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Charles Cornu gewidmet

Katharina Zimmermann

Der Amisbühl

Roman · Zytglogge

Alle Rechte vorbehalten

Copyright: Zytglogge Verlag, 2012

Lektorat: Hugo Ramseyer

Korrektorat: Monika Künzi, Jakob Salzmann

Coverfoto: Hochzeitsbild von Bänz und Wilma 1900

Umschlag: Franziska Muster Schenk, Zytglogge Verlag

e-Book: mbassador GmbH, Luzern

ISBN 978-3-7296-0841-2
eISBN 978-3-7296-2010-0

Zytglogge Verlag, Schoren 7, CH-3653 Oberhofen am Thunersee

info@zytglogge.ch, www.zytglogge.ch

I

– Siehst du ihn?

– Wo?

– Dort oben.

– Über dem Wald?

– Pass auf, ein Auto!

In Bern fahren keine mehr. Doch hier gibt es Militärautos. Unterseen ist voller Soldaten. Ich schaue wieder hinauf.

– Ein Hotel?

– Ja, sagt meine Mutter, das ist der Amisbühl.

Ich mag den Klang ihrer Stimme, wenn sie das Wort Amisbühl ausspricht. Eine Mischung aus Stolz und Heimweh schwingt mit, nein, kein Weh, eher Glück, eine Art Heimglück.

Die kleine Episode und viele andere fallen mir ein, während ich in der Waldegg aus dem Postauto steige.

Das Atmen macht mir wieder Mühe, besonders jetzt im Winter. Unter der Nebeldecke in Bern habe ich heute früh an den Beatenberg gedacht, bin hinauf gefahren, aber nicht bis vorn ins Dorf. ‹Vorne› war für meine Mutter immer eine andere Welt gewesen. Der echte Beatenberg lag hinten, in der Waldegg.

Diese Sicht hat sie mir vererbt.

Meine Beschwerden werden, wie schon oft, beim Aufstieg zum Amisbühl verschwinden.

Jedenfalls wärmt hier die Sonne, und der Schnee blendet. Ich stapfe zum Weg, den unser Grossätti vor hundert Jahren für seine ausländischen Hotelgäste angelegt hatte. Er war gesäumt von Bäumen, die zur Sommersaison Schatten warfen auf die lustwandelnde Hautevolee aus ganz Europa. Grossätti Bänz hatte sie eigenhändig gepflanzt.

Jetzt sind sie kahl, tragen aber schon Knospen. Ich bewundere diese Baumkraft, die Generationen von Menschen überdauert hat.

Im Alter lebte Grossätti Bänz oft bei uns in Bern und half meinen Eltern, mich zu erziehen.

Heute begreife ich sein Missfallen über die Enkelin, die sich jeweils mit einem Buch versteckte, statt ihre berufstätige Mutter zu entlasten. Er sorgte sich um seine Tochter. Die Anrede in seinem letzten Brief an sie lautet: Mein herzliebes Kind.

Für sie und ihre drei Geschwister hat er nach dem frühen Tod seiner Frau gelebt.

Ihm war das Helfen schon als Kind selbstverständlich gewesen.

Drüben im Spirenwald wuchs er auf, in der Mitte der langen Beatenberg-Terrasse. Sein Ätti wirkte dort als Lehrer und sein Müeti, das Sundlauenen Änni, blieb etwas fremd auf dem Berg. Es war unten am See aufgewachsen, als einzige Tochter von Fischersleuten, die alt und älter wurden, und hätte ihnen helfen wollen, konnte aber nur selten von der Familie weg. Diese Sorge nahm ihm sein Ältester, der junge Bänz, ab. Sooft er konnte, ging er hinunter, den Grosseltern zu Hilfe.

Ich bleibe stehen, suche zwischen den kahlen Alleebäumen auf der Terrasse drüben den Fitzligraben, jene Schlucht, die, von Tannen umsäumt, steil zum See hinabführt.

Bänz, der Schulbub, mied den Zickzackweg, stieg lieber in den Fitzligraben, ins Bachbett, das nach einem Regen überschwemmt, jetzt aber trocken war, und kletterte an die Sundlauenen hinab. Seine Grosseltern versuchten eben, den schweren Kahn an Land zu ziehen, aber die Kräfte der beiden Alten reichten nicht aus. Und die Stange unter dem Dach war ihnen zu hoch geworden, die Fischnetze hingen noch nicht daran, sie lagen nass am Boden. Mit der Kraft eines Oberschülers legte sich Bänz ins Zeug, half – und machte sich dann in der Dämmerung durch den Graben wieder hinauf auf den Berg.

Grossätti wanderte zeitlebens mühelos in den Bergen, machte, siebzigjährig, eine Fussreise allein von Saanen durch die ‹Hintere Gasse›, Trütlisbergpass, Hahnenmoos, Bonderchrinde, Hohtürli, Sefinenfurgge, Kleine und Grosse Scheidegg, bis Meiringen.

Einmal nahm er mich auf eine Bergtour mit. Ausser einem Maggi-Suppenwürfel wurde kein Picknick eingepackt. Es war zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Brot, Käse, Fleisch waren rationiert und reichten knapp für den Alltag.

Grossätti band die verrusste Gamelle auf seinen Rucksack. Dann hiess es wandern, lang und mühsam, und immer wieder täuschte der Gipfel, erwies sich, war man oben, nur als Vorgipfel, endlos ging es weiter, immer Grossätti nach, der bedächtig Fuss vor Fuss setzte und keine Klagen zuliess.

Gegen Mittag suchte er nach einem geeigneten Plätzchen in der Nähe eines Alpsees, holte Wasser, steckte zwei Gabelstecken ein, legte einen darüber und hängte die Gamelle daran. Ich hatte dürre Äste unter den Bergtannen gesammelt, er gab Meta-Tabletten dazu, und das Feuer begann zu züngeln. Dann warf er den Maggiwürfel ins kochende Wasser. Die Suppe schmeckte ausgezeichnet nach Rauch und Berg und Grossätti, der hier oben mit seiner schwarzen Pelerine und dem klobigen Bergstock zu Hause war.

In der Stadt, in Bern, fiel Grossätti auf.

Sah ich ihn zufällig auf dem Weg zu uns, genierte ich mich. Seine Pelerine – ein weiter Umhang, den keiner sonst trug –, der schwarze Hut, der weisse Stehkragen, die genagelten Bergschuhe, seine ganze Erscheinung hatte etwas gespenstisch Überaltertes. Er kam daher wie aus längst vergangener Zeit.

Mitten in Grossättis Baumreihe steht die erste Tafel des Vita-Parcours, angelegt für die Bedürfnisse heutiger, auf Fitness bedachter Feriengäste. Darüber hätte sich nun der Vorfahre meiner Grossmama gefreut.

– Das ist mein Urgrossvater, sagte meine Mutter, als sie mir, dem Kind, auf der Kleinen Schanze in Bern den Stein mit dem Kopf obendrauf zeigte.

Dieser Kopf, hoch über mir, hatte etwas Bedrohliches.

– Es ist der Turnvater Niggeler, fügte sie voll Stolz hinzu. Ich studierte am Wort Turnvater herum.

– Niggeler war der Grossvater meiner Mama, erklärte sie, und wie immer, wenn sie von ihrer früh verstorbenen Mama sprach – unserer Grossmama Wilma, die wir Kinder nicht gekannt hatten –, horchte ich auf. Ihre Stimme wurde dann weich und traurig.

Später wollte ich einmal nachschauen, ob die Büste meines Vorfahren noch am selben Ort stehe. Tatsächlich, da stand sie.

Feuerrot.

Der Bronzekopf unter dicker Farbschicht. Über der Inschrift auf dem Marmorsockel ‹Der schweizerische Turnverein seinem Turnvater› klebten eingetrocknete Farbtropfen.

Die Jugend der 80er-Jahre hatte dem Turnpapa aus dem vorigen Jahrhundert, hinter dem sie nichts als militärischen Drill vermutete, eins ausgewischt.

Hundert Jahre zuvor war das Denkmal für ihn eingeweiht worden. Bund und Kanton waren durch hohe Persönlichkeiten vertreten, und aus der ganzen Schweiz kamen Turner angereist und gaben dem unlängst Verstorbenen die Ehre.

Niggeler hatte sich als junger Turnlehrer am Staatsseminar eingesetzt für Bewegung und Sport an den Schulen im Kanton Bern, wo die Kinder bis anhin nur still auf den Bänken zu sitzen, das Abc und Einmaleins zu lernen und fromme Sprüche von der Wandtafel abzuschreiben hatten. Doch die radikale Regierung, die seine Ansicht unterstützte, wurde abgewählt. Eine konservative kam ans Ruder, und Niggeler wurde – zusammen mit dem Seminardirektor – fristlos entlassen und erst nach Erfolgen in andern Kantonen zurück nach Bern berufen.

Die junge Wilma stand mit ihren Eltern und Brüdern bei der Einweihung des Denkmals in der vordersten Reihe. Sie hatte sich die Stirnfransen mit der Brennschere gekräuselt und trug das neue Samtmieder mit den modischen Puffärmeln, war etwas zu leicht angezogen für den nebligen Tag. Während der Ansprachen segelten Blätter aus den Bäumen auf der Kleinen Schanze herab. Wilma hörte den Reden aufmerksam zu. Als Schülerin der Handelsschule konnte sie auch jenen aus der französischen Schweiz folgen. Der Lebenslauf ihres Grossvaters, den sie geliebt hatte, interessierte sie. Aber sie verstand nicht, warum er sich nur für die Buben eingesetzt hatte. Alle ihre Brüder trieben Sport. Jules, der älteste, der Medizin studierte, war ein guter Reiter. Sie hatte sich heimlich immer ein Pferd gewünscht, wobei sie nie an den Damensitz dachte, nein, in der Grätsche hätte sie reiten wollen, was leider unmöglich war mit den verflixten Bändern am Unterrock. Jeden Morgen machte sie in ihrem Zimmer die Kerze und den Purzelbaum auf dem Teppich vor dem Bett. Manchmal durfte sie mit einem der Brüder tanzen gehen. Mehr Bewegung war nicht möglich für das Mädchen aus einer Villa an der Erlachstrasse in Bern.

Gut erhaltene Fotos zeigen die junge Wilma hübsch frisiert und geschmückt. Hochgestecktes Haar mit gekräuselten Stirnfransen, Ohrringe und eine Brosche unterhalb des Spitzenkragens. Sie hätte mich vermutlich nicht vor dem Spiegel gewarnt, so wie es Grossätti getan hat.

Als Sechsjährige betrachtete ich mich oft und ausgiebig vor dem Spiegelschrank. Eines Tages überraschte mich Grossätti dabei.

Was ich da mache, sei gefährlich, sagte er streng, das gebe rote Augen.

Fortan mied ich die Spiegel, blickte selten ganz kurz hinein und sah gleich voll Schreck, wie sich meine Augen zu röten begannen.

Im tiefen Schnee vor dem Brücklein auf Grossättis Weg bleibe ich wieder stehen und versuche, drüben, auf der Beatenberg-Terrasse, hinter einer Ansammlung neu gebauter Chalets die reformierte Kirche zu entdecken.

Unterhalb der Kirche liegt sie, Wilma, die Grossmama.

Einmal, nach einer Bergtour mit der Mutter, haben wir Soldanellen auf ihr Grab gebracht.

Die zarten lila Blümchen, die im Bergfrühling am Rand eines Schneefeldes wachsen, seien Grossmamas Lieblingsblumen gewesen.

Als wir uns der Kirche und dem Friedhof näherten, wurde meine Mutter still. Sie ging zum Grab, füllte die Schale vor dem Grabstein mit Wasser und stellte behutsam die Soldanellen hinein. Wie verloren blieb sie davor stehen. Ich spürte ihre Traurigkeit und ahnte etwas von der Liebe, die sie mit ihrer Mama verbunden hatte. Dabei wurde sie mir seltsam entrückt, und ich atmete auf, als sie oben auf der Strasse wieder zu meiner Mutter wurde und in gewohnter Weise zu sprechen begann.

Entdecke ich heute irgendwo in den Bergen aus Schneekrusten ans Licht drängende Soldanellen, denke ich immer an meine mir unbekannte Grossmama.

II

Im Wald ist Grossättis Hotelweg etwas aus dem Gleichgewicht gebracht worden. Der irische Mönch, Sankt Beatus, wird aus seiner Höhle herauf bemüht und gibt dem Weg seinen Namen, den er längst dem ganzen Berg gegeben hat. Ein Spielplatz wartet unter Schneekappen auf Kinder, ein Steinkreis gibt vor, er stamme aus keltischer Zeit.

Ich habe den Weg verloren und folge den vereisten Fussstapfen, die zwischen Tannen steil aufwärts führen.

Jules mochte hier aufgestiegen sein, der Onkel Doktor, wie er in der Familie meiner Mutter hiess. Gekannt habe ich ihn nicht. Wenn ihn meine Mutter erwähnte, lag stets ein leiser Vorwurf in ihrer Stimme.

Noch bevor es diesen Weg gab, war Jules wohl mit seiner Braut durch diesen Wald hochgeklettert. Sie wollten ihre Zukunft nicht vor den Dorf-Augen und Dorf-Ohren besprechen. Annerösli, die Einheimische und Ortskundige, kannte hier hinten einen einsamen Hügel, den Amisbühl.

Jules hatte seine Praxis am Ende des 19. Jahrhunderts auf dem Beatenberg, in der alten Post, eröffnet. Doch die Patienten blieben fern. Es war der Arzt, der den Weg unter die Füsse zu nehmen hatte. Ging es weit, zu Geburten etwa ins entlegene Habkern, holte er ein Pferd aus der Fuhrhalterei Schmocker und ritt hin. Oft bei Nacht und im Schnee.

Sobald die Saison begann, wurde er auch in die Hotels bestellt.

Das war die leichtere Seite des Dienstes. Besonders leicht fiel ihm der Ruf ins Hotel Schweizerhof. Dort wurde er jeweils von einer jungen Gouvernante empfangen. Stets gut gelaunt verstand Annerös – wie sie sich vorgestellt hatte – seine witzige Sprache sogleich und gab lustig zurück.

Sie war bei den Gästen und bei den Angestellten beliebt, das hatte er schnell herausgefunden.

Und die Gäste im Hotel Schweizerhof, die sich kurz unwohl gefühlt hatten, lobten den neuen Arzt, der sie mehr als einmal besuchen kam.

Ihm war es ernst. Er machte kein langes Theater. Immer nur studiert, sich weitergebildet und längst über dreissig, hatte er genug vom Junggesellen-Leben. Hier war die Frau, die ihm gefiel, er wollte endlich heiraten. Aber im Flur des Hotels, im Office, im Anrichteraum, im Glättezimmer, im Vestibül vor dem Büro und im Büro selbst, überall dort, wo sie zum Rechten schaute, war sie nie allein, und so liess er sie in seine Praxis kommen, mit der Bitte, das Medikament für einen Gast persönlich abzuholen, die Anwendung sei kompliziert, die könne er nicht dem Laufburschen erklären.

Stehend zwischen dem Regal mit Flaschen, Schachteln und dem Tisch mit Heften, Zeitschriften und dem Stethoskop obendrauf, erklärte er ihr dann etwas anderes.

Annerös schien überrascht.

Er drängte zu einer baldigen Hochzeit.

Endlich willigte sie ein, aber nur bedingt.

Sie war jung, auf dem Berg aufgewachsen und nie weg gekommen und hätte gerne noch mehr gelernt, Sprachen vor allem. Mit Gästen aus Frankreich und England haperte die Verständigung, was unpraktisch war für eine Gouvernante.

Sie hatte sich bereits um eine Stelle in London beworben und wollte später noch in Paris arbeiten gehen.

Seinen Einwand, als Arztfrau auf dem Beatenberg käme sie ohne Fremdsprachen aus, quittierte sie mit einem Lachen.

Es gab also ein Problem. Die Sache, die ihm am Herzen lag, konnte nicht so rasch vorangehen, wie er gehofft hatte.

Eine Aussprache war nötig, und sie verabredeten sich zu einem Spaziergang am Sonntag.

Leichtfüssig stieg sie vor ihm auf. Ein Bergkind, anders als die jungen Stadtfrauen, die er kannte. Er, obwohl sportlich trainiert, musste sich anstrengen, ihr zu folgen.

– Geht das immer so weiter? Ich möchte lieber neben dir gehen.

– Gleich sind wir oben, sagte sie, auf dem Amisbühl. Dort ist kürzlich das Restaurant abgebrannt.

– Schade, ich hätte dich gerne eingeladen.

– Just weil es abgebrannt ist, habe ich den Ort gewählt. Vorher waren die Einheimischen hier jeden Sonntag am Kegeln, da wären wir vom Regen in die Traufe gekommen.

Oben setzten sie sich vor einer Hütte auf die Stallbank. Das Vieh war auf der Alp.

Annerös zeigte auf die abgebrannte Ruine vorn am Abhang. Verkohlte Balken, geschwärzte Wände, das Restaurant Amisbühl. Ein Mahnmal, gespenstisch anzuschauen vor dem prächtigen Bergpanorama. Den beissenden Brandgeruch meinten sie beide noch zu riechen.

– Das sieht ja schrecklich aus, warum wird da nicht aufgeräumt?

– Es ist erst passiert, im März, bevor du gekommen bist.

– Fünf Monate, das ist lang! So lang, wie du mir im Sinn liegst … so lang, wie ich dir nachgestrichen bin … und immer bist du mir entwischt!

Sie lachte und er versuchte, sie auf der Stallbank etwas näher zu ziehen.

Doch die Verliebtheiten konnten warten. Erst galt es, seine Braut umzustimmen.

Er zeigte auf die Schneehäupter, die über den Rand des Hügels herein grüssten, sagte, er verstehe nicht, wie man eine solche Aussicht verlassen könne, und meinte vielleicht die andere, die Aussicht auf eine baldige Heirat mit ihm. Er begann, ihr London und Paris auszureden und die französische Schweiz zu empfehlen, den Genfersee, Montreux, wenn es denn sein müsse, viel näher und mit einem Französisch, das dem in Frankreich in nichts nachstehe. In Montreux habe er einen Kollegen, der würde ihr eine passende Stelle suchen.

Ihr Schweigen deutete er als Zustimmung und drängte nun auf Verkürzung ihrer beabsichtigten Lehrjahre, er habe sie im Hotel französisch sprechen gehört, für ein wenig mehr Schliff reiche ein Winter völlig aus. Das Englisch erwähnte er gar nicht.

– Verlobung im Herbst, Winter in Montreux und im Frühling die Heirat, was sagst du dazu?

Annerös schwieg noch immer und blieb mit den Augen auf der Brandstätte mitten im grünen Gras hängen.

– Morgen frage ich deine Eltern um ihr Einverständnis. Über seine Eile musste sie wieder lachen. Er kannte ihre Eltern noch gar nicht.

Sie erzählte ihm von ihrer Familie, stellte sie vor: der Vater, Lehrer im Spirenwald; die Mutter, an der Sundlauenen aufgewachsen; eine ältere Schwester, zwei ältere Brüder, der älteste, Bänz, ebenfalls Lehrer, gleich da unten im Schulhaus Waldegg, alle noch ledig, und sie, die Jüngste, würde nun die Erste sein, die heiratet.

– Also bist du einverstanden mit meinem Plan, soll ich den Kollegen in Montreux fragen?

Sie schaute ihn an und sagte zu.

Dass sie damit ihr Todesurteil unterschrieb, hatte sie nicht wissen können.

Noch zwei vereiste Stufen, und ich erreiche wieder Grossättis Weg, der aus dem Wald an die Sonne führt.

Vor mir, in voller Höhe, in ganzer Breite, blendet die Jungfrau. Nah und Atem raubend.

Sie behauptet den Platz, unberührt vom Missbrauch, der seit mehr als hundert Jahren mit ihr getrieben wird. Auch an der Weltausstellung in Shanghai sollte ihr Name Wunder wirken, Massen locken, Kassen füllen.

Es kümmert sie nicht.

Doch der Winter täuscht. Im letzten Sommer sah ich ihre schwarzen Flecken, ihr beschädigtes Brautkleid, dessen makelloses Weiss von Jahr zu Jahr schwindet.

Zu Grossättis Zeiten war es noch intakt. Seinen Weg hat er bestimmt auf diesen Ausblick hin angelegt. Eiger und Mönch wissen von ihrem zweiten Rang, strecken erst die Köpfe hinter dem Abhang hervor.

Die Fremden – wie man den Hotelgästen aus dem Ausland damals sagte – sollten die Schönheit der Schneeriesen erst nach und nach entdecken.

Hier beginnt nach dem Wald wieder die von ihm gepflanzte Baumreihe.

Als Kind wusste ich bereits von dieser, seiner grossen Pflanzleistung, doch wunderte ich mich nicht, er hatte auch bei uns während des Zweiten Weltkrieges die Stadtwiese zu einem Pflanzblätz umgegraben und die Böschung gemäht. Grossätti mit Stechgabel, Sense und Rechen war für mich ein vertrautes Bild.

Nichts gewusst hatte ich von seiner musischen Seite. War es die Scheu oder der Respekt vor meinen Eltern – den Berufsmusikern –, die ihn daran gehindert hatte bei uns ein Klavier zu berühren oder zu singen?

Er, der zeitlebens in Chören gesungen, Klavier und Orgel gespielt, so gut, wie man es eben in drei Seminarjahren hatte lernen können, der als Schulmeister in der Waldegg, abwechselnd mit seinem Vater im Spirenwald, den Orgeldienst in der Kirche betreut, eine Blasmusik gegründet, den Gemischtenchor geleitet, wie auch den Männerchor unten in Interlaken …

Der junge Bänz war nicht mehr so jung. Schon seit mehr als zehn Jahren hielt er in der Waldegg Schule, war über dreissig und noch immer ledig. Immer noch brachte er seine Wäsche heim und ass jeden Mittag am Tisch der Eltern, wofür er sie zwar entschädigte.

Seine Mutter, das Änni von der Sundlauenen, schwieg beim Essen, während Mann und Sohn über Schulprobleme diskutierten. Sie war stolz auf ihren Ältesten. Aber warum fand er keine Frau? Im Frauenchor, den er gegründet hatte, liefen ihm die jungen Töchter doch nur so zu. Hin und wieder entwischte ihr eine Andeutung.

– Es scheint, als ob die Jüngste sich schneller entscheidet als ihr, sagte sie ihm eines Tages und kündigte den Besuch des Doktors am nächsten Sonntag an.

Bänz war kerngesund, er kannte den neuen Arzt noch nicht.

Doch am nächsten Sonntag würde er bei den Eltern bleiben, statt aufs Gemmenalphorn zu steigen. Er wollte ihn kennen lernen. Aus eigenem Interesse.

Er trug ein Geheimnis mit sich herum.

Im Mai hatte der Männerchor Interlaken einen Ausflug nach Iseltwald gemacht. Die Sänger kehrten im Restaurant des Hotels am Brienzersee ein. Sie wurden bedient von einer Saaltochter, die keine Oberländerin war. Das sah und hörte man gleich, sie war städtisch gekleidet und sprach das Berndeutsch der Stadt. Anders als bei den Landfrauen, deren Haar streng gescheitelt und in glatt geflochtenen Zöpfen am Kopf lag, kräuselte es sich bei ihr über der Stirn. Den plumpen Anbiederungsversuchen der zunehmend angeheiterten Männer begegnete sie mit kühler Überlegenheit.

Das alles hatte Bänz beobachtet. Er selber trank keinen Alkohol, seitdem sein jüngerer Bruder begonnen hatte, sich selber und seine Schlosserei damit zu ruinieren.

Diese Saaltochter ging ihm nicht aus dem Sinn. Was machte die Städterin mit den dunkeln Kirschaugen in einem Hotel im Oberland? Und wenn schon, warum als Serviertochter und nicht als Gouvernante wie seine jüngste Schwester?

Mitte Juni wurde die Schule in der Waldegg geschlossen. Die meisten Kinder zogen mit ihren Eltern auf die Alpen. Die Winterschule würde erst im September wieder beginnen. Und der Lehrer fing an, als Bergführer zu wirken. Führte Gruppen von unternehmungslustigen Engländern aufs Rothorn, aufs Schwarzhorn, aufs Faulhorn, und nachdem er sie wohlbehalten wieder nach Interlaken gebracht, machte er vor dem Heimweg noch einen Abstecher nach Iseltwald.

Die Saaltochter in jenem Hotel schien sich zu freuen, wenn er ein Glas Süssmost bei ihr bestellte. Manchmal reichte es gar zu einem kurzen Gespräch. Sie wollte wissen, woher er komme. Als er den Beatenberg nannte, sagte sie, sie sei noch nie oben gewesen, würde aber gerne mal sehen, wo ihr Bruder wohne, der sei dort Arzt.

Diese Nachricht schüchterte ihn ein, mehr noch ihre Gewandtheit, mit der sie Gäste aus England bediente. Auf seine Frage, wo sie Englisch gelernt, antwortete sie kurz, sie habe in London gelebt.

Natürlich hatte er auch den Ring gesehen an ihrer linken Hand. Erst hatte er gehofft, es sei ein Ring mit einem Stein, einfach ein Schmuckstück. Beim nächsten Besuch sah er genauer hin. Kein Zweifel, es war ein besitzanzeigender Ring.

Wer war es, dem sie gehörte?

Auf jeden Fall verbot er sich, zu hoffen. Nacht für Nacht zwang er sich in Gedanken zum Verzicht. Doch anderntags zog es ihn wieder Richtung Iseltwald. Nur ein wenig plaudern wollte er mit ihr, da war nichts Unrechtes dabei.

Wie ein Minnesänger kam er sich vor, verehrte eine Frau – zwar ohne ihr zu singen – und wusste, sie war unerreichbar für ihn.

Auf allem, was sie umgab, lag für ihn ein Glanz.

Er fragte nach, und manchmal hatte sie Zeit für eine Antwort. Mit Staunen vernahm er von ihrer letzten Stelle in Lausanne, wo sie, heimgekehrt aus London, als Buchhalterin einer grossen Firma gearbeitet hatte. Auch nach ihrer Familie in Bern erkundigte er sich, nach ihren Brüdern – neben dem Arzt gab es noch einen Juristen, einen Architekten und den Chefredaktor einer Zeitung –, nur nach dem Verlobten wagte er nicht zu fragen.

Am nächsten Sonntag sollte er nun den ältesten ihrer Brüder kennen lernen. Und bald würde der Doktor zur Familie gehören, doch darüber dachte er nicht weiter nach.

Zu sehr war er mit seiner eigenen unmöglichen Liebe beschäftigt.

III

Noch entdecke ich das Hotel nicht.

Das war wohl Grossättis Absicht gewesen. Die Fremden – die Bezeichnung war damals durchaus respektvoll gemeint – die Fremden aus dem Flachland sollten beim Aufstieg eine Überraschung nach der andern erleben.

Grossätti hatte einen gewissen Sinn für Dramaturgie, führte er doch jedes Jahr mit der Schule, auch mit dem Gemischtenchor, ein Theater auf.

Vorn in Schmocken, bei der Bergstation der Drahtseilbahn, erhielten die Kurgäste eine erste Übersicht auf See und Berge. Während der Kutschenfahrt durch das langgezogene Dorf veränderte sich die Landschaft jenseits des Sees, niedrigere Gipfel verschwanden, grössere tauchten auf, aber nahe kamen die ganz grossen erst in der Waldegg.

Beim Grandhotel Regina Palace stiegen alle Gäste aus, auch seine, die auf dem Weg zum Amisbühl erst der Jungfrau begegneten, dann deren Kollegen und erst am Ende auf das höchstgelegene Hotel stiessen, mit seiner unmittelbaren Nähe zu den drei Berner Grössen.

Für die Einweihung der Drahtseilbahn, 1888, hatte er mit seinem Frauenchor das ‹Lied der Alpenrose› einstudiert.

Die Alpenrose, jene buschige kleine Hochsommerblume, die oben zwischen den Felsbrocken blüht, war der Stolz der Einheimischen und entzückte die Fremden. Während der Saison standen die einheimischen Kinder vor den Hotels und boten den Gästen Sträusschen zum Kauf an. Alpenrosen waren auch Grossättis Lieblingsblumen. Von jeder Bergtour brachte er ein ganzes Bündel von ihnen heim, das halb verdurstet an seinem Rucksack hing.

Und als er mit neunzig aus dem Chor austrat, überreichte er zwar nicht den Sängern, wohl aber jeder Sängerin eine Alpenrose zum Abschied. Dass sie aus botanischer Sicht nicht zu den Rosen gehört, war ihm als Lehrer klar.

Doch die kleine Alpenrose, die am verholzten Stängel keine Dornen trägt, war ihm zeitlebens ein Symbol.

Genau gleich wie dem Städter, der seiner Angebeteten mit einer roten Rose mehr als nur eine Blume schenkt. Er hatte allen Grund dazu.

Bänz hatte angeführt, den bequemsten Weg für sie ausgesucht, ihr beim Schritt über die Bergbäche die Hand gereicht, sich vergewissert, ob er nicht zu rasch vorangehe, und jede Stunde eine Verschnaufpause eingelegt. So wie er es allein nie getan hätte.

Die junge Frau, die er vom Amisbühl über den Hohwald gegen das Gemmenalphorn führte, war ein kostbarer Schatz, wenn auch nicht seiner.

Über ihre Zusage, an diesem freien Montag mit ihm auf eine Bergtour zu gehen, war er noch immer verwundert und hocherfreut. Zwar wurde nichts aus ihrer Übernachtung beim Bruder auf dem Beatenberg. Wegen der vielen Gäste am Sonntagabend war sie in Iseltwald festgehalten worden.

Am Morgen hatte er sie in Interlaken vom ersten Schiff abgeholt und war gleich mit ihr in die Waldegg aufgestiegen. Die Sonne stand bereits hoch. Er wusste nicht, ob er ihr den steilsten, für eine Städterin ungewohnten Aufstieg bis zum Gipfel noch zumuten durfte.

Sie schien nicht darauf erpicht zu sein.

Aber ein Felsband, das er kannte, etwas nebenaus und voller Alpenrosen, die jetzt am Blühen waren, wollte er ihr noch zeigen.

Wieder ging er voran, verliess den Bergweg, führte sie durch mooriges, dann wieder trockenes Gelände, vorüber an Steinbrocken und Skeletten abgestorbener Tännchen, bis an die Felswand zu jener Böschung mit Alpenrosen. Inmitten rostiger Blätter blühten unscheinbar kleine Blumen in zartem Rot.

Ein Jauchzer entfuhr ihr. Vergessen war der Ärger über den strapazierten Saum an ihrem Kleid, der viel Reparatur erfordern würde.

Sie kauerte nieder und fing gleich an, von den Stängeln zu brechen.

Er half ihr. Sie sollte einen mächtigen Strauss zum Andenken mitnehmen.

Da sah er es, im Gesträuch der Stängel und Blätter, golden aufblitzen – ihr Ring – und ein Weh zog ihm das Herz zusammen.

Sie plauderte munter weiter. Als keine Antwort mehr kam, schaute sie auf. Seinem Gesicht sah sie sogleich die Verletzung an.

Was hatte sie falsch gemacht?

War er beleidigt, weil sie nicht mehr aufs Horn steigen wollte?

Sie hatte nur eine einfache Rechnung gemacht, war seit fünf Stunden unterwegs und musste abends gewaschen, gekämmt und frisch angezogen vor dem Service wieder im Hotel sein. Hätte sie sich bei der Leitung durchsetzen und auch für den Abend frei nehmen sollen?

Ratlos wandte sie den Kopf und sah hinunter auf den See. Wo war sein Glanz geblieben? Zwar schien die Sonne wie zuvor, kein Wolkenschatten trübte, doch ihr Leuchten war erstorben. Tot blieb das Weiss der Gipfel, das Grün der Wälder, das Rot der kleinen Blumen neben ihr. Sie erhob sich, ohne den Mann anzusehen, der hinter ihr an der Felswand stand.

Warum war sie derart verunsichert?

Sie machte eine Bergtour. Liess sich von einem Einheimischen führen. Ein Missverständnis hatte sich eingeschlichen. Bestimmt nur ein kleines. Beim Abstieg würde sich alles klären, sie würde rechtzeitig zur Arbeit erscheinen, müde zwar, aber guter Dinge.

Doch das war es nicht.

Der verstummte Mann, dem auch sie nichts zu sagen wusste, beschäftigte sie seit Wochen. Auf seine Besuche im Restaurant hatte sie ein wenig zu warten begonnen. Mehr als sie wahrhaben wollte.

Und heute, als er sie sportlich, doch rücksichtsvoll auf den Berg führte, ohne etwas vormachen zu müssen, als sie sah, wie wild sein Schnauz und Haar, wie vom Wetter gegerbt seine Wangen, kam ihr ein anderes Gesicht in den Sinn, schwammig, mit eitel gestutztem Schnurrbart. Sie hatte sich gegen den Vergleich gewehrt. Es war unfair, dem andern gegenüber.

Wie erstarrt blieb sie auf dem schmalen Felsband stehen, blickte weiter in die glanzlos gewordene Bergwelt und begann langsam zu spüren, wer hinter ihr stand. Ohne diesen Mann im Rücken würde ihr Leben, dessen Zukunft sie doch sorgfältig geplant, ebenso glanzlos werden.

Sie drehte sich um zu ihm.

Mit verrosteter Stimme kam es endlich aus seinem Hals, – Wilma, wer ist dein Verlobter?

Erlöst aus ihrer Starre versprach sie, von ihm zu erzählen.