Cover
Kristina Dunker
Anna Eisblume
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www.gulliver-welten.de
Gulliver 869
Originalausgabe
© 2001 Beltz & Gelberg in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Silvia Bartholl
Neue Rechtschreibung
Markenkonzept: Groothuis, Lohfert, Consorten, Hamburg
Einbandgestaltung: Max Bartholl unter Verwendung eines Fotos von Monika Paulick
ebook: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-74270-4

1

Mein Vater hat mich Orchidee genannt.
Den Namen Anna habe ich von meiner Mutter. Sie mag kurze, klare Namen. Mein Vater dagegen bevorzugte das Ausgefallene. Als ich jünger war, erzählte er mir an jedem Geburtstag, wie er den Standesbeamten von meinem zweiten Vornamen überzeugte. Das war mein liebstes Geburtstagsritual: Wir saßen alle drei am Kaffeetisch, auf dem eine Vase mit Orchideen stand, meine Mutter zündete die Kerzen auf dem Kuchen an, und mein Vater wiederholte stolz die Worte, die er zu dem Beamten gesagt hatte: »Hören Sie, mein Herr, es gibt so viele Mädchen, die –Blumennamen tragen: Yasmin, Iris, Erika, Rosa, Viola. Warum soll meine Tochter, die für mich das schönste und wunderbarste Baby der Welt ist, nicht nach einer Orchidee heißen?« Er hatte dem Beamten mein erstes Foto gezeigt, und der war rot geworden – genauso rot wie ich jedes Mal wurde, wenn er mir diese Geschichte erzählte –, und dann hatte der Beamte irritiert mit dem Kopf genickt und meinen Namen in die Geburtsurkunde eingetragen, meinen Namen, Anna Orchidee Lessmann.
Ich habe mir geschworen, dass ich niemals jemandem erlauben werde, meinen Vater zu beleidigen. Gestern hat Valerie es getan. Dafür wird sie jetzt büßen.
Ich verlasse das Haus meiner Eltern eine halbe Stunde früher als gewöhnlich. Einen Moment bleibe ich zögernd auf der Schwelle stehen. Die Haustür wie ein schützendes Schild im Rücken, ziehe ich den starken Duft der Hyazinthen ein, die meine Mutter gestern gekauft und gleich in den Blumenkasten vor dem Küchenfenster gepflanzt hat. Meine Mutter umgibt unser Haus mehr denn je mit Blumen, als könne sie so allen Leuten zeigen, dass sich bei uns nichts verändert hat. Ich verstehe sie, aber für mich hat ihr Bemühen die gegenteilige Wirkung, sie macht unser Haus zu einem offenen Grab.
Doch wenn ich ehrlich bin, bin ich schlimmer als meine Mutter. Ich umgebe mich mit Lügen, damit niemand meiner Mitschüler merkt, dass sich bei uns alles verändert hat. Das ist nicht einfach und es ist auch nicht angenehm, aber es muss leider sein. Bis gestern war es mir vielleicht auch gar nicht so unangenehm. Bis Valerie gestern vor der ganzen Klasse meinen Vater beleidigt hat.
Ich gebe mir einen Ruck und spüre sogleich eine wild zuckende Bewegung Madonnas in meiner Schultasche. Madonna hatte kein Frühstück, und sie hasst es, in engen Schultaschen eingesperrt zu sein. Wenn ich mit ihr im Klassenraum ankomme, wird sie so gereizt sein, dass sie alles totbeißen wird, was ihr vor die Zähne kommt. Sie wird es gut machen, nicht so wie ihre Schwestern Mariah und Sabrina, die manchmal nur eine einzige weiße Maus in drei Tagen verschlingen und sich danach zu einem schläfrigen Verdauungskringel zusammenrollen. Madonna ist eine echte Kampfnatter, und es tut mir ausgesprochen Leid, sie für meine Rache an Valerie opfern zu müssen. Aber Valerie hat etwas gesagt, das ich absolut nicht vertragen und ihr erst recht nicht verzeihen kann.
Also gehe ich los.
Am Kiosk kaufe ich wie jeden Morgen Zigaretten und nehme mir wie jeden Morgen vor, dass es meine letzten sein werden, schließlich bin ich erst fünfzehn und weiß, wie schädlich die Dinger sind. Aber ohne meine Schachtel überstehe ich den beknackten Schultag nicht. Ich hasse die Gesamtschule seit Jahren, wie ich seit gestern Valerie hasse. Sogar meine Mutter hat eine Abneigung gegen meine Schule, seit Skins ihr beim letzten Elternabend ein Hakenkreuz in den Autolack geritzt haben. Also stecke ich mir eine Zigarette an und lasse die Schachtel achtlos zu Madonna in die Tasche fallen. Madonna zischt und zuckt, und der Kioskbesitzer beugt sich neugierig aus seinem Häuschen heraus, um zu sehen, was ich da in meiner Tasche habe.
Auf dem Schulhof warten erst wenige Schüler. Das ist gut, denn ich möchte möglichst unbemerkt und vor allen anderen in die Klasse kommen, damit mir keiner meinen Plan vereitelt. Eilig laufe ich auf den Haupteingang zu. Da werde ich von der Seite angequatscht: »Hi, Anna, schon wach? Hast du mal ’ne Kippe für mich?«
Ausgerechnet Kollo! Den habe ich gar nicht gesehen! Was will der so früh hier? Das passt mir überhaupt nicht!
»Kannst du dir keine eigenen leisten?«, fauche ich ihn an.
»Ich hatte welche, Anna, ich schwör’s. Aber die Säcke aus der 10 haben sie mir gerade eben geklaut.«
»Oh, du armer Junge, das tut mir aber Leid, da musst du wohl schmachten.«
»Komm, Anna, sei nicht so!« Er tritt auf mich zu, so nah, dass ich einen Riss in seiner Jacke sehen kann.
»Verzieh dich«, sage ich knapp.
Er stemmt die Hände in die Hüften. »Die eiskalte Orchidee, hart und herzlos wie immer.«
»Was laberst du für einen Stuss«, fahre ich ihn an, ziehe den Reißverschluss meiner Tasche auf und greife wütend nach der Zigarettenschachtel. Meine Güte, dann gebe ich ihm eben eine, Hauptsache, er lässt mich in Ruhe. Mist, die Madonna!
»Au!«
Ich schreie auf, ziehe blitzartig meine Hand zurück und schließe die Tasche. Aus den Augenwinkeln sehe ich die Lehreraufsicht in der Nähe. Verdammt! Der bekloppte Kollo vermasselt mir alles! Mit vor Wut zitternder Hand halte ich ihm die Zigaretten hin.
»Nimm dir eine, mach schon, da kommt die Schöller, die kriegt schon Stielaugen!«
Kollo rührt sich nicht. Er starrt auf meine Hand. Aus stecknadelkopfgroßen Bisswunden quellen dicke Blutstropfen.
»Sehe ich da jemanden Zigaretten anbieten?«, höre ich von hinten die Stimme der Schöller. Ich stopfe die Schachtel schnell in meine Jacke. Gut, dass ich meine Zigarette längst fortgeworfen habe.
»Torsten Kollodziak und Anna Lessmann aus der 8R2«, stellt Frau Schöller fest. »Guten Morgen, die Herrschaften.«
»Anna Orchidee Lessmann«, korrigiere ich. Wenn sie uns schon an unsere Schüleridentität erinnern muss, dann soll sie das auch richtig tun.
Frau Schöller geht nicht darauf ein. Kaum ein Lehrer tut das. Für die meisten bin ich nur Anna.
»Was wolltest du Torsten denn gerade geben?«, fragt sie stattdessen.
»Ich wollte ihm gar nichts geben, ich wollte ihn nur um ein Pflaster bitten«, sage ich und zeige ihr meine blutverschmierte Hand. »Ich hab mich geschnitten«, füge ich hinzu.
»Pflaster bekommst du im Sekretariat«, sagt Frau Schöller milde, ich danke ihr und setze endlich meinen Weg fort. In meiner Tasche rumort Madonna. Als ich mich vor dem Eingang noch einmal umdrehe, sehe ich, dass Kollo mir nachblickt. Ohne es zu wollen, muss ich grinsen.
»Jetzt gibt’s gleich Leckerchen, Madonna-Schatz«, flüstere ich meiner Schultasche zu, als ich in unseren leeren Klassenraum trete und vorsichtig die Tür hinter mir schließe. Der Glaskasten mit den Rennmäusen steht auf einem Tisch am Fenster: Valeries Mäuse. Valerie züchtet nämlich zu Hause Wüstenrennmäuse. Sie hat eine solch große Familie herangezogen, dass sie zwei von ihnen in unsere Klasse ausquartiert hat. Sie haben alberne Namen: Fips und Faps heißen sie.
Ich halte mich da lieber an Schlangen. Die fressen übrigens Mäuse, nicht wahr, Madonna?
Rasch nehme ich den Deckel des Terrariums ab, und schon kommen die zwei Mäuse angelaufen, recken sich hoch und machen Männchen. Die denken, ich sei Valerie und würde ihnen ein paar Körner geben. Leider verrechnet, ihr Süßen, ich bin die eiskalte Orchidee, und ich bringe mein Lieblingstier mit, und ich will sehen, ob ihr wirklich so gut rennen könnt, wie euer Name sagt.
Behutsam öffne ich meine Schultasche. Madonna zischt. Zum Zögern bleibt mir keine Zeit. Mit einem geübten Griff packe ich die Schlange. Sie windet sich hin und her, ringelt sich um meine Hand, aber sie entwischt mir nicht, sondern landet im Glaskasten. Schon kommt die eine Maus dumm und neugierig auf Madonna zu, und die tut, was sie tun muss.
Gebannt starre ich auf den Kasten. Die kleine schwarze Maus, die so neugierig war, zappelt nur einen Augenblick. Meine Schlange ist schnell, und meine Schlange ist schön, selbst wenn sie tötet. Während ich sie beobachte, spüre ich plötzlich mein Herz klopfen. Ich habe eine Ungeheuerlichkeit getan, ich habe eine Kornnatter zwischen Valeries zuckersüße Mäuschen geschmuggelt. Wenn das rauskommt, kann ich von der Schule fliegen.
Da! Die Glocke läutet! Nichts wie weg! Ich packe meine Tasche, renne zur Tür, raus aus dem Raum. Noch ist niemand, den ich kenne, auf dem Gang. Nur ein paar jüngere Schüler, die keine Notiz von mir nehmen. Ich mische mich unter sie und gehe zum Klo. Ich zittere. Ich muss meine blutige Hand waschen. Ich muss mich beeilen. Und ich muss vor allem ruhig bleiben. Eiskalt, wie Kollo sagen würde.

2

In der Mädchentoilette herrscht reges Gedränge. Besonders der Spiegel ist von schminkwütigen Damen umlagert. Aber ich will mein Gesicht sowieso nicht sehen. Ich weiß, dass es viel zu blass ist. Lieber husche ich erst mal in eine Kabine und halte einen Moment inne.
»Findest du den Frank auch so süß?«, höre ich nebenan jemanden fragen. Und mit einem Kichern antwortet es aus einer anderen Kabine: »Ja, der Frank ist niedlich, aber Damian ist noch süßer. Wenn er nur ’n bisschen schlanker wäre!«
Ich halte mir die Ohren zu, denn ich muss mich auf den zweiten Teil des Plans konzentrieren. Auf keinen Fall darf ich jetzt in Panik verfallen: Ich bin mir nämlich alles andere als sicher, ob ich in der Eile den Deckel zurück auf den Kasten gelegt habe. Vielleicht erkundet Madonna gerade seelenruhig die Schule! Nein, ich muss so tun, als hätte ich mit Madonna nichts zu tun. Madonna wird es ohne mich schaffen. Der Hausmeister wird sie einfangen und in den Tierpark bringen. Da hat sie sowieso mehr Auslauf als bei mir. Ich wische mir über die Stirn. Der eiskalten Orchidee wird doch nicht vor Aufregung der Schweiß ausbrechen? Und wenn schon, ich bin für alles gerüstet, ich habe jeden Tag mein komplettes Beauty-Set bei mir: Deo, Lippenstift, Haarbürste, Crèmes und so weiter. Ohne diese Dinge gehe ich grundsätzlich nicht aus dem Haus.
Es läutet zum zweiten Mal und draußen werden die Stimmen allmählich weniger. Ich stelle mich vor den Spiegel, schaufle mir mit beiden Händen Wasser ins Gesicht, trockne mich ab, ziehe mir den Lippenstift nach und zupfe meine Haare zurecht. Ich bin immer noch etwas bleich, aber das steht mir gut, und sonst ist alles perfekt. Madonnas Bisswunden bluten nicht mehr. Ich creme mir die Hände ein, drehe mich noch einmal hin und her und nehme einen Lederbeutel aus meiner Schultasche. Der zweite Teil des Plans sieht vor, so zu tun, als sei alles wie immer. Und ich werde mit diesem Beutel heute ein paar Euro verdienen, wie immer eben. Betont lässig schlendere ich zu meiner Klasse.
Schon auf dem Gang sehe ich den Aufruhr. Eine Schülertraube hat sich vor der Tür gebildet, zwei Lehrer fuchteln mit den Armen und geben hektische Anweisungen, ein Mädchen schreit. Ich schere mich nicht darum. Ein paar Meter abseits bleibe ich stehen und öffne meinen Lederbeutel.
»Hallo Caro, hallo Nina«, rufe ich zu den Mädchen hinüber, die in meiner Nähe stehen. »Ich habe wieder was Neues entworfen, guckt mal!« Fröhlich halte ich zwei kleine Felltäschchen hoch. Das eine ist weiß-violett gepunktet und das andere mintgrün-rosa getigert. Sie haben einen schwarzen Reißverschluss und ein passendes Band zum Umhängen. »Habe ich selbst genäht. Aus Kunstfell. Die kann man als Portemonnaie benutzen oder für Schminksachen oder für Stifte oder …«
Nina stürzt auf mich zu. »Anna, da drin ist eine Schlange«, stößt sie aufgeregt hervor und ich zucke gelassen mit den Schultern:
»Glaub ich nicht, wie soll die denn da reinkommen?«
»Sie hat Fips aufgefressen, er hing ihr noch halb aus dem Maul!«
»Krass«, entfährt es mir, und dann füge ich schnell hinzu: »Glaub ich nicht. Das ist ’n Aprilscherz.«
»Geh doch selbst gucken«, ruft Nina außer sich, aber Caro hat ihren Blick auf die Täschchen geheftet und streckt fasziniert die Hand aus.
»Darf ich die mal sehen? Toll. Gefallen mir total. Hast du die echt selbst genäht? Was willst du dafür haben?«
»Sechs Euro, Freundschaftspreis.« Weder Caro noch Nina sind meine Freundinnen, aber das tut nichts zur Sache.
Caro kramt nach ihrem Geld. »Ich nehm die grüne. Oder hast du noch andere Farben?«
»Ganz viele«, erkläre ich und beginne meine Werke auf dem Fußboden auszubreiten wie ein Händler auf dem Flohmarkt.
»Kuhfellmuster«, quietscht Caro begeistert.
»Das ist doch längst out«, sagt Nina und tritt von einem Fuß auf den anderen.