Thomas Meinecke

Meinecke hört

SuKuLTuR

2013

Alle vorliegenden Texte erschienen erstmals im

Winter 2006/2007 in der Wochenzeitung “Die Zeit”.

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Wieso ist eigentlich Disco wieder en vogue? Disco und Punk galten, als sie Mitte der 1970er Jahre aufkamen, zunächst als die denkbar größten Antagonisten. Punk gab sich revolutionär, brachte seine eigenen Vertriebsstrukturen hervor und löste, wenngleich es sich mit seinen aggressiven Insignien gegen sie zu wenden schien, letztendlich Forderungen der Hippies ein. Disco dagegen wurde als unpolitisch, als affirmativ empfunden, bediente sich der zur Verfügung stehenden kommerziellen Strukturen, wurde richtig groß und besonders von der etablierten Rock-Fraktion gehaßt. Die attestierte Disco, entartet zu sein (kastriert), brachte weder Verständnis für die Roben der genetisch männlichen, offensiv schwulen Disco Diva Sylvester auf, noch für das seinem weiblichen Publikum zugewandte Arschwackeln des als heterosexuell geltenden Barry Manilow. (Bei näherer Betrachtung erweisen sich auch viele Protagonisten des Glam Rock, von Mick Jagger bis zu den New York Dolls, als Agenten einer feindlichen Übernahme von Weiblichkeit.) Tatsächlich bildete Disco einen Hort sexuell andersdenkender Subkulturen, hatte die Kulturtechnik des Camp als kritisches Querlesen des Mainstream an die Macht gebracht und nonchalant die Hierarchie der verabredeten Geschlechter suspendiert. Bis heute bestens zu genießen: das laszive Orchester des Barry White, Dr. Buzzard’s Original Savannah Band, Chic, Salsoul, Giorgio Moroders Münchner Inszenierungen einer Prä-Techno-Musik. Als 1979 in einer Chicagoer Sportarena aufgehäufte Disco-Schallplatten in die Luft gesprengt wurden, tauchte die Bewegung erneut in den Untergrund ab und entwickelte dort ihre raffinierten performativen Codes in Richtung jener sowohl sonischen als auch sozialen Szenarien weiter, denen wir seit einem Vierteljahrhundert die Freuden eines durchaus als dissident erkennbaren Nachtlebens verdanken: High Energy, Electro, Garage, House, Techno und neuerdings: Neo-Disco, oft Disco Punk genannt, wo heute offenbar ist, daß sowohl Punk als auch Disco sich vor dreißig Jahren gegen das rockistische Trugbild sogenannter Authentizität wandten. Beide wußten von ihrer Künstlichkeit, und sie wußten diese weltweit zu zelebrieren. Malcolm McLaren produzierte ein Disco Medley der Sex Pistols Hits. James Chance, ESG, Gang of Four oder die Deutsch-Amerikanische Freundschaft legten Anfang der 1980er Jahre Zeugnis von der produktiven Achse Disco / Punk ab. Heutige heiße Produzenten, etwa das Team DFA aus New York, berufen sich auf eben diese Formel.

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New Yorks South Bronx stellt Ende der 1970er Jahre eines der deprimierendsten afrikanisch-amerikanischen Ghettos dar. Eine besorgte Mutter, Helen Scroggins, nimmt Entbehrungen auf sich, um ihren Töchtern Renee, Deborah, Valerie und Marie Musikinstrumente kaufen zu können, um sie vor den dunklen Verlockungen des Straßenlebens zu bewahren. Bald traktiert Renee die Gitarre, Deborah den Baß, Valerie das Schlagzeug, Marie und Tito, ein Junge aus der Nachbarschaft, setzen auf Congas Akzente, alles sehr durchsichtig und ungemein funky. Sie nennen sich ESG, für Emerald, Sapphire and Gold, ihre Glückssteine und das Gold der Goldenen Schallplatte. Von ersten Gagen werden weitere Perkussionsinstrumente angeschafft, alles basiert auf sparsamsten Formen: Wir hören in erster Linie Schlagwerk und Baß, dazu einzelne Slogans, eher rezitiert als gesungen. ESG klingt wie vom Himmel gefallen, wie Art Brut, wie selbst ausgedacht, was natürlich in der das Vordiskursive nicht kennenden Geschichte der Popmusik undenkbar ist. Die Musikerinnen kennen logisch den spröden Funk James Browns, die Polyrhythmen des nördlichen Manhattan, auch die ersten Rapper unten an der Straßenecke; sonntags frönen sie vom Heiligen Geist beseelter Gospel Music. Aber ahnen sie auch nur, wie hochaktuell ihre Songs klingen? Wie kommen sie dazu, auf einem Wettbewerb im subkulturellen Dunstkreis der Lower Eastside einen Gig als Vorgruppe einer britischen Indie Band zu gewinnen und mit ihrer ersten Single 1981 auf dem Factory Label in Manchester zu landen? Dort die Eröffnung des weltberühmten Rave Clubs Haçienda live zu bespielen? Und in New York den letzten Abend der Disco aller Discos, Paradise Garage? Wann bekommen sie mit, daß ihre funky Patterns zu den meistgesampelten der aufbrechenden HipHop Music geworden sind? (Erst Ende der 1980er Jahre werden sie einen Song namens Sample Credits Don’t Pay Our Bills veröffentlichen.) Stoisch spielen sie ihre unschuldig grandiose Musik weiter, veröffentlichen auf kleinsten Labels, Mutter Helen stirbt, Töchter der Töchter, Chistelle und Nicole, übernehmen Gitarre und Baß. Jetzt ist mit Keep On Moving (Soul Jazz Records SJRLP 138) ein weiterer Geniestreich der Familienkapelle erschienen, der abermals jeden Club, aber auch manches Wohnzimmer in wärmste Schwingungen versetzen wird.

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