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Robert Misik

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LINKE

DENKEN

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Über den Autor

Robert Misik, geboren 1966, ist Journalist und politischer Schriftsteller und schreibt regelmäßig für die Berliner »tageszeitung«, die »Berliner Zeitung«, die »Neue Zürcher Zeitung« und den Wiener »Falter«, außerdem produziert er die wöchentliche Videoshow »FS Misik« auf www.derstandard.at. Zahlreiche Preise, etwa der Bruno-Kreisky-Förderpreis, 2010 Journalist des Jahres in der Kategorie Online. 2009 Österreichischer Staatspreis für Kulturpublizistik. Autor zahlreicher Bücher, zuletzt »Erklär mir die Finanzkrise« (2013). www.misik.at

EINLEITUNG
PHILOSOPHIEREN, OHNE ES ZU WISSEN

Der Befund ist ja recht allgemein verbreitet: Politik, die ist heute weitgehend entideologisiert. In den Parteien ohnehin, die sich in der Mitte drängeln, die keine Ideen mehr haben, keine großen Ziele mehr verfolgen und ihre Wahlpropaganda auf ein paar flotte, aber sinnfreie Slogans und Soundbites reduzieren. Aber dieser Befund – oder will man es eher Lamento nennen? – geht noch weiter: Während sich früher Linke brennend für komplizierte theoretische Abhandlungen interessierten, ziegeldicke Bücher nicht nur lasen, sondern auch richtiggehend studierten, sei die Zeit der großen Theoriedebatten ja vorbei. Kaum jemand ackert sich noch durch komplexe Texte, um sich daraus sein »Weltbild« oder eine »politische Linie« zu zimmern. Links, so würden viele Leute sagen, das ist heute doch mehr so ein Gefühl: für Gerechtigkeit, gegen Ungerechtigkeiten jeder Art. Die einen sind gegen den Kapitalismus, weil es diesen ohne Ausbeutung nicht geben könne, die anderen hätten ihn gerne mit ein bisschen Umverteilung gerechter gemacht. Was man an Argumenten für das eine oder das andere unbedingt braucht, das kann man sich problemlos auf Facebook zusammenliken. Rassismus bekämpfen? Sowieso! Imperialismus böse finden? Dafür braucht man doch keine große Lektüreanstrengung! Diese »Gefühlslinke« wisse im Grunde nur mehr, wogegen sie sei, könne aber kaum mehr formulieren, wofür sie sei, lautet ein damit verbundenes Urteil. Auch dafür sei die »Entideologisierung« verantwortlich – Linke früherer Tage hätten Gewissheiten gehabt, aber heute lägen diese alle in Trümmern.

Doch nicht nur die Linken, die sich in irgendeinem Sinne noch als politisch verstehen, seien denkfaul geworden, so das Verdikt. Auch das Milieu, das sich früher einmal in einem weiteren Sinne dem »wilden Denken« verschrieben hätte, existiere nicht mehr: Dieses Milieu kulturtheoretisch Interessierter, in dem man erst Marx, dann Adorno, Horkheimer und Habermas verschlungen hat, um sich später über Foucault dem Poststrukturalismus und postmodernen Denkern wie Lyotard, Deleuze und Guattari zuzuwenden, sei heute auch schon Geschichte. Diese Text- und Theoriebesessenheit, diese Obsession für verwegene und manchmal auch ein wenig skurrile Gedanken – alles von gestern. »After Theory«, »Nach der Theorie« – diesen programmatischen Titel verpasste der marxistische britische Kulturtheoretiker Terry Eagleton einem kleinen Büchlein über den Zustand seiner Profession. Und dem deutschen Wissenschaftler Philipp Felsch gelang zuletzt ein regelrechter Coup mit seinem Buch »Der lange Sommer der Theorie«, in dem er die Diskursversessenheit einer breiten intellektuellen Leser- und Debattiererschar auf die Jahre 1960 bis 1990 periodisiert.

Die Botschaft von all dem: Das systematische Lesen und damit auch das fundierte Denken – alles hoffnungslos out.

Das ist natürlich nicht gänzlich falsch, aber womöglich ein wenig zu oberflächlich geurteilt. Denn erstens entsteht die Diskrepanz ein wenig durch nostalgische Verklärung der Vergangenheit und eine gewisse Ignoranz gegenüber der Gegenwart: Auch in den siebziger und achtziger Jahren hat nur eine Minderheit rebellischer junger Leute und avancierter Jungakademiker die Theorie-Konvolute in sich hineingestopft – und diese Minderheit gibt es heute immer noch, auch wenn sie vielleicht etwas kleiner sein mag. Zweitens ist die Annahme, Linke früherer Generationen seien mit Gewissheiten bis obenhin angefüllt gewesen, ein ziemlicher Unfug. Es mag ein paar sektiererische Doktrinäre und Bücherwürmer gegeben haben, die tatsächlich glaubten, aus dem aktuellen Stand des Lektürewissens alle Antworten auf alle gegenwärtigen und zukünftigen Probleme, also den Schlüssel zur Geschichte in der Tasche zu haben, aber das war natürlich in der realen Linken nie die Mehrheit. »Ihr habt mit Gewissheiten gelebt«, wann immer sie diesen Satz höre, denke sie, »was für ein Unsinn«, schreibt die legendäre italienische Kommunistin Rossana Rossanda in ihren Lebenserinnerungen. Das Gegenteil sei wahr gewesen: »Wir haben mit Fragen gelebt.« Soll heißen: Die Welt änderte sich ständig und stets war unklar, ob bisherige Analysen nicht über den Haufen geworfen werden mussten. Linkes Denken war niemals fix, sondern stets auf schwankendem Boden. Die, die man die »Theoretiker« nannte (und noch etwas früher die »Ideologen«), waren drittens immer eine Minderheit in den linken Parteien und Milieus, aber sie wirkten natürlich auf das Denken in diesen Bewegungen ein.

Aber ist es denn überhaupt wahr, dass es so etwas wie ein einigermaßen konzises linkes Denken nicht mehr gibt? Folgt all das, was der gemeine Durchschnittslinke so denkt, wirklich bloß ein paar Gefühlen und Gutmenschen-Reflexen? Ist es tatsächlich völlig losgelöst von theoretischen Überlegungen, wie sie in den vergangenen hundertfünfzig Jahren angestellt wurden?

Ich würde wagen das zu bestreiten, ja beinahe so weit gehen zu sagen, dass das Gegenteil der Fall ist: Das, was der und die zeitgenössische Durchschnittslinke denkt, ist das Produkt dieser philosophischen und theoretischen Überlegungen. Schließlich gilt auch für die verschiedenen Stränge der linken Philosophie (womöglich sollten wir besser im Plural, von »Philosophien«, sprechen), was der kommunistische Denker Antonio Gramsci, einer der großartigsten Theoretiker des zwanzigsten Jahrhunderts, einmal so beschrieben hat: »Jede philosophische Strömung hinterlässt eine Ablagerung von ›Alltagsverstand‹; diese ist das Zeugnis ihrer historischen Leistung. Der Alltagsverstand ist nichts Erstarrtes und Unbewegliches, sondern verändert sich fortwährend, indem er sich mit in das Alltagsleben übergegangenen wissenschaftlichen Begriffen und philosophischen Meinungen anreichert. Der ›Alltagsverstand‹ ist die Folklore der ›Philosophie‹.« Gilt das, was Gramsci hier formulierte, eben nicht auch für viele Elemente linker theoretischer, gesellschaftskritischer und philosophischer Analyse der vergangenen hundertfünfzig Jahre: dass sie sich in einer Art Sickerprozess verbreitet hat?

Solche Sickerprozesse können wir, wenn wir das etwas holzschnitthaft formulieren wollen, so beschreiben: Eine kluge Person – oder eine Gruppe von Theoretikern und Theoretikerinnen – entwickelt eine philosophische Analyse; eine kleine Gruppe philosophisch oder gesellschaftskritisch interessierter Leser eignet sich diese Analyse an; sie übernimmt sie entweder vollends oder Bruchstücke davon, kombiniert sie möglicherweise mit Versatzstücken anderer Theorien; sie verbreitet sich im allgemein an intellektuellen Fragestellungen interessierten Milieu; sie findet Eingang in die Medien, in Leitartikel oder die Essayistik; sie wird erst gelegentlich, dann immer häufiger aufgegriffen, sei es in öffentlichen Diskussionen, in Kneipengesprächen oder anderswo; ja, klar, die einen oder anderen plappern nur Schwundformen nach, also ziemlich versimpelte Varianten; andere wiederum weisen dann gelegentlich darauf hin, dass man die Dinge gar so simpel nicht sehen darf, da die Wirklichkeit komplex und kompliziert, aber gerade deswegen auch interessant ist. Auf diesem und ähnlichen Wegen verbreiten sich Theorien und Philosophien und werden zu einer Art Sediment. Das heißt: Was von irgendjemandem einmal aufgeschrieben wurde, wird dann von Leuten geteilt, die das möglicherweise nie gelesen haben, vielleicht von dem Philosophen und Theoretiker, der die entsprechende These ursprünglich entwickelt hat, noch nicht einmal gehört haben. Gerade dann aber, so Gramsci, beweise sich ja die Stärke einer Philosophie: Wenn sie in den Alltagsverstand eingeht und ihre Postulate von vielen Leuten »wie selbstverständlich« geteilt werden.

Das Sprachbild von der Sedimentierung trifft es wahrscheinlich ziemlich genau: Sedimente entstehen in einem Sickerprozess. Und auf diesen Sedimenten bilden sich wiederum andere Ablagerungen, bis sich Schicht für Schicht aufeinandertürmt. Genauso ist es mit philosophischen Strömungen, die nach und nach verschiedene Probleme behandeln. In jeder Vergangenheit liegt ein uneingelöstes Versprechen, das vielleicht verschüttet ist, aber niemals vollends vergessen.

Nun ist der Begriff Alltagsverstand in diesem Zusammenhang vielleicht etwas deplatziert. In den Alltagsverstand, wie Gramsci ihn definierte, geht instinktives Wissen ein, wie es sich etwa in simplen Sprichwörtern verdichtet (»Von Nichts kommt nichts«, »Gesetz ist Gesetz«), die Art, wie man die Welt sieht. Aber auch gängige kulturkritische Postulate gehören in breiteren Kreisen heute zum Alltagsverstand, etwa dass »der Kapitalismus alles zur Ware macht« oder »der Mensch nichts mehr zählt«. Oder dass der einzelne Mensch in weiten Teilen »Produkt seiner Umwelt und der Gesellschaft« ist. Oder dass wir existenzielle Bedürfnisse haben, aber auch sehr viel »geschaffene Bedürfnisse«, die uns Firmen und Werbung aufschwatzen. Dass Geschlechterrollen Frauen knechten (und Männer gleich mit), das ist eine Gewissheit, die durchaus auch von vielen Menschen geteilt wird, die noch nie ein Buch über Feminismus zur Hand nahmen, und dass es einen rassistischen Blick gibt und der »weiße Blick« auf, beispielsweise, Afrikaner, aber auch auf die Weltgeschichte von einer kolonialistischen Perspektive vergiftet ist, ist auch über die Kreise jener Leute hinaus bekannt, die Bücher über postkoloniale Theorie lesen. Manche dieser Urteile, Meinungen und Überzeugungen sind so weit verbreitet und in bestimmten, gar nicht so kleinen Milieus als derart selbstverständlich anerkannt, dass wir sie durchaus auch zum Alltagsverstand zählen können – vielleicht nicht zum Alltagsverstand der gesamten Gesellschaft, aber doch zum Alltagsverstand jener Millionen Menschen, die sich im weitesten Sinne als »Linke« verstehen würden. Genauso gibt es in Kreisen nachdenklicher Menschen viele Überzeugungen, die etwa das Individuum, die Freiheit oder auch Nonkonformismus, Kreativität und die Idee der Selbstverwirklichung betreffen, die von Gedankengängen inspiriert sind, die wir zum Beispiel aus Sartres Existenzialismus oder auch Herbert Marcuses Überlegungen über den »eindimensionalen Menschen« kennen, auch wenn diese nachdenklichen Menschen noch nie etwas von Sartre oder Marcuse gelesen haben.

Mit einen Wort: Einflussreiche Theorien sind eben deshalb einflussreich, weil viele Leute ihre Postulate teilen oder zumindest einige von diesen – selbst dann, wenn ihnen das nicht einmal bewusst ist.

Insofern ist die These zumindest fragwürdig, dass die Linke heute »antiintellektuell«, »theorievergessen« oder »entideologisiert« ist. Eher ist es so: Es ist in gewisser Hinsicht wahr, und in anderer unwahr. Ich versuche in diesem Buch in acht Kapiteln, die sich allesamt jeweils einem Theoriebaustein oder auch Schlagwörtern wie »Entfremdung«, »Revolution«, »Reform«, »Individualismus«, »Macht« oder anderen Aspekten widmen, zu zeigen, welche Haltungen heute in den linken und gesellschaftskritischen Milieus weitgehend geteilt werden und aus welchen theoretischen Quellen sie sich speisen.

Und ich gebe schon zu: Der Titel »Was Linke denken« könnte als etwas hochtrabend missverstanden werden. Denn erstens kommt natürlich auch mir bei manchen meiner linken Weggefährten nicht selten in den Sinn, »ein bisschen Denken könnte nicht schaden«, und zweitens gibt es »die Linken« als homogene Gruppe selbstverständlich nicht – wer schon einmal beobachtet hat, wie es ist, wenn sich zwei Linke bei einer Diskussion zu einem beliebigen Thema in die Haare kriegen, weiß, wovon ich spreche. Vielleicht sollte ich daher einmal klären, was ich meine, wenn ich von »den Linken im weitesten Sinne« spreche: Leute, die aus einer gewissen Grundüberzeugung heraus linke Parteien wählen, seien das Sozialdemokraten, Grüne, andere »linkere« Linksparteien; Leute, die sich für eine solidarische Gesellschaft einsetzen, seien das Elterninitiativen, die etwas für gleichberechtigte Bildung tun, oder auch christliche Caritas-Funktionäre, die Flüchtlingen helfen; Antifa-Demonstranten genauso wie viele Gewerkschaftsvertrauensleute im Betrieb; Leute, die alle paar Jahre an einer Demonstration teilnehmen genauso wie Leute, die das jede Woche tun; Leute, die für die Freiheit der Kunst sind und gegen einen Konformitätszwang, die glauben, dass Aufklärung etwas bewirken kann, die Internationalität jedenfalls anziehender finden als Nationalismus und Rassismus, und die im Allgemeinen finden, dass Geld und Karriere nicht das Wichtigste im Leben sind und dass in einer guten Gesellschaft jeder und jede das Recht und die Chance haben sollte, seine Talente zu entwickeln; Leute, die sich über einen Wahlsieg eines schwarzen Demokraten bei den US-Präsidentschaftswahlen mehr freuen als über den Wahlsieg eines rassistischen Republikaners und Leute, die Sexismus für ein tatsächliches Problem halten und nicht nur für eine Erfindung von Emanzen im »Genderwahn«, wie das die Nichtlinken nennen würden. Kurzum: Dazu gehören für mich »linkere« und politisch entschiedene Linke genauso wie Normalos aus der Mitte, die etwas links »ticken«. Diese Linke ist natürlich extrem bunt und heterogen und man wird zu jeder Frage genügend Leute finden, die in wichtigen Details unterschiedlicher Meinung sind – aber es gibt auch genügend Überzeugungen, die von einer überwältigenden Mehrheit dieser vielstimmigen Linken geteilt werden; ehrlich gesagt denke ich, dass die überwiegende Mehrheit bei sehr vielen Themen verblüffend ähnliche Meinungen äußern würde, wenn wir sie dazu brächten, einmal gemeinsam darüber zu reden.

Anders gesagt: Dieses Buch behandelt Fragen, in denen sich die überwiegende Mehrheit in dieser vielfärbigen Linken (man kann sie auch Marmor- oder Mosaik-Linke nennen) einig ist, und es behandelt die philosophischen und theoretischen Grundlagen, auf denen linkes Denken basiert. Es ist nicht akademisch, aber doch auch inspiriert von einer wissenschaftlichen Disziplin, der Wissenssoziologie nämlich, die sich nicht nur die Frage stellt, wie Theorien und Wissen entstehen, sondern auch wie sie unter die Leute kommen. Oder: Dieses Buch beurteilt die Theorien nicht bloß ihrer Originalität wegen, sondern legt zunächst das Gewicht auf ihre Wirkungsgeschichte. Und es ist noch in einer anderen Hinsicht unakademisch: Es ist vorsätzlich gemeinverständlich gehalten. Der Sound und das Raunen der Unverständlichkeit, mit denen sich Theorie bisweilen gerne umgibt, ist, so hoffe ich, in diesem Buch nicht auffindbar.

Bevor wir unsere Reise durch das linke Denken antreten, möchte ich hier noch zwei Vorabüberlegungen anstellen, damit wir uns über ein paar Begriffe Klarheit verschaffen, die sehr gerne salopp und voraussetzungslos gebraucht werden. Zunächst einmal eine Frage, die Sie sich vielleicht schon bei der Lektüre der bisherigen Absätze gestellt haben: Warum wird eigentlich wechselweise von Philosophie, dann wieder von Theorie gesprochen? Andersrum: Warum sprechen Linke gerne von »Theorie«? Warum sagen sie nicht einfach »Philosophie«?

Das ist eine knifflige Frage, ich würde die Antwort so formulieren: Philosophie ist eine traditionell ziemlich klar umgrenzte akademische Disziplin, die historisch stark mit Begriffen wie »Idee«, »Geist« und Ähnlichem assoziiert ist. Die linke Philosophie war immer auch ein wenig eine Revolte gegen diese Form der »Philosophie«, die viel von »Geist« und »Denken« handelte, ohne über materiellen Mangel, die Produktion oder Macht nachzudenken. Marx hat die ökonomischen und gesellschaftlichen Grundlagen zu analysieren versucht, die bestimmte »Ideen« erst sprießen ließen. Der Begriff »Theorie« wird also wohl auch deshalb favorisiert, weil er erlaubt, unterschiedliche Disziplinen zu integrieren: Ökonomie, Soziologie, Philosophie, Geschichte und Psychologie, um nur ein paar zu nennen. Der Begriff »Theorie« annonciert eine radikale Offenheit, alles ist hier anschlussfähig, im Notfall auch Forschungen über Technologie oder Computernetzwerke. Aus der Perspektive der »Theorie« ist alles potenziell interessant, man muss es nur richtig zu betrachten vermögen – im Extremfall sogar das Design von Klodeckeln. Im Begriff »Theorie« schwingt auch eine gewisse Vorläufigkeit, Unabgeschlossenheit und, ja, auch Verspieltheit mit. Theorien sind mehr Versuchsanordnungen als streng und systematisch entworfene philosophische Gebäude. Natürlich, so richtig trennscharf sind die Begriffe »Philosophie« und »Theorie« nicht auseinanderzuhalten, aber das sind so in etwa die Gründe, warum viele Linke, aber auch postmoderne Denker und Denkerinnen den Begriff »Theorie« dem Begriff der »Philosophie« vorziehen. Gut, man kann jetzt einwenden, das ist Wortklauberei und Begriffsscholastik, und bis zu einem gewissen Grad ist das auch wahr – womit wir übrigens schon mitten drin in einem weiteren Aspekt linker Geistesgeschichte sind, der vielleicht auch nicht ganz unerheblich dafür ist, dass die Theorie- und Diskursmode etwas abgeflaut ist: nämlich beim fruchtlosen Streit über Vokabel.

Denn wenngleich, wie wir gesehen haben, heute oft darüber lamentiert wird, dass die Linken denkfaul und die jungen Studenten theorievergessen sind, soll man nicht ganz aus den Augen verlieren, dass die Figur des linken Bücherwurms ja nicht in allen Fällen und zu allen Zeiten nur eine sympathische Figur war. Wie oft hat man die aseptische Buchstabengläubigkeit oder auch die Besserwisserei der linken Theoriegurus und Diskursjockeys verlacht! Die Obsession, mit der man einander in der Hochphase der studentischen und akademischen Linken irgendwelche Zitate aus Klassikern an den Kopf warf und mit der man sich über unterschiedliche Interpretationen mancher Halbsätze aus vergammelten Marx-Texten zerstritt, hatte ja nicht selten etwas extrem Ernstes und extrem Lächerliches zugleich. Aber dieser Typus kam natürlich nicht erst in den Jahren 1968ff. auf. Schon der große George Orwell, der ja nicht gerade ein Feind des Geisteslebens, sondern im Gegenteil selbst einer der bedeutendsten Intellektuellen des zwanzigsten Jahrhunderts war, hat die Figur des linken Theoretikers in grellen Strichen skizziert und aufgespießt. »Der Fachjargon der Kommunisten ist von der gewöhnlichen gesprochenen Sprache so weit entfernt wie die Sprache eines mathematischen Lehrbuchs«, ätzte Orwell. Es sei nicht gerade ein Vorteil des Sozialismus, schrieb er in den dreißiger Jahren, dass man sich unter einem Sozialisten oft »den intellektuellen, Traktate verfassenden Typ, mit seinem Pullover, dem wirren Haar und den Marx-Zitaten« vorstelle. Aus diesem Grund würde auch mancher Arbeiter meinen, »ein Sozialist sei ein langweiliger oder unangenehmer Mensch«, und die Theorie- und Utopiegebäude, die viele linke Theoretiker aufstellten, ähnelten einem »Paradies für Pedanten«, von Buchstabenhengsten und Tugendaposteln entworfen, in denen man als normaler Mensch nicht unbedingt leben wollen würde. »Dazu kommt noch die schreckliche – die wirklich beunruhigende – Häufigkeit verdrehter Typen, wo immer Sozialisten versammelt sind. Manchmal bekommt man den Eindruck, dass die bloßen Worte ›Sozialismus‹ und ›Kommunismus‹ mit magnetischer Kraft jeden Fruchtsaftapostel, Nudisten, Sandalenträger, Sexverrückten, Quäker, ›Naturheil‹-Pfuscher (…) wie magisch anziehen.« Den Typus des linken Theoretikers vor Augen, schrieb Orwell böse, müsse konstatiert werden: »Wie bei den Christen sind beim Sozialismus seine Anhänger die schlechteste Reklame«.

Und wie beim Sozialismus und beim Christentum ist es vielleicht auch beim Denken manchmal so – die Denker sind dafür nicht immer die beste Reklame. Dabei ist Denken ein großes Abenteuer, geniale Theorien bringen uns auf Ideen, die wir sonst nicht gefasst hätten. Sie halten uns wach im Kopf, verhindern, dass wir versumpfen und verblöden. Besser eine versponnene Idee als gar keine. Ideen sind es, die Menschen dazu bewegen, die Welt zu verändern. Ja: Ideen verändern die Welt. Neben einer Kartografie des zeitgenössischen linken Denkens will dieses Buch daher auch sein: eine Werbung für das Abenteuer Denken, für den Sturm im Kopf, den spannende Thesen und bisher ungedachte Assoziationen auslösen können.

 

Copyright © 2015 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien
Alle Rechte vorbehalten
Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien
ISBN 978-3-7117-2030-6
eISBN 978-3-7117-5302-1

Informationen über das aktuelle Programm des Picus Verlags und Veranstaltungen unter www.picus.at

Robert Misik

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LINKE

DENKEN

Ideen von Marx über Gramsci zu
Adorno, Habermas, Foucault & Co

 

Picus Verlag Wien

INHALT

Über den Autor

EINLEITUNG
PHILOSOPHIEREN, OHNE ES ZU WISSEN

1. TALKING ’BOUT A REVOLUTION

Warum wir heute alle irgendwie Marxisten sind – und auch wieder nicht

2. IT DOESN’T TAKE A REVOLUTION

Es würde doch schon reichen, sich auf Trippelschritten einem Ideal anzunähern. Aber wer hat heute denn noch Ideale?

3. HERR GRAMSCI HÄTTE GERNE DIE HEGEMONIE

Wie die Herrschenden herrschen und wie der Kampf um die Hirne und Herzen der Unterdrückten funktioniert

4. WER HAT DIE KRITISCHERE KRITIK?

Herr Adorno hat stets schlechte Laune.

Für und Wider von Aufklärung und Fortschritt

5. VOM ICH-AUFSTAND ZUR SEXMEUTEREI

Herr Marx will unentfremdete Menschen, doch bald wird gefragt, ob »der Mensch« überhaupt existiert.

Kein Wunder, dass später Frau Butler sogar bezweifelt, dass es Frauen gibt

6. DAS KOLONISIERTE DING WIRD MENSCH

Die Unterdrückung produziert den Unterdrückten.

Die völlig Marginalisierten können nicht einmal sprechen, findet Frau Spivak heraus – denn wenn sie sprechen könnten, wären sie nicht mehr marginalisiert

7. SPRECHEN HEISST KÄMPFEN

Herr Foucault sucht nach der Macht und findet den Diskurs – oder umgekehrt

8. VERNETZT EUCH!

Wie das postmoderne Wissen die alte Linke erst zerlegte und dann neu zusammensetzte

SCHLUSS FRAGEND SCHREITEN WIR VORAN!

LEKTÜRE

1.
TALKING ’BOUT A REVOLUTION

Warum wir heute alle irgendwie Marxisten sind – und auch wieder nicht