, Predigten und Vorlesungen gehalten. Heute würden wir ihn als »Workaholic« bezeichnen. Luther war ein Getriebener.

Und gleichzeitig konnte er sich am Abend hinsetzen und sein Wittenbergisch Bier trinken. Er wusste: Das Wesentliche kann ich nicht machen, das muss mir geschenkt werden. Ich habe gepredigt, aber ob meine Worte Menschen bewegen und ihre Kraft entfalten werden, habe ich nicht in der Hand.

Diese Gelassenheit wünsche ich mir. »Guter Gott, ich habe das Beste gegeben, was mir möglich war. Jetzt bist du dran. Bei manchem Menschen reicht meine Liebe nicht aus; da musst du entweder einen anderen schicken oder dich selbst kümmern. Ich habe mir Mühe gegeben – vor allem mit den Kindern. Nun pass du auf sie auf, mit der Liebe, die ich für sie empfinde, oder einer noch größeren.«

Ich möchte am Abend loslassen können, was meinen Tag ausgefüllt, was mich beschlagnahmt hat, wofür ich mich zuständig weiß, was ich versäumt habe. Ich möchte zulassen, dass ich unvollkommen bin, nicht alles kontrollieren und lenken kann. So stelle ich mir Gelassenheit vor: loslassen, zulassen, gelassen sein.

4. Ein fröhliches Tauschen

»Hast du die Sondermarken von den Olympischen Spielen 1972 in München?« Als Kinder haben wir Briefmarken getauscht. Stundenlang saßen wir mit unseren Zigarrenkisten, Sammelalben und Katalogen zusammen.

Heute werden im Internet Tauschbörsen angeboten. Das, was ich nicht mehr brauche, gebe ich ab und bekomme dafür etwas, was ich mir sonst vielleicht nicht leisten könnte. Die Landfrauen bieten Staudenbörsen an. Sogar Häuser werden getauscht: Eine Familie am Steinhuder Meer tauscht während des Urlaubs ihr Haus mit einer Familie am Bodensee.

In Kirchengemeinden habe ich eine besondere Art von Tauschbörse als eine sehr segensreiche Einrichtung kennengelernt. Da heißt es dann: »Ich kann gut Hemden bügeln und brauche jemand, der für mich einkauft« oder »Ich kann deiner Tochter bei den Hausaufgaben helfen, dafür würde ich mich freuen, wenn du für mich Gardinen wäschst«. Tauschen ist eine gute Sache. Menschen ergänzen sich. Jeder hat etwas zu bieten und jeder ist bedürftig! Wir leben vom Geben und Nehmen.

Martin Luther spricht von einem Tausch der besonderen Art:

Luther

Du hast auf dich genommen, was mein ist,
und mir gegeben, was dein ist.
Du hast auf dich genommen, was du nicht warst,
und hast mir gegeben, was du warst.

Er nennt das den »fröhlichen Wechsel«. Das war sein leidenschaftliches Thema: Gott wird klein und macht den Menschen groß. Gott kommt vom Himmel auf die Erde, damit die Erde nicht mehr ohne den Himmel ist. Gott nimmt unsere Schwäche und schenkt uns seine Kraft. Er nimmt unsere Fehler, unseren Murks und schenkt uns seine Gnade. Er nimmt die begrenzte Zeit, die wir Menschen zur Verfügung haben (selbst 90 Jahre gehen schnell vorüber!) und lässt uns an seiner Ewigkeit teilhaben. Er nimmt unseren Mangel und schenkt uns seine Fülle. Er nimmt unseren Kummer und lässt uns etwas vom großen Schalom ahnen.

Glauben wir das? Leben wir das? Die Bibel ist voll von Tausch- oder Verwandlungsgeschichten.

Eine Frau hat seit 18 Jahren einen krummen Rücken, einen Buckel: Ihr Blick geht nach unten. Was wissen wir schon von dem, was einen Menschen krumm macht, auf seinen Schultern liegt, was ihn niederdrückt, nach unten zieht, was an Leistungsdruck, an eigenen und fremden Erwartungen auf ihm lastet? Der Körper spiegelt viel von der Seele, von dem, was sich über die Jahre an Groll, Druck, Eifersucht und Kränkungen abgelagert hat.

Jesus richtet diese Frau auf. Was ihren Rücken krumm gemacht hat, das löst sich. Sie kann den Himmel sehen und die Menschen. Sie kann wieder aufrecht durchs Leben gehen. Jesus nimmt die Verkrümmung eines Menschen und lehrt ihn den aufrechten Gang.

Ein fröhlicher Wechsel! Verwandlungen sind möglich.

Gott kommt in die Welt, damit unsere Welt nicht ohne ihn sein muss. Wir können neue Gedanken denken und die alten in Rente schicken. Wir sind nicht mehr allein unterwegs, sondern mit Gott. Und der will mit uns tauschen. Schreiben Sie doch mal auf, was Sie gerne tauschen würden. Solches Tauschen kann Ihr Leben verändern.

Übrigens: Falls jemand in Meran für zwei Wochen im Herbst seine Wohnung mit einer Schaumburgerin tauschen möchte, bitte melden!

5. Wenn Worte ihren Duft entfalten

Die Bibel ist das meistgedruckte Buch der Welt. Weit dahinter kommen »Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung«, »Das Kommunistische Manifest« von Karl Marx und Friedrich Engels, »Der Herr der Ringe« von J. J. R. Tolkien.

Die Bibel ist das meistverbreitete Buch der Welt. Sie steht bei vielen Menschen im Regal. Im Ledereinband, illustriert von Rosina Wachtmeister, Friedensreich Hundertwasser oder Marc Chagall, im Taschenbuchformat für unterwegs.

Martin Luther hat die Bibel geliebt, hat mir ihr gelebt, hat sie den Menschen mit seiner Übersetzung ins Deutsche zugänglich gemacht. Alle sollten teilhaben am »Herrschaftswissen«, sollten Gottes Wort selbst studieren können.

Die Bibel steckt voller Weisheit und Dramatik, voller Liebesgeschichten, Mord und Totschlag. Der Leser findet Zuspruch und Anspruch, Inspiration und Irritation, Geschichten über das Woher, Wozu und Wohin allen Lebens, über den Glanz des Menschen und seine Abgründe.

Luther

Die Heilige Schrift ist ein wunderbares Kräutlein,
je mehr du es reibst, desto mehr duftet es.

Aus der Bibel ist viel erwachsen: Das Wissen um die Freiheit und die Würde des Menschen, die Zehn Gebote als Werteraster, die Ehrfurcht vor dem Leben, Nächstenliebe und Zivilcourage. Aus der Bibel kennen wir Begriffe wie »Hiobsbotschaften«, »alt werden wie Methusalem«, »zur Salzsäule erstarren«, »auf Sand bauen«, »jemandem die Leviten lesen«, »Sodom und Gomorrha« oder »Perlen vor die Säue werfen«.

In den meisten Hotelzimmern liegt eine Bibel, aber Hand aufs Herz: Wird sie eifrig gelesen und studiert? Spielt sie eine Rolle an Küchentischen, als Lebensbegleiter, Kursbuch und Vademekum für Geist und Seele? Sehen unsere Bibeln gelesen aus: mit Notizzetteln gespickt, mit Eselsohren und anderen Gebrauchsspuren?

»Ich habe versucht, in der Bibel zu lesen«, sagen viele, »aber ich finde keinen Zugang.« – »Ich weiß nicht, wie ich Gottes Wort mit meinem Leben verknüpfen kann.« Mark Twain hielt solchen Einwänden entgegen, er habe keine Probleme mit den Stellen, die er nicht verstehe; ihn machten gerade die unruhig, die ihm bekannt und verständlich seien!

Martin Luther hat gesagt: »Ich lese die Bibel, wie ich meinen Apfelbaum ernte: Ich schüttele ihn, und was herunterkommt und reif ist, das nehme ich. Das andere lasse ich noch hängen.« Das ist ein guter Rat. Worte und Einsichten erreichen uns nur dann, wenn wir dafür reif sind.

»Willst du gesund werden?«, fragt Jesus einen Lahmen. »Was für eine Frage! Natürlich!« – »Dann steh auf und geh!«, sagt Jesus. – Was uns lähmt, was uns auf Sparflamme leben lässt, was uns die Freiheit nimmt – das können wir verlassen und einen neuen Weg einschlagen. Was heißt das? Nehmen wir diese Geschichte mal eine Woche lang mit zur Arbeit, in unsere Beziehungen, in unsere Denkmuster und Gewohnheiten. Wenn wir normalerweise sagen: »Das geht nicht mit dem ›Steh auf und geh!‹«, dann begeben wir uns auf Entdeckertour: »Schauen wir mal, was alles geht!«

Jeder Mensch ist geprägt: von Gedanken, Geschichten und Bildern, von den Erfahrungen, die er gemacht hat, von Eltern und Lehrern, die ihm die Welt gedeutet haben. Die Bibel mutet uns zu, dass wir neu, von Gott her denken. Sie hält einen unermesslichen Reichtum bereit. Je mehr wir suchen, fragen und wagen, desto mehr wird sie vom Lesebuch zum Lebebuch. Der Duft des Himmels breitet sich aus.

6. Fehlerfreundlich

»Wer schläft, der sündigt nicht!«, so heißt es in einem bekannten Sprichwort. »Wer nichts macht, der macht auch nichts verkehrt!« Stimmt das? »Eine weiße Weste kann auch ein Zeichen dafür sein, dass wir uns nicht mit Ruhm bekleckert haben.« Dieser Satz lässt mich aufhorchen!

Es gehört zum Menschsein dazu, dass wir Fehler – vielleicht auch schlimme Fehler – machen, dass wir schuldig werden oder etwas schuldig bleiben. Die Zahl der Vollkommenheit ist die Sieben. Der Mensch hat auf dem Würfel seiner Möglichkeiten jedoch nur die Zahlen von Eins bis Sechs zur Verfügung. Vollkommenheit ist eine Illusion; jedenfalls, solange wir auf dieser Erde leben.

Wir fahren bei Rot über die Ampel oder nehmen das Angebot des Handwerkers an, ohne Rechnung 100 Euro zu sparen. Wir mischen uns in Dinge ein, die uns nichts angehen, und halten uns vornehm zurück, wenn wir uns einmischen müssten. Na ja, jeder weiß selbst, um was es geht. Hoffentlich werden wir niemals so berühmt, dass die Medien Gefallen daran finden, unsere Peinlichkeiten und unsere Schuld ans Licht der Öffentlichkeit zu zerren. Während Gott den Menschen Gnade verspricht, ist unsere Gesellschaft im Verurteilen und Bloßstellen eher gnadenlos.

Schuldig zu werden gehört zum Menschen dazu. Es zieht sich wie ein roter Faden bereits durch die Bibel. Eva nimmt sich, was ihr verboten war. Kain erschlägt seinen Bruder Abel. Jakob betrügt seinen Bruder Esau. David begeht Ehebruch mit der Frau seines Offiziers.

Luther

Sei ein Sünder und sündige tapfer,
aber stärker glaube und freue dich in Christus.

Martin Luther wurde von der Frage umgetrieben: »Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?« Einen Gott, dem ich gut genug bin, der mich liebt mit allem, was zu mir gehört. Neben Luthers beeindruckendem Lebenswerk, für das wir ihn bewundern und feiern, hat er schlimme Fehler begangen. Seine Haltung gegenüber den Juden schreit zum Himmel.

»Kyrie eleison«, singen wir im Gottesdienst, »Herr, erbarme dich«. Darin hat alles seinen Platz, was wir von zu Haus, aus den Alltagen des Lebens mitbringen.

Wir leben auf keiner Insel der Seligen. Wir können eifersüchtig sein, und wie! Wir haben Menschen in der Familie, die trinken. Es gibt Beziehungen, die nicht gelungen sind. Wir haben alle unsere Achillesfersen; einiges, von dem wir hoffen, dass es nie herauskommen wird. Es kommt viel Jammer zusammen, wenn wir ehrlich sind. Und hoffentlich verstecken und verdrängen wir das nicht, hoffentlich reden wir es nicht mit frommen Worten glatt.

Wo nichts schiefgehen darf, wird so lange etwas vertuscht, bis es Schaden in uns anrichtet. Wo soll der hin mit dem, was nicht perfekt ist, wenn er doch immer perfekt sein möchte? Wo hohe Moral gepredigt wird – auf Kanzeln, in Talkshows oder auf Familienfeiern –, da können wir sicher sein, dass der Moralist manches in sich trägt, was niemand für möglich hält.

»Sündige tapfer«, das ist keine Einladung zu »Wurschtigkeit« und »billiger Gnade«. Das sagt jemand mit einem sensiblen Gewissen und einem fast neurotischen Unrechtsbewusstsein. Immer wieder ist Luther zur Beichte gegangen. Er hat unter seiner Unvollkommenheit gelitten. Trotz allem, was zu ihm gehört, hält Martin Luther daran fest: Gott macht mich gut durch seine Güte, durch Christus.

7. Der Bumerang kommt zurück

»Dem habe ich es gegeben! Das hättest du erleben sollen. Vor allen anderen habe ich ihn zur Schnecke gemacht.« – Und dann? Wie fühlen wir uns nach einem solchen »Triumph«? Wie ein Sieger, von uns selbst überzeugt und bedeutend?

Wer so aufgetrumpft hat, der mag eine Schlacht gewonnen haben, aber er hat dabei auch viel verloren. So etwas nennt man einen »Pyrrhus-Sieg«. Es ist etwas zu Bruch gegangen, das wahrscheinlich nie wieder zu kitten ist. »Die Schüssel hat einen Sprung bekommen«, beschreibt es eine Freundin. Ist es das wert?

Kennen Sie den Spruch »Wir begegnen uns im Leben immer zweimal«? Stellen Sie sich vor, Sie begegnen dem, den Sie klein gemacht haben, im Krankenhaus wieder: als Pfleger, der Ihnen die Pfanne ins Bett stellt. Stellen Sie sich vor, Sie treffen ihn als Lehrer Ihrer Kinder in kniffligen Situationen wieder. Oder als Betriebsprüfer, der Ihnen vom Finanzamt ins Haus geschickt wird. Gut, so schlimm muss es ja nicht gleich kommen.

Mag sein, dass wir im Recht gewesen sind, als wir uns über einen Menschen geärgert haben. Mag sein, dass ein klärendes Gewitter nötig war … Aber gleichzeitig gilt: Wir nehmen bei solchen »Attacken« immer nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Leben des anderen wahr. Was wissen wir von ihm, von seinen kleinen und großen Tragödien, von dem, was ihn zu dem hat werden lassen, wie er ist?

Psychologen sagen, dass in Menschen, die zur Aggressivität neigen, die den starken Otto spielen, meist eine große Angst steckt. Und vielleicht lebt manche »Ziege« mit sich selbst auf Kriegsfuß und braucht viel Liebe und Wertschätzung. Wer weiß.

Luther

Du schadest dir selbst am allermeisten,
wenn du einen anderen schädigst.

Wenn ich mit anderen nicht versöhnt bin, werde ich selbst keinen Frieden finden. Da ist etwas in mir, das mich bis in die Nächte verfolgt, das sogar die Biochemie des Körpers und den Herzrhythmus verändern kann. Wir können noch so viel meditieren und Frommes oder Kluges lesen: Wenn wir mit den Menschen an unserer Seite nicht versöhnt sind, wenn etwas zwischen uns nicht geklärt ist, dann sind wir nicht frei, dann ist etwas blockiert! Wir haben keinen offenen Blick. Wir schaden uns selbst. Der Bumerang, den wir losgeschickt haben, kommt zurück.

Jeder braucht Verständnis und Vergebung. Ausnahmslos. Wem das noch nicht klar ist, der hat wohl noch die eine oder andere Erfahrung vor sich. – Wer selbst schon einmal Verständnis und Vergebung gesucht und erlebt hat, dem bleibt das schlechte Reden und schnelle Urteilen über andere im Hals stecken. Er wird ein weites Herz für die Schwächen eines Menschen haben.

»Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern«, so beten wir es in jedem Vaterunser. Es ist ein Geben und Nehmen. Wie kann ich Gnade für mich beanspruchen und sie einem anderen nicht gewähren? Ich kann mit Gott nicht im Reinen sein, wenn ich mit Menschen unversöhnlich bin. »Behandle den anderen so, wie du selbst von ihm behandelt werden möchtest!« – Das ist ein anspruchsvoller Satz, mit dem wir ein Leben lang nicht fertig werden.

Ich bin nicht immer so, wie ich sein möchte. Ich setze nicht immer um, was ich mir vorgenommen habe. Bitte, liebe Mitmenschen, geht behutsam mit mir um. Ich will auch behutsam mit euch umgehen.

8. Alles ist im Werden

Im Keller steht noch das Fotolabor aus den Achtzigerjahren. Bevor die Digitalfotografie ihren Siegeszug angetreten hat, haben wir Schwarz-Weiß-Fotos selbst entwickelt. Das belichtete Fotopapier wurde in ein Entwicklerbad gelegt, dann warteten wir auf den spannenden Moment, als immer mehr vom Bild sichtbar wurde, bis es dann letztendlich voll entwickelt vor uns lag.

Leben ist immer im Wachstum, in der Entwicklung. Wir sind niemals fertig, niemals perfekt – obwohl sich einige Menschen das wünschen.

Mit den Jahren lasse ich das eine oder andere Fettnäpfchen aus. Inzwischen weiß ich, was meinem Körper guttut und was ihn überfordert.

Ich weiß, dass etwas gleich zu tun besser ist, als aufzuschieben. Unordnung gar nicht erst aufkommen und um sich greifen zu lassen, ist besser, als Unordnung im großen Stil zu beseitigen. Ich muss keinem mehr etwas beweisen. Wenn ich sage, was ich denke und fühle, ist das besser, als anderen nach dem Mund zu reden oder zu schweigen. Mit 58 weiß ich mehr als mit 30. Wenn ich alte Fotos anschaue, dann denke ich: »Wie konnte ich nur …«

Luther

Das christliche Leben ist nicht ein Frommsein,
sondern ein Frommwerden,
nicht ein Gesundsein, sondern ein Gesundwerden;
nicht Sein, sondern ein Werden;
nicht Ruhe, sondern eine Übung.
Wir sinds noch nicht, wir werdens aber.
Es ist nicht getan und geschehen,
es ist aber im Gang und Schwange.
Es ist nicht das Ende, es ist aber der Weg.
Es glühet und glänzet noch nicht alles,
es bessert sich aber alles.

Wenn es gut geht, entwickeln wir uns immer mehr zu dem Menschen, den Gott sich gedacht hat. »Es glühet und glänzet noch nicht alles«, aber wir sind auf dem Weg. Manches wird erst vollendet, wenn wir im Himmel sind. Bis dahin ist jede Begegnung, jeder Tag, jede Erfahrung eine Lektion zum Klugwerden.

Die Weisheit in uns ist noch im Werden!

»Es glühet und glänzet noch nicht alles.« Luther war ein faszinierender Mann. Aber auch er war an Raum und Zeit gebunden. Kopernikus hatte gerade herausgefunden, dass die Erde sich um die Sonne dreht und nicht umgekehrt. Dresden hatte ungefähr 3 000 Einwohner. Der Erkenntnishorizont war im 16. Jahrhundert ein anderer als heute. Luther trug noch viel vom Mittelalter in sich. Damals hat man Behinderte als Geschöpfe des Teufels gesehen. Heute kann ein Grundschüler plausibel erklären, wofür Martin Luther den Teufel verantwortlich gemacht hat.

Mit Internet und Facebook, mit Xavier Naidoo, Kirchentagen und den Wise Guys wäre während der Reformation manches anders gelaufen. Aber Luther hat in seiner Zeit gelebt. Er konnte weder »googeln« noch im ICE reisen.