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Helmut Bachmaier

Lektionen des Alters

Kulturhistorische Betrachtungen

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Druck: Hubert & Co, Göttingen
gedruckt auf säure- und chlorfreiem, alterungsbeständigem Papier
ISBN (Print) 978-3-8353-1682-9
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-2807-5
ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-2808-2

Inhalt

Eine Art Einleitung

I. Aktuelle und mittelfristige Trends

1. Älterwerden heute

2. Das demographische Pulverfass

3. Die Babyboomer. Profile einer neuen Altersgeneration

II. Alterskulturen

1. Altersphasen – Einteilungen und Grenzen

2. Elemente einer modernen Alterskultur

III. Generationenbeziehungen

IV. Wertekultur

1. Werte für die Praxis

2. Verantwortung

3. Vertrauen

4. Werte im Alter

V. Menschenwürde

VI. Zeitmanagement im Alter. Das Konzept der Eigen-Zeit

VII. Erfahrungsräume im Alter

1. Morpheus und die Träume

2. Vorstellungen vom Glück

3. Über Schmerzen

4. Liebe, Freundschaft, Sexualität, Scham

5. Szenarien der Angst

6. Geiz im Alter

7. Sicherheitsbedürfnisse im Alter

8. Das inszenierte Mahl. Essen und Trinken im Alter

9. Bewegung. Gangarten

10. Kreativ sein und bleiben

11. Trost und Freude der Gartenarbeit

12. Tiere als Partner

13. Lernen bis ins hohe Alter …

14. Erinnerung und Gedächtnis

15. Der spielende Mensch (Homo ludens), die Kultur, die Spieltheorie

VIII. Altersethik

1. Rechte und Pflichten im Alter

2. Sterbeethik

IX. Ziele der Alterspolitik

X. Ars vivendi – die Lebenskunst im Alter

1. Einfache Anregungen für den Alltag

2. Humor im Alter

XI. Zu guter Letzt. Das Alter in der Literatur

1. Alterslob

2. Altersrevolte

3. Altersklage

Literatur

Eine Art Einleitung

Das Alter kann kein grösseres Glück empfinden, als dass es sich in die Jugend hineingewachsen fühlt und mit ihr nun fortwächst.

Goethe an Carus, 1818

 

Von allen Seiten hören wir, wie wir – in jungen oder in späteren Jahren – leben sollen oder gar müssen. Überkommene Rezepte, Ratschläge und Empfehlungen wirken oft kategorisch. Die Wucht der Ratgeber wird noch durch eine Tendenz unserer gesellschaftlichen Gegenwart verstärkt: Wir werden immer mehr kontrolliert und zunehmend überwacht.

Leben wir bereits in einer Wirklichkeit, die einem Panoptikum gleicht? Das Panoptikum des utilitaristischen Philosophen Jeremy Bentham (1748-1832) bezog sich auf den Bau von Gefängnissen, übertragbar auf Fabrikanlagen, die von der Mitte, von einem Punkt, von einem Turm aus völlig überwacht werden können: Ein Einzelner kann gleichzeitig viele kontrollieren. Oder wird uns »Big Brother« heimsuchen? Bei George Orwell (in seinem Roman »1984«) ist der Große Bruder der fiktive Diktator eines totalitären Staates, der die Kontrolle seiner Bürger hemmungslos durchführt und keinerlei Privatsphäre mehr zulässt. Jüngst hat Dave Eggers in seinem Roman »The Circle« (2014) den »Silicon-Valley-Horror« (NZZ) einer Welt der totalen Vernetzung anschaulich und plausibel vorgeführt, und zwar anhand einer Firma, die Google, Facebook, Twitter und Apple in eins ist. Eine von dort verliehene Internetidentität ersetzt unsere Individualität und degeneriert uns zu ohnmächtigen Subjekten. Sicher wird uns in solcher Umgebung klargemacht, was im Alter notwendig ist und wie wir leben müssen.

Mit den vorliegenden Essays will der Verfasser kein weiteres Ratgeber-Buch für die ältere Generation vorlegen oder feste Regeln aufstellen. Es soll vielmehr gezeigt werden, dass es keinen allgemeingültigen Königsweg für ein gutes Alter gibt, sondern dass ganz unterschiedliche Kurse zum individuellen Ziel führen. Es wird deshalb – gleichsam postmodern – nicht auf eine einheitliche Norm für die Lebenspraxis im Alter, sondern auf Unterschiede und Differenzen ankommen. Darum werden auch in den einzelnen Kapiteln manchmal gegensätzliche Positionen vorgestellt, ohne diese wieder in eine einzige, vermittelnde Position aufzulösen. Das Ganze gleicht einem modularen System, und die einzelnen Bausteine mag die Leserin oder der Leser zu einem eigenen Altersbild zusammenfügen. Außerdem wird bei einzelnen Fragen mehrfach auf literarische Zeugnisse über das Alter zurückgegriffen, ganz im Sinne der »Kulturgerontologie«, einer kulturwissenschaftlich orientierten Alternsforschung.

Die Einleitungen besonders bei den Abschnitten der einzelnen Erfahrungsräume in Kapitel VII vergegenwärtigen die kultur- und zumeist literaturhistorischen Horizonte für die essayistische Behandlung. Sie verweisen zudem in besonderen Fällen auf anthropologische Konstanten. Insofern sind diese Passagen nicht redundant, sondern entsprechen methodischen Überlegungen eines kulturgerontologischen Diskurses. Die dargestellten Erfahrungsräume lassen sich als Exempel eines solchen Diskurses lesen.

Kulturgerontologie untersucht, komplementär zu Sozialgerontologie oder Geriatrie, die kulturellen Codierungen des Alters. Material dafür liefern vorrangig die Literatur-, Philosophie-, Kunst-, aber auch die Film- und Mediengeschichte. Wie wurde und wird das Alter gesehen, verstanden und bewertet? Es werden die Bedingungen untersucht, die beim jeweiligen Altersbild kulturell vermittelt bzw. kulturgeschichtlich ursächlich sind. Dabei werden wir uns hier weitgehend auf den mitteleuropäischen Kulturraum begrenzen. Es werden in dieser Disziplin die Zeichen und Erscheinungen des Alters in der Perspektive der Wahrnehmung untersucht, das (visuelle) Selbst- oder Fremdbild, ebenso beispielsweise die Hautalterung – Haut als soziale und kulturelle Projektionsfläche – oder die oft verlangsamte, gebückte Gangart – Bewegung als mentaler Ausdruck und physische Disposition – in dieser Lebensphase. Beobachtung und Beschreibung sind dabei die Verfahren: ein phänomenologischer Ansatz. Eine andere Perspektive betrifft das Handeln, die Handlungsweisen, im Alter. Als Beispiel etwa die veränderte Schreibart bei Schriftstellern im Jugend- und Alterswerk, der Altersstil: also ein handlungstheoretischer Ansatz. Schließlich: Wie wurde der Alterungsprozess, das Alter überhaupt, verstanden – damals, und wie verstehen wir dies heute? Aus diesem verstehenden Ansatz kann dann auch die Analyse der Bewertung des Alters folgen.

Zur Orientierung durch das Labyrinth der Altersfragen soll ein Zitat von Goethe dienen: »Älter werden heißt: selbst ein neues Geschäft antreten; alle Verhältnisse verändern sich, und man muss entweder zu handeln ganz aufhören oder mit Willen und Bewusstsein das neue Rollenfach übernehmen« (Maximen und Reflexionen 259, Hamburger Ausgabe). Dies heißt in Kurzform: Älter werden bedeutet, sich täglich eine neue Aufgabe stellen. Es ist hinzuzufügen: Wer sich selbst keine Aufgabe gibt, gibt sich selbst auf. Dieser Satz, der im Buch mehrfach in Varianten wiederholt wird, ist der archimedische Punkt unserer Betrachtung über den »Easy-Ager«. Dies muss noch ergänzt werden durch den Hinweis, dass die Vorstellung vom Alter, das Selbstkonzept, also das eigene Bild vom Alter, das tatsächliche Altern erheblich beeinflusst. Es ist ähnlich wie bei der selbsterfüllenden Prophezeiung (self-fulfilling prophecy).

Es sind letztlich nur diese beiden Grundsätze, die nicht zur Disposition stehen: ein positives Altersbild pflegen und sich – in welcher Lage auch immer – eine angemessene Aufgabe geben. Diese Aussage wird durch zahlreiche Altersstudien unterstrichen. Die Literaturhinweise am Schluss führen die Quellen an und laden zugleich zu weiterer Lektüre ein.

»Easy-Ageing«, was hier vertreten wird, unterscheidet sich von Formen des Anti- oder des Pro-Ageing. Anti-Ageing umfasst ein Konzept und Verfahren, das biologische Altern zu verzögern, um damit eine kontinuierliche Lebensqualität zu erhalten. Manche versprechen sich – fälschlicherweise – davon sogar einen Verjüngungseffekt. Das Repertoire des Anti-Ageing reicht von Kosmetik (z. B. Antifalten-Cremes gegen das Haut-Altern, das sichtbare Zeichen der Lebensjahre) über die teilweise aus guten Gründen verbotene Frischzellentherapie bis zu Nahrungsergänzungsmitteln und allen möglichen Vitaminpräparaten (wichtig im Alter ist Vitamin D!) oder Dosierungen von Spurenelementen. Bei Anti-Ageing wird das faktische Alter oft nur kaschiert und unter therapeutischen, mehr aber noch unter kommerziellen Aspekten gesehen.

Google gründete nicht zufällig ein Gesundheitsunternehmen, das mit dem Ziel antritt, das Altern von Menschen mittels neuer Verfahren der Biotechnologie zu verlangsamen. Umworben werden aktuell »Smart Seniors«, die Apps für ihr eigenes Gesundheitsmanagement bei sich installieren, um z. B. an die rechtzeitige Medikation erinnert zu werden. Dass dabei leicht sensible Daten aus der Hand gegeben werden, liegt auf der Hand.

Weltweit werden die Ausgaben für Verjüngungen auf 115,5 Mrd. Dollar geschätzt. Gesundheitliche Risiken werden dabei gerne in Kauf genommen. Für Männer haben jüngste Studien gezeigt, dass Verjüngungshormone die Sperma-Produktion reduzieren. Dies gilt bei der Anwendung von Testosteron und anabolen Steroiden, die wie ein Verhütungsmittel beim Mann wirken können. »Obwohl es paradox klingt, blockieren gerade jene Substanzen, die dem körperlichen Verfall des Mannes Einhalt gebieten sollen, eine der wichtigsten Kenngrößen physiologischer Vitalität, nämlich die Fähigkeit, Kinder zu zeugen und sich fortzupflanzen« (Frankfurter Allgemeine Zeitung, Natur und Wissenschaft, 18.9.2013, S. N 1). Weiter wird in diesem Artikel festgestellt, dass ältere Männer, die sich jünger fühlen, keineswegs die Familienplanung abgeschlossen hätten, denn von 2000 bis 2010 sei die Anzahl der mehr als 70-jährigen Väter um 20 % gestiegen.

Pro-Ageing erstrebt ebenfalls ein längeres und gesünderes Leben und legt das Schwergewicht auf Maßnahmen der Prävention. Davon unterscheiden sich Aktionen von Pro-Ageing, die einem bloß romantischen Altersbild folgen, das der Wirklichkeit selten standhält. Begleitet wird dies von Bildern, die ältere Personen stets lächelnd (keep smiling) am Strand in sportlicher Kleidung, braungebrannt und fast alterslos zeigen. Es sind Klischees, Bilder, die eine ins Leere gehende Aktivität dokumentieren.

Mit Easy-Ageing soll das Alter dagegen mit »leicht, einfach, mühelos, locker und ungezwungen« oder, dem anderen Adjektiv, easy-going, entsprechend, mit »gelassen, entspannt, lässig oder unbeschwert« in Verbindung gebracht werden. Die Bedeutung, in der diese Bezeichnung hier verwendet wird, soll signalisieren: Befreit von Vorschriften, Zwängen und Kontrollen, gewissermaßen: Mach dir dein Alter selbst! Altersdarstellungen etwa auf YouTube können folglich fast ausnahmslos ignoriert werden.

Einige Therapeuten und Altenbetreuer sind der Auffassung, dass Spezialisten für das Alter nur die Älteren selbst sein könnten. Dies ist sicher eine Übertreibung und würde die Altersmedizin oder gar die gesamte Alternsforschung überflüssig machen. Cum grano salis genommen, macht die Übertreibung auf etwas aufmerksam: Bei allen Empfehlungen für ein gutes Alter kommt es stets auf die Selbstbestimmung und Selbstverantwortung des Einzelnen an, selbst dann, wenn die Entscheidungen entgegen plausiblen Ratschlägen ausfallen und womöglich schädigen. Dies gehört zum autonomen Handeln in Freiheit, das aber nicht – wie noch dargestellt wird – ohne Grenzen ist.

Odo Marquard, der gewitzte Vertreter der philosophischen Jokologie, sieht den Vorzug des Alters darin, dass man sich nichts mehr beweisen muss – was Gelassenheit zulässt. Also Easy-Ageing. Die Kunst des Lebens hat zum Ziel, die eigenen Möglichkeiten zu entdecken und diese maßvoll zu nutzen. Dabei ist die Endlichkeit anzuerkennen und die Lebensführung darauf auszurichten. Vor allem sieht Marquard im Alter die Befreiung von Illusionen übers Dasein, was zur richtigen Schau der Dinge befähigt: zur Theoriefähigkeit des Alters. Und darauf kommt es an: »Es zeugt wohl von Altersklugheit, wenn man seine Erwartungen an seine kurze Zukunft anzupassen weiß« (Odo Marquard, Endlichkeitsphilosophisches. Stuttgart 2013, S. 80).

Eingangs noch etwas Persönliches: Als langjähriger wissenschaftlicher Berater der Tertianum Gruppe, der Meinungs- und Marktführerin für Altersfragen in der Schweiz, konnte ich in zahlreichen Begegnungen mit älteren Menschen vieles lernen, was in diese Essays eingeflossen ist. Der Tertianum Gruppe danke ich, dass ich diese Erfahrungen und andernorts bereits z. T. publizierte Ergebnisse und Texte hier verwenden kann.

 

Eine Anmerkung zur Schreibweise: Ageing ist britisches, Aging amerikanisches Englisch. Wir verwenden durchgängig die britische Schreibweise.

 

Konstanz, September 2014

I. Aktuelle und mittelfristige Trends

1. Älterwerden heute

Alter ist heute nicht mehr mit Armut und Krankheit gleichzusetzen. Die neue Altersgeneration tritt selbstbewusst auf und gestaltet ihr Leben eigenverantwortlich. In Turnschuhen und trendiger Kleidung, sportlich-aktiv, locker und sonnengebräunt, mobil und dynamisch, auf dem Fahrrad oder beim Jogging – so begegnen uns heute oft Ältere in der Stadt oder in den umliegenden Wohnsiedlungen. Sie dokumentieren durch ihre Kleidung und durch ihr Verhalten, dass sie noch nicht zu den Alten gezählt werden wollen, vielmehr dass sie durchaus mit der Jugend mithalten können. Auch auf anderen Gebieten versuchen ältere Menschen, mit der Jugend gleichzuziehen: Sie büffeln für Fremdsprachen, reisen in die Welt hinaus oder üben sich am Computer. Andere studieren noch in späten Jahren an einer Universität, nicht um einen qualifizierenden Abschluss zu erreichen, sondern um sich selbst etwas zu beweisen.

Wandel des Altersbildes

Die Vorstellungen vom Alter und das Selbst-Bild älterer Personen haben sich in den letzten Jahren erheblich gewandelt. Die neue Art von Selbsterfahrung oder Selbstwahrnehmung und Selbstaktualisierung ist ein markantes Zeichen für das neue Rollenbild vom Alter. Es ist ein Indiz für ein anderes Alters-Image, auch wenn es manchmal nur auf eine Nachahmung der Jüngeren hinausläuft.

Natürlich gibt es auch erhebliche Vorurteile, was das Alter(n) anbelangt. Der US-Mediziner und Gerontologe Robert N. Butler hatte dies 1969 auf den Begriff gebracht: »Ageism«. Damit bezeichnete er die Ressentiments gegenüber dem Alter und die negative Einschätzung der Prozesse der Alterung im Gegensatz zur Bevorzugung der Jugendlichkeit.

Die frühere Gleichsetzung von alt = arm = krank hat keine Gültigkeit mehr. Die genannten Veränderungen gehen aber nicht unbedingt einher mit einem gleichzeitigen radikalen Wertewandel. Äußerlich, im Erscheinungsbild, ist vieles anders geworden – mit Folgen für einige alte und neue Bedürfnisse. Die elementare Wertorientierung dieser Personengruppe hat sich dagegen kaum gravierend verändert, sondern hat sich weitgehend als konstant erwiesen.

Werte und Erwartungen im Alter

Immer noch belegt Sicherheit neben Gesundheit einen vorderen Platz. Sicherheit in einem umfassenden Sinne: als finanzielle, als Wohn-, als persönliche Sicherheit. Ein weiterer Wert ist die Selbständigkeit, also möglichst lange sein Leben selbst gestalten zu können, ohne fremde Hilfe. Dabei stehen Maßnahmen der Selbständigkeitsförderung, dazu zählt insbesondere gezielte Prävention, im Vordergrund (vgl. Kapitel IV/4).

Für die Wohnung wird erwartet, dass sie so gebaut und eingerichtet ist, dass sie auch in den späteren Jahren weitgehend ein autonomes Leben ermöglicht. Standards hierfür sind beispielsweise: Vermeidung von Stolperfallen (schwellenfreie Böden oder fixierte Teppiche), angemessene Beleuchtung, die richtige Platzierung der Haushaltsgeräte oder flexibel verwendbare Einrichtungsgegenstände. Von vielen älteren Menschen wird die Bedeutung der eigenen Wohnsituation unterschätzt. Da in dieser Lebensphase die Aufteilung in Arbeitsplatz und Wohnraum nicht mehr gegeben ist, spielt sich das Leben zum großen Teil in den eigenen vier Wänden ab. Deshalb sind Wohnungsanpassungen oftmals ein guter Beitrag zur Steigerung der Lebensqualität (vgl. Kapitel X/1).

In unseren modernen Gesellschaften ist der Kontakt zwischen den Menschen nicht so intensiv wie im traditionellen Dorf. Gemeinsamkeiten und Gemeinschaft sind nicht mehr selbstverständlich und stellen sich auch nicht von selbst her. Deshalb hat die Parole »Gemeinsam statt einsam« gerade für die spätere Lebensphase ein eigenes Gewicht. Bei älteren, verwitweten Frauen treten Einsamkeitsgefühle vermehrt auf, oft noch verstärkt durch die Distanz zu Kindern und Enkeln, die an einem entfernten Ort wohnen. Überdurchschnittlich viele Frauen geben in Umfragen an, dass sie keine Vertrauensperson in ihrer Nähe haben, dass sie zuweilen an Depressionen leiden. Hier ist es hilfreich, Kontakte in der Nachbarschaft zu knüpfen und zu pflegen oder auf entsprechende Netze der Freiwilligenarbeit zurückzugreifen. In vielen Gemeinden gibt es gut ausgebaute Netze, die alleinstehenden Personen helfend und beratend zur Seite stehen.

Feminisierung des Alters

Mit zunehmendem Lebensalter steigt der Anteil der Frauen an der Gesamtbevölkerung. Die Altersgesellschaft wird weiblich. Ein Blick auf den Anteil der Frauen an der Gesamtbevölkerung in Deutschland belegt dies:

»Von den 81,75 Millionen Einwohnern im Jahr 2010 waren 50,9 Prozent weiblich und 49,1 Prozent männlich. Am geringsten war der Frauenanteil in den Altersgruppen der unter 10-Jährigen sowie der 10- bis unter 20-Jährigen (jeweils 48,7 Prozent). Der Anteil der Frauen nimmt allerdings mit steigendem Alter zu: In der Gruppe der 50- bis unter 60-Jährigen waren die Anteile der Frauen und Männer 2010 gleich groß. In der Altersgruppe der 60- bis 69-Jährigen lag der Frauenanteil mit 51,4 leicht über dem der Männer. Bei den 70- bis unter 80-Jährigen lag der Anteil schon bei 54,9 Prozent und bei den 80- bis unter 85-Jährigen bei 62,3 Prozent. In der Gruppe der Personen, die 85 Jahre oder älter waren, hatten die Frauen schließlich einen Anteil von 72,8 Prozent« [Datenquelle: Statistisches Bundesamt: Online-Datenbank: Fortschreibung des Bevölkerungsstandes (Stand: 31.5.2012)].

Die Schweiz kommt zu vergleichbaren Zahlen und Entwicklungen. Im »Statistischen Jahrbuch der Schweiz 2013« (S. 25) heißt es dazu: »Frauen leben länger als Männer, und dieser Unterschied in der Lebenserwartung führt dazu, dass die Frauen in der Gesamtbevölkerung leicht in der Mehrheit sind (2011: 50,7 %). Besonders hoch ist ihr Anteil bei den 65- bis 79-Jährigen (53,6 %) und ausgeprägt bei den 80-Jährigen und Älteren (64,8 %).« Bei den über 80-Jährigen beträgt ihr Anteil also fast zwei Drittel der Bevölkerung.

Differenzen

Bei einer differentiellen Betrachtung der Alterungsprozesse von Frauen gegenüber Männern können verschiedene Punkte analysiert werden:

 

Es stellt sich die Frage: Wird Frauenaltern in unserer Gesellschaft überhaupt genügend beachtet und behandelt? Gibt es für diesen Personenkreis eigene Angebote und spezielle Möglichkeiten einer Begleitung?

Übrigens verzeichnen wir, was Isolation oder Einsamkeit betrifft, eine neue Tendenz: Ältere helfen Älteren – ein Ausdruck von Solidarität innerhalb der Alters-Generation. »Viele Anzeichen sprechen dafür, dass zahlreiche ältere und alte Menschen aus ihrer Privatheit und ihrer bisherigen Passivität immer stärker heraustreten und versuchen werden, am gesellschaftlichen Leben auch stellvertretend für andere alte Menschen mitgestaltend und mitbestimmend teilzunehmen. Dieser Prozess ist schon heute beobachtbar und wird sich verstärken. Das Engagement vieler Seniorinnen und Senioren für Menschen der eigenen Altersgruppe wird zunehmen«, stellte der Sozialgerontologe Reinhard Schmitz-Scherzer fest.

Aktiv bleiben

Aus Untersuchungen und Befragungen wissen wir: Tätig sein und tätig bleiben bis ins hohe Alter ist die Voraussetzung dafür, dass der Krankheits- oder gar Pflegefall relativ spät eintritt. Tätigkeit sollte jedoch immer genau den Möglichkeiten, den Ressourcen des Menschen entsprechen, damit er sich nicht überfordert.

Ältere kommen beispielsweise in Computerias oder im Erzählcafé zusammen, um gemeinsam Erfahrungen zu sammeln oder um aus ihrem Leben zu berichten. Durch die Erzählung erhält ihre Biographie erst einen einheitlichen Sinn, der aus den verschiedenen Erlebnissen sich herausbildet. Oder es werden Veranstaltungen von Seniorenakademien und Seniorenuniversitäten besucht, bei denen man seine Neugier befriedigen kann und auf Gleichgesinnte trifft. Andere lieben Aktivitäten im Garten, erleben dort den jahreszeitlichen Wechsel, das Werden und Vergehen, und lassen ihrem Gestaltungswillen freien Lauf. Auch dann, wenn erhebliche Einschränkungen schon vorliegen, gibt es immer noch eine Aufgabe, die man erfüllen kann. Es kommt darauf an, diese zu finden und sich dafür einzusetzen. Voraussetzung dafür ist der eigene Antrieb, die Motivation, die aus einem selbst kommen sollte.

Kontinuität

Ergänzt werden muss, dass zwischen Planung und Realisierung oft eine Kluft besteht, weil es doch an der Motivation mangelt oder die Kraft zur Entscheidung nicht abgerufen werden kann. Überhaupt gibt es bei allen Aktivitäten eine Kontinuität im Lebenslauf: Was vor der Pensionierung intensiv betrieben wurde, das wird auch nach der Pensionierung verfolgt (Kontinuitätstheorie der Alternsforschung). Für anderes gibt es dagegen wenig Raum und Zeit. Diese Art von Kontinuität hat Friedrich Dürrenmatt in seiner Erzählung »Die Panne« (1956), in der es zuerst um die Möglichkeit des Erzählens geht (solange es Pannen gibt, solange gibt es Geschichten zu erzählen) und sich dann der Inhalt um Schuld, Recht und Strafe dreht, parodiert: Vier Gerichtspersonen (Richter, Staatsanwalt, Verteidiger und Henker) spielen seit ihrer Pensionierung regelmäßig abends reale Prozesse nach und fiktive Gerichtsverhandlungen durch, um der Agonie im Alter zu entkommen. Unter dem Titel »Die schönste Soirée meines Lebens« (La più bella serata della mia vita) wurde der Stoff von Ettore Scola 1972 verfilmt. Dabei wird das Ritual der älteren Herren als Kompensation für den Verlust an sozialer Reputation und als Versuch einer Alltagsstrukturierung satirisch und teilweise surreal ins Bild gesetzt.

Unterschiedliche Bedürfnisse

Die Bedürfnisse älterer Personen sind ebenso verschieden wie ihre Biographien und ihre Charaktere. Trotzdem lassen sich die Bedürfnisse und Erwartungen der heutigen älteren Generation gruppenspezifisch zusammenfassen:

 

Es kommt also darauf an, für sich jeweils das Richtige und Angemessene herauszufinden und dann eine Entscheidung zu treffen. Das kann niemandem abgenommen werden. Grundlage dafür ist die rechtzeitige Vorsorge in jeder Hinsicht. Die optimale Finanzierung der nachberuflichen Zeit durch eine Pensionsplanung sollte rechtzeitig angegangen werden, ebenso die Einrichtung der angemessenen Wohnung oder die Gesundheitsprävention. Älterwerden heute heißt also, vermehrt Selbstverantwortung zu übernehmen, um im Alter sicher und unbeschwert leben zu können. Dabei sollte man stets kritisch oder skeptisch bleiben bei Angeboten, die allzu viel verheißen, oder bei Vorschriften und Ratschlägen, die einen einschränken und selbstherrlich eine Lebensform des Alters aufzwingen wollen.

Reinhard Schmitz-Scherzer hat es auf diesen gemeinsamen Nenner gebracht: »Selbständigkeit bis ins höchste Alter wird immer mehr ein Ziel der Lebensführung werden. ›Selbstbestimmt leben und mitverantwortlich handeln‹ könnte ein sehr wichtiger Leitsatz einer zukünftigen Lebensphilosophie älterer und alter Menschen werden.«

Dies hängt ab von objektiven Gegebenheiten, die eine individuelle Lebensphilosophie beeinträchtigen oder unterstützen können. Zu diesen Gegebenheiten gehört der Prozess der demographischen Entwicklung.

2. Das demographische Pulverfass

Die Gesamtbevölkerung in Deutschland betrug Mitte 2012 81,75 Millionen Menschen. Die Geburtenrate ist die niedrigste in der EU mit 8 Neugeborenen pro 1.000 Einwohner. Sie wird zukünftig auch weiter zurückgehen. Deutschland wird bei konstant niedrigen Geburtenraten einen starken Bevölkerungsrückgang erleben, nämlich ein Absinken der Bevölkerung auf 74,0 Millionen Menschen im Jahr 2050.

In der 12., zwischen den Statistischen Ämtern in Deutschland koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung »Bevölkerung Deutschlands bis 2060« (Statistisches Bundesamt, Wiesbaden 2009) wird die Entwicklung unter folgenden Annahmen bis 2060 prognostiziert:

 

Im Folgenden zitieren wir daraus einige aufschlussreiche Passagen:

»Das Altern der heute stark besetzten mittleren Jahrgänge führt zu gravierenden Verschiebungen in der Altersstruktur. Im Ausgangsjahr 2008 bestand die Bevölkerung

Im Jahr 2060 wird bereits jeder Dritte (34 %) mindestens 65 Lebensjahre durchlebt haben, und es werden doppelt so viele 70-Jährige leben, wie Kinder geboren werden.

Die Alterung schlägt sich insbesondere in den Zahlen der Hochbetagten nieder. Im Jahr 2008 lebten etwa 4 Millionen 80-Jährige und Ältere in Deutschland, dies entsprach 5 % der Bevölkerung. Ihre Zahl wird kontinuierlich steigen und mit über 10 Millionen im Jahr 2050 den bis dahin höchsten Wert erreichen. […] Es ist also damit zu rechnen, dass in fünfzig Jahren etwa 14 % der Bevölkerung – das ist jeder Siebente – 80 Jahre oder älter sein wird.« Die »Lebensmitte« liegt in Deutschland aktuell schon bei 46,3 Jahren (UNO, World Population Prospects).

 

Und zu den demographischen Auswirkungen auf die Erwerbsarbeit wird im 12. Bericht festgestellt:

»Die Abnahme der Zahl der 20- bis 65-Jährigen insgesamt geht mit einer Verschiebung hin zu den Älteren im Erwerbsalter einher. Zurzeit gehören

Eine besonders einschneidende Veränderung der Altersstruktur erwartet die deutsche Wirtschaft zum ersten Mal […] zwischen 2017 und 2024. In diesem Zeitraum wird das Erwerbspersonenpotenzial jeweils zu 40 % aus 30- bis unter 50-Jährigen und 50- bis unter 65-Jährigen bestehen.

Der Bevölkerung im Erwerbsalter werden künftig immer mehr Seniorinnen und Senioren gegenüberstehen. […] Bis Ende der 2030er Jahre wird [der] so genannte Altenquotient [der Altenquotient bildet das Verhältnis der Personen im Rentenalter zu 100 Personen im erwerbsfähigen Alter ab, HB] besonders schnell, um über 80 %, ansteigen. Im Jahr 2060 werden dann je nach Ausmaß der Zuwanderung 63 oder 67 potenziellen Rentenbeziehern 100 Personen im Erwerbsalter gegenüberstehen.«

Rente mit 75

Dies wird erhebliche Auswirkungen auf die Lebenssituation aller Generationen haben. Dass davon die sozialen Sicherungssysteme oder die Kranken- und Pflegeversicherungen besonders betroffen sind, liegt auf der Hand. Eine intergenerativ ausgerichtete Alterspolitik muss deshalb rechtzeitig die Weichen stellen. Rente mit 67 ist das Mindeste an Reformen. Eigentlich wäre es infolge der Demographie, der höheren Lebenserwartung und des Geburtenschwundes angezeigt, über Rente mit 70 oder 75 zu diskutieren, auch wenn dies für viele Erwerbstätige eine Zumutung bedeutet. Frühere Verrentungen belasten zukünftige Generationen, stören den sozialen Frieden und werden nicht finanzierbar sein.

Beitragszahler und Rentner

Aus neuesten Berechnungen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung geht hervor, dass es in der gesetzlichen Rentenversicherung nur noch doppelt so viele Beitragszahler wie Rentenempfänger gibt: 2012 gab es über 35,7 Millionen Beitragszahler. Ihnen standen rd. 17,7 Millionen Rentenbezieher gegenüber. Beide Personengruppen erzielten damit einen Höchststand. Gegenüber 1992 gibt es gegenwärtig 3,2 Millionen Versicherte mehr, aber auch eine Steigerung der Rentenbezieher in Deutschland um 5,9 Millionen.

Geburtenrückgang

Häufig wird der Geburtenrückgang beklagt wegen der Folgen für Unternehmen und Rentensysteme. Der 2007 verstorbene Frankfurter Soziologe Karl Otto Hondrich (»Die Bevölkerung schrumpft? Wunderbar!«, in: Cicero. Magazin für politische Kultur, 28.7.2005) sah im Geburtenrückgang dagegen eine Lösung für viele Probleme: »Bei genauer Betrachtung ist der Geburtenrückgang jedoch weniger ein Problem, sondern im Gegenteil eine Lösung für viele Probleme. Er ist ein tragender Pfeiler für die Entwicklung moderner Gesellschaften. Vieles, was wir als Fortschritt nicht missen möchten, hängt an ihm und hält ihn. […] Der Fall der Geburtenrate erhöhte zwar den Altenanteil an der Bevölkerung – ›Vergreisung‹, rufen die Kassandras –, verhinderte aber, dass sich heute in Deutschland zwischen 100 und 200 Millionen Menschen drängen. Man kann nicht alles zugleich haben: ein längeres Leben, eine jugendliche Gesellschaft und eine stabile Bevölkerung.«

Das Bild der zukünftigen Gesellschaft hängt von den Indikatoren der demographischen Alterung ab. Ob von fixen Altersgrenzen (etwa 65 Jahren) ausgegangen wird oder von flexiblen (z. B. die letzten 10 Jahre an Lebenserwartung einer Populationsgruppe), das entscheidet über die demographischen Prognosen. Bei den starren Grenzen, die positive Veränderungen in den Alterungsprozessen weitgehend ignorieren, steigt der Altersquotient gegenüber den dynamischen Indikatoren.

Immer weniger Kinder

Hier noch ein Ausblick auf die Weltbevölkerung: Die Zahl der Kinder pro Frau hat sich seit 1970 im Weltdurchschnitt fast halbiert. Jede Frau bekommt heute statistisch gesehen 2,5 Kinder – um 1970 war es noch 4,7 Kinder. Die Säuglingssterblichkeit ist gesunken: Von 1.000 Lebendgeburten sterben 38 Säuglinge im ersten Lebensjahr, 1970 war es 89.

Es bestehen große geographische Unterschiede: Während eine Frau in Europa heute nur noch durchschnittlich 1,6 Kinder bekommt (1970: 2,3), sind es in Asien 2,2 (1970: 5,4) und in Afrika 4,7 (1970: 6,7) Kinder. Aufgrund mangelnder Verhütung kommt es einerseits in Entwicklungsländern jährlich zu ca. 80 Millionen ungewollten Schwangerschaften. Die sinkende Fertilität ist andererseits Ausdruck gewachsener Selbstbestimmung der Frauen. Investitionen in Gesundheitsvorsorge und in Bildung bzw. Aufklärung tragen zu der genannten Entwicklung bei (Quelle: Datenreport 2014 der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung. www. weltbevoelkerung.de/datenreport).

Hier ist noch an Tom Kirkwoods Theorie des Alterns (»Evolution of ageing«) zu erinnern, wonach einem Organismus nur ein begrenztes Energiebudget zur Verfügung steht, das er zwischen Reproduktion und »Reparatur« aufteilen muss. Wird die meiste Energie in die Reproduktion investiert, bedeutet dies eine hohe Geburtenrate, aber erheblich weniger Reparatur- und Gesundheitsmöglichkeiten, also eine hohe Sterblichkeit. Wird jedoch in die Reparatur, also Gesundheit investiert, sinkt die Geburtenrate, und es steigt die Lebenserwartung. Dies ist die paradoxe biologische Situation, die hinter den demographischen Entwicklungen steht (Disposable-Soma-Theorie). Es ist wie das Auf und Ab in kommunizierenden Röhren.

3. Die Babyboomer.
Profile einer neuen Altersgeneration

Die neue Altersgesellschaft bilden Menschen der Generation der geburtenstarken Jahrgänge, die zukünftig fast ein Drittel der Bevölkerung stellen werden. Sie treten selbstbewusst auf und gestalten ihr Leben eigenverantwortlich. Was ist dieser Generation wichtig? Worin unterscheidet sie sich von vorherigen Alterskohorten? Welche Werte und Überzeugungen sind für sie ausschlaggebend?

Individualisierung

Die Altersgesellschaft ist nicht homogen. Alterungsprozesse sind Individualisierungsprozesse. Diese Feststellung gilt besonders für die Generation der Babyboomer. Je nach kalendarischem, physisch-psychischem, sozialem, kulturellem oder gefühltem Alter kommt es zu einer erheblichen Ausdifferenzierung der älteren Generation. Dabei spielen nicht nur das Geschlecht, der soziale Status oder die Bildungsbiographie eine Rolle, auch die Lebensstile oder Lebensentwürfe tragen zu einer Ausdifferenzierung bei. Es ist eine gut gesicherte Tatsache, dass die Lebensformen der Älteren pluralistischer werden. Die neuen Chancen und die Optionen, die ihnen offenstehen, führen zu einer hohen Lebenszufriedenheit.

Das Alter ist bunt

Ein Blick auf Typologien älterer Kunden zeigt eine starke Zunahme der sogenannten »Explorer«, also derjenigen, die aktiv und neugierig sind und ihre Welt weiter erkunden wollen. Das gilt auch für den Typus »Selfpromotor«, also für die Personen, die etwa in den späten Jahren ein Seniorenstudium beginnen oder mit neuen Rollen selbstbestimmt experimentieren. Die Vertreterinnen und Vertreter der gegenwärtigen Altersgruppierungen erwarten generell, dass kulturelle Werte geachtet und neue Erfahrungsmöglichkeiten geboten werden. Dabei stehen intergenerative und authentizitätsfördernde Konzepte hoch im Kurs. Dagegen sind die bloßen »Genießer« oder »Homeworker« auf dem Rückzug (Studie des Ernest-Dichter-Instituts »Älterwerden in der heutigen Gesellschaft«).

Die Babyboomer

Die Babyboomer sind die Menschen der Generation der geburtenstarken Jahrgänge, die zwischen 1946 und 1964 geboren wurden (hier gibt es in der Debatte auch andere Jahrgangszahlen). Nach 2010 hat die Altersbevölkerung den größten Zuwachs bei der Babyboomer-Kohorte. Sie werden in den Jahren 2025 bis 2030 schon ein Drittel der Bevölkerung ausmachen, wahrscheinlich sind dann 70 % der über 65-Jährigen pensionierte Babyboomer. Diese Generation ist aufgewachsen in einer langen Friedenszeit und einer Wohlstandsperiode, und sie wurde vor allem geprägt durch:

(Perrig/Höpflinger, Die Babyboomer. Eine Generation revolutioniert das Alter).

 

Der gesellschaftliche Hintergrund dafür ist die »Entstandardisierung« vieler Lebensbereiche und die daraus erfolgte »Multioptionalität« (Peter Gross). Entstandardisierung kann sich auf die Berufswelt (neue Berufsbilder), auf die Beziehungen (neue Modelle des Zusammenlebens) oder auf die Umgangsformen (Höflichkeitsformen, Du-Anreden) beziehen. Jedenfalls führt dies zu der Möglichkeit, unter vielem (und vielerlei) zu wählen. Dies erklärt auch den Boom von Ratgebern auf dem Büchermarkt. Die Entstandardisierung der Lebensformen zeigt sich ebenfalls an späteren Familiengründungen, an der Entscheidung, als Single zu leben – in Großstädten weit über 50 Prozent –, an Konsensualpartnerschaften, aber auch an hohen Scheidungsraten. Dem entsprechen Wertvorstellungen, die aber oft diffus bleiben, wie Selbstentfaltung, Selbstverwirklichung, Selbstbestimmung oder Selbständigkeit.

Babyboomer erwarten jedenfalls, dass sie ihr Alter selbst gestalten können. Eine gesunde, lange nachberufliche Phase und eine relativ gute materielle Absicherung tragen zu dieser Erwartung bei. Ein besonders hoher Bildungsstand ist für die günstige materielle Situation verantwortlich. Aber auch Erbschaften spielen eine erhebliche Rolle. Die Altersgesellschaft wird dann stärker eine Frauengesellschaft werden (vgl. Kapitel I/1).

Merkmale der Babyboomer-Generation

Drei hervorstechende Merkmale charakterisieren die Babyboomer besonders:

  1. Sie haben sich mehrfach im Leben neu erfinden müssen, kennen keine Kontinuität, sondern eher Brüche in ihrer Biographie.
  2. Sie neigen zu atypischen Verhaltensweisen angesichts typischer Rollenklischees der traditionellen Altersgeneration.
  3. Ihre Selbstdefinition erfolgt über eigene Erfahrungen, nicht über vermittelte Leitbilder oder Weltanschauungen (nach Karin Frick, Generation Gold).

 

Bei der traditionellen Altersgeneration (den sog. »alten Alten«) standen im Vordergrund:

 

Die Babyboomer haben den Wunsch

 

In Umfragen geben sie an, dass sie gegenüber ihrer Elterngeneration

Ihr gesellschaftliches Normenprogramm lautet: »Alt, innovativ und produktiv!« (Perrig/Höpflinger, Die Babyboomer. Eine Generation revolutioniert das Alter).

Umbrüche

Als Umbruchszeit gilt das 50. Lebensjahr. Danach findet oft eine Umorientierung von den materiellen zu den immateriellen Werten statt. Die Jahre zwischen 50 und 60 gelten für viele Babyboomer als beste Lebenszeit. Andere möchten am liebsten 40 Jahre alt bleiben, und das möglichst 30 Jahre lang, das heißt, sie wünschen sich eine Ausdehnung der mittleren Lebensphase (nach Karin Frick, Generation Gold ).

Viele Babyboomer wollen über eine Änderung in ihrem Lebenslauf selbst entscheiden (Selbstbestimmung), andere sehen ihr Ich nicht als Zentrum (Selbsttranszendenz), wieder andere wollen die äußeren Erwartungen nicht mehr erfüllen (Selbstregulation) oder negative Erfahrungen (Leiden) mit aktiver Gestaltung (Kreativität) verbinden.

Gerotranszendenz

Diese Selbst- und Weltverhältnisse haben im Rahmen der Theorie der Gerotranszendenz von Lars Tornstam eine interessante Dimension erhalten. Danach kommt es zu einem Wechsel der Lebensperspektive in späteren Jahren, und zwar von einer mehr materialistischen oder rationalistischen Einstellung zu einer mehr kosmischen und transzendenten Weltsicht und Lebenseinstellung.

»Damit sind nach Lars Tornstam unter anderem folgende Elemente verknüpft: eine weniger self-zentrierte Ausrichtung (in Anlehnung an das Konzept der Ego-Transzendenz von Erikson), eine verstärkte Selektion sozialer Aktivität, eine erhöhte Affinität mit früheren Generationen sowie ein größeres Bedürfnis für spirituelle und kosmische Werte. Im Rahmen dieser persönlichen Entwicklung wird – gemäß Tornstam – eine ›positive Solitude‹ wichtiger, wie auch das Bedürfnis nach Meditation und Reminiszenz« (François Höpflinger: Gerotranszendenz und Generativität).

Alternskonzepte

Diese Generation favorisiert generell folgende Konzepte:

Jedes Modell erfordert eine Balance zwischen individuellen Gestaltungsspielräumen und sozialer Verpflichtung.

Herausforderungen

Die vorherrschenden Erwartungen der Babyboomer sind: unabhängig bleiben und, wann immer möglich, Defizite kompensieren. Deshalb entsteht bei ihnen eine starke Nachfrage nach vielfältigen Service-Leistungen. Sie wollen zwischen verschiedenen Angeboten wählen können, und sie sind in großer Zahl Kulturkonsumenten. Bei der gesundheitlichen Prävention sind ganzheitliche Programme gefragt – mit spirituellem Mehrwert. Das erstrebte Ziel im Alter ist die Erhaltung der mentalen Beweglichkeit (Karin Frick, Generation Gold).