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Manuel Vermeer

Mit dem Wasser kommt der Tod

Dr. Manuel Vermeer, Sohn einer indischen Mutter und eines deutschen Vaters, studierte klassische und moderne Sinologie in Heidelberg, Shanghai und Mainz. Er ist Dozent am Ostasieninstitut der HS Ludwigshafen und Inhaber der Dr. Vermeer-Consult (Unternehmensberatung für China, Indien und Südostasien). Seit über 30 Jahren bereist er China und andere asiatische Länder, er ist Autor von Sachbüchern zu Indien und China und gab dazu bereits zahlreiche Interviews in Radio und TV. »Mit dem Wasser kommt der Tod« ist sein erster Thriller und der erste deutschsprachige Tibetthriller überhaupt.

Manuel Vermeer

Mit dem Wasser kommt der Tod

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Originalausgabe

© 2015 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

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Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Fax: 0 65 93 - 998 96-20

Umschlaggestaltung: Ralf Kramp

unter Verwendung von: Coverbild © Maximilian Wagner

Redaktion: Nicola Härms, Rheinbach

Print-ISBN 978-3-95441-264-8

E-Book-ISBN 978-3-95441-275-4

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

Oft tut auch der unrecht, der nichts tut,
nicht bloß, der etwas tut.

Marc Aurel

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1. Kapitel

Die Jagd hatte ihre Instinkte geschult. Als sie den Schatten sah, der ihr über die Schulter fiel, wusste sie sofort, dass Gefahr drohte. Sie duckte sich, aber es war zu spät. Der Schlag kam mit voller Wucht, auch wenn er durch das Ausweichen nur ihre Schulter traf und nicht ihren Kopf. Sie stöhnte auf und ging in die Knie, riss im Fallen ein paar Papiere vom Tisch; der Schmerz kam härter, als er ihr seitlich an den Knöchel trat. Sie registrierte, dass Li Ping im Nebenzimmer am Kopierer aufschrie, es mussten also mehrere Angreifer sein. Das Summen der Klimaanlage verstummte, und es wurde schlagartig dunkel im Büro. Jemand war am Sicherungskasten. Sie rollte sich zur Seite ab, wie sie es im Judotraining gelernt hatte, sah etwas Dunkles vor sich und stieß instinktiv mit der Schere, die sie noch umklammert hielt, darauf ein. Ein lauter Aufschrei, der Fuß verschwand, und sie hörte, wie der Mann im Fallen einen Tisch umstieß und laut fluchte. Obwohl sie vor Schmerzen Tränen in den Augen hatte, kroch sie auf allen vieren in die Richtung, in der sie die Tür vermutete. Noch ein Schrei aus dem Kopierraum, dort fand ein Kampf statt; waren es mehr als zwei Angreifer? Aber wer, warum – egal, sie hatte jetzt keine Zeit zu überlegen. Da war die Tür; als sie sich vorsichtig erhob und geduckt Richtung Flur schlich, dämpfte der Teppichboden ihre Schritte. Sicher auch die des Angreifers. Wo war er? Die Frage beantwortete sich sofort, als sie einen weiteren Schlag auf den Rücken erhielt. Sie trat nach hinten, Volltreffer, er schrie erneut auf, sie rannte zur Tür, die auf den Flur führte, schlug auf den Türöffner in der Wand, riss die Tür auf und zog sie geistesgegenwärtig sofort hinter sich zu. Ein lautes Krachen und Splittern verriet ihr, dass er gegen das Glas gerannt war. Wohin jetzt? Was war mit Li Ping? Sollte sie zurück und ihr helfen? Nein, sinnlos, gegen zwei oder mehr Angreifer hatte sie keine Chance. Sie rannte den Gang entlang, da waren die Aufzüge, daneben die Toiletten und der Abstellraum mit den Putzmitteln. Cora drückte auf den Aufzugknopf, die Tür öffnete sich, dann drückte sie auf den untersten Knopf.

Als der Angreifer den Aufzug erreichte, schlossen sich die Türen gerade. Er sah auf der Anzeige oberhalb der Türen, dass sich der Aufzug nach unten bewegte, nahm den zweiten Aufzug und fuhr ebenfalls nach unten. Ein zweiter Mann nickte ihm wortlos zu, riss die Tür zum Treppenhaus auf und sprang, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter. So konnte sie nicht entkommen.

Cora drückte sich in dem kleinen Raum für die Putzgeräte hinter die Tür. Hier war sie hineingerannt, nachdem sie den Aufzug gerade noch verlassen hatte, bevor sich die Türen schlossen. Sie entschied, sicherheitshalber noch etwas zu warten. Als sie sich langsam an der Wand heruntergleiten ließ, um sich bequemer auf den Boden zu setzen, spürte sie das Knistern der Papiere, die sie noch im Büro in ihre Jacke gesteckt hatte. Neugierig zog sie sie heraus. Sie begann zu lesen; es war zwar Englisch, aber Cora verstand zunächst nichts. Es ging um eine Beauftragung zur Lieferung von Materialien für den Bau einer Kläranlage. Auftraggeber schien ein chinesisches Ministerium zu sein, Auftragnehmer eine Great Wall Ltd. aus Beijing. Das sah alles ganz normal aus. Aber dann tauchte der Name NIB Consult in den Papieren auf; offenbar hatte ein von NIB beratener chinesischer Kunde mitgeholfen, dass die Great Wall Ltd. den Auftrag bekam. Irgendetwas musste daran faul sein, sonst wäre Li Ping nicht das Risiko eingegangen, ihr, Cora, die Papiere zu übergeben. Wer war diese Firma Great Wall? Stand sie mit NIB in Verbindung? Sie musste das herausfinden. Aber jetzt war keine Zeit dafür; es war besser, das Gebäude zu verlassen und sich erst mal in Sicherheit zu bringen.

Es blieb nur ein Weg: nach oben. Vorsichtig schaute sie ins Treppenhaus; die Schritte des Mannes nach unten wurden leiser. Langsam schlich sie die Treppe hinauf. Der weiße Kittel einer der Putzfrauen, den sie im Abstellraum gefunden hatte, störte sie etwas, aber sie brauchte eine Tarnung. Im obersten Stock öffnete sie ein Fenster im Treppenhaus und schaute in den Hof hinunter. Alles war dunkel, es war nichts zu erkennen. Ein paar Rufe und Schritte, die sich zu entfernen schienen; unmöglich zu sagen, ob das die Angreifer waren. Sie wartete eine ganze Stunde, geduckt unter einen Putzwagen, der wohl im Flur vergessen worden war. Dann erst wagte sie sich nach unten. Noch mal ins Büro? Zu gefährlich; vielleicht warteten sie dort. Sie lief die ganzen dreißig Stockwerke die Treppe hinunter, hielt immer wieder an. Lauschte. Nichts. Als sie die Lobby erreichte, öffnete sie vorsichtig die Tür des Treppenhauses. Auch hier alles dunkel; ein Portier saß hinter seinem Tisch und schlief, laut schnarchend. Sie durchquerte die Halle, öffnete eine der beiden Glastüren, ging leise die drei Stufen in den Hof hinab. Nichts, alles ruhig. Als sie die Straße erreichte, rannte sie erst hektisch los, fiel dann aber automatisch in einen leichten Dauerlauf, wie sie es von ihrem Training gewohnt war. Aber wohin sollte sie laufen?

Ein Fehler. Von Anfang an war es ein Fehler gewesen, aber jetzt wurde ihr das ganze Ausmaß bewusst, während sie die Straße entlangrannte, an der Kirche vorbei, deren Uhr noch immer »Brocken im Harz« eingraviert trug, stolz auf ihre Herkunft verweisend. Dann, gehetzt, immer wieder sich umblickend, die Straßen entlang, die an eine schwäbische Kleinstadt erinnerten, den Berg hinab, vorbei an rot gedeckten Häusern, hinunter zum Wasser. Die Bar Rudi ließ sie links liegen; der Innenhof, von dem aus die schmale Treppe in den ersten Stock führte, lag ohnehin schon verlassen im Dunkeln. Noch heute Mittag hatte sie dort gesessen, ein deutsches Bier getrunken, Schnitzel gegessen. Der Blick hinaus aufs Meer war herrlich, der Wind auf der Terrasse angenehm. Kellnerinnen im Dirndl, exotisch, wenn man aus dem Westerwald kam. Aber doch irgendwie Deutschland. Heimat. Alles fast wie zu Hause, hatte sie gedacht, vertraute Namen, die Kirche mit dem Wetterhahn, das alte Rathaus im wilhelminischen Stil erbaut, der Bahnhof vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Alles wie zu Hause eben. Deutsch. Nur war es nicht zu Hause. Es sah deutsch aus. Aber das war es nicht. Nicht mehr. Schon seit hundert Jahren nicht mehr. Damals mussten die deutschen Kolonialherren die Stadt aufgeben; der Weltkrieg hatte auch China erreicht. Genauer gesagt die Stadt Qingdao, deutsche Kolonie. Oder Schutzgebiet, wie sie es nannten. Qingdao oder Tsingtau. Was ihr alles durch den Kopf ging! Sie war doch in Gefahr, hörte sie Schritte hinter sich, Rufe, oder bildete sie sich das ein, wieso dachte sie jetzt an die wenigen Geschichtseindrücke, die sie behalten hatte, jetzt, wo es nur darauf ankam, schnell aus dem Gewirr der Straßen hinauszufinden. Deutsche nächtliche Straßenzüge, deutsche Bauten, Kneipen mit deutschem Bier. Sogar deutsches Oktoberfest, mit Blasmusik aus Bayern und Chinesinnen im mühsam ausgefüllten Dirndl, eine Maß mit zwei Händen umklammernd. Aber es war eben China. Und sie war allein. In Gefahr. In China, 10.000 Kilometer von zu Hause entfernt, ohne Freunde, eine völlige Analphabetin angesichts des Zeichenwirrwarrs auf den Straßenschildern. Und vor ihr nur das kalte Wasser der Bucht von Qingdao.

Aber sie musste ja ihre Nase überall hineinstecken. Korruption bei der Auftragsvergabe, hatte Li Ping ihr vorhin im Büro zugeflüstert. Es ging um große Summen. Die Unterlagen seien im Büro, und sie, Cora, als Vertreterin von NIB Consult würde mit der Todesstrafe bedroht, sollte die Polizei von der Korruption erfahren. Deshalb waren Li Ping und Cora allein im Büro gewesen – um das Beweismaterial zu finden. Wieso hatte sie sich darauf eingelassen?

Wie gesagt, es war ein Fehler. Und plötzlich wurde ihr klar, dass es vielleicht zu spät war, ihn zu korrigieren.

2. Kapitel

Zwei Tage zuvor

Guten Morgen!« Fröhlich und dynamisch wie immer verließ Cora den Fahrstuhl und begrüßte zwei Kollegen, die ihr entgegenkamen. Sie freute sich auf den neuen Arbeitstag und war neugierig, was er ihr bringen würde. Ihr Chef hatte sie zu einem Gespräch einbestellt, gleich um acht Uhr. Das war nicht ungewöhnlich; wahrscheinlich ein neues Projekt. Ihre Spezialisierung schon im Studium auf das Thema Wasser hatte dazu geführt, dass sie für das Ingenieurbüro inzwischen sämtliche Planungen im Hydrobereich leitete und auch selbst oft zu neuen Projekten fuhr. So kam sie viel herum, in Rheinland-Pfalz und Deutschland, aber auch weltweit. Energiegewinnung aus Wasserkraft wurde für viele Entwicklungs- und Schwellenländer immer wichtiger, obwohl die Kohle noch immer der Hauptenergieträger war. Kohle! Wann würden die Menschen lernen, dass Kohle die Vergangenheit war, nicht die Zukunft? Auch die Klärung von Abwässern nahm einen immer größeren Raum in ihrer Arbeit ein; mit dem weltweiten Bevölkerungswachstum und der zunehmenden Urbanisierung wuchsen die hygienischen Probleme im gleichen Maße. Die Auftragslage war für ein spezialisiertes Ingenieurbüro daher prächtig.

Ein neuer Turbinenbau an der Mosel oder sogar in den Alpen? Oder Südamerika? Auch dort war sie häufig; sie war die Einzige im Büro, die fließend Spanisch sprach. Und im Gegensatz zu manchen Kollegen reiste sie gerne. Was konnte spannender sein?

Cora betrat ihr Büro, warf die kurze Lederjacke nachlässig über die Stuhllehne und blickte auf ihre Armbanduhr. Ein Geschenk ihres Ex-Ehemannes; auch wenn sie ihn schon zwei Jahre los war, hatte sie die Uhr doch gern behalten. Andenken an eine Zeit, als sie noch glücklich mit ihm in seiner spanischen Heimat unterwegs war … Sie schüttelte den Kopf, um den Gedanken an ihn zu verscheuchen. Vorbei. Noch fünf Minuten, sie hatte also noch Zeit, schnell ihre Mails durchzugehen. Die üblichen Spammails, die ihr in diversen Bereichen Unterstützung anboten, nein danke, heute nicht. Ein paar Anfragen, ein Kunde mit dem inzwischen wohl hundertsten Änderungswunsch für eine Anlage, nichts Wichtiges. Konnte alles warten. Punkt acht Uhr klopfte sie der Form halber an den Türrahmen des Chefbüros, die Tür stand – wie in allen Büros hier – sowieso offen. Fischer erhob sich und winkte sie lächelnd herein.

»Guten Morgen, Cora. Siehst ja wieder blendend aus! Offensichtlich gebe ich dir zu wenig Arbeit … na, das werden wir ändern müssen!« Er grinste und zeigte auf einen der Stühle an dem runden Besprechungstisch vor dem Fenster. »Setz dich bitte. Kann ich gleich zum Thema kommen?« Er sah das als eine rein rhetorische Frage, was es im Grunde ja auch war. Ohne daher ihre Antwort abzuwarten, legte er los: »Du ahnst es sicher schon, es gibt ein neues Projekt für dich. Also genau genommen ist das Projekt nicht neu, aber es ist neu für dich. Eigentlich sind es sogar zwei Projekte. Es geht um Kläranlagen. Nichts Kompliziertes, aber das Ganze ist doch etwas ungewöhnlich. Du weißt, wir haben da ein paar Spezialkunden, die uns etwas Sorgen machen. Ich brauche dich vor Ort.«

Cora hörte neugierig zu. Ihr Chef hatte vor dreißig Jahren begonnen, sich mit seiner Firma Neuwied Ingenieure Beratung, NIB, auf die Planung, Konstruktion und Bauüberwachung von Kläranlagen und Wasserturbinen zu spezialisieren. Damals war das eine überwiegend standardisierte Arbeit gewesen: Eine Stadt benötigte eine Kläranlage, man besprach die Details wie Größe, Standort et cetera, baute – und fertig. Inzwischen waren nicht nur die Anforderungen in ökonomischer Hinsicht deutlich gewachsen, sondern auch die ökologischen Implikationen waren sehr komplex geworden. Wohin baute man so eine Anlage? Was passierte, wenn die Stadt wuchs und die Anlage nicht mehr ausreichte? Konnte man von vorneherein so planen, dass die Anlage erweitert werden konnte? Das dynamische Wachstum afrikanischer und asiatischer Städte überholte jegliche Planung. Wer besaß die beste Technologie? Deutschland war wie in vielen Bereichen auch in dieser Hinsicht sehr weit vorn; in dem berühmten und weltweit bewunderten deutschen Mittelstand gab es auch in der Wasserbranche sogenannte Hidden Champions, also Firmen, die in ihrer Nische Weltmarktführer waren, auch wenn der normale Bürger ihren Namen noch nie gehört hatte. Und die weltweit immer katastrophalere Ausmaße annehmende Umweltverschmutzung führte endlich nicht nur in Europa, sondern auch in den sogenannten Schwellenländern zu einem gesteigerten Bewusstsein für diese Thematik. Wasserqualität war das Thema jeder Klima- und Umweltkonferenz.

»Also, es geht um zwei Kläranlagen, eine ist fertig, da musst du nur die Bauabnahme machen. Dürfte Routine sein. Die andere ist etwas spezieller; sie ist noch im Bau, und es treten Probleme auf. Du schaust dir das an und klärst die Situation, okay? Ich brauche da meinen besten Mann, und das bist nun mal du!«

Cora lächelte pflichtschuldigst; sie mochte ihren Chef, aber diesen Spruch hatte sie sich schon während des Studiums anhören müssen. Sie war die einzige Frau in ihrem Jahrgang gewesen; Ingenieurwesen war damals mehr noch als heute eine Männerdomäne. Ihre schnelle Auffassungsgabe, ihr Fleiß und ihre ruhige, bestimmte Art hatten ihr nach anfänglichen Problemen, ernst genommen zu werden, schnell den Respekt der Professoren eingebracht.

»Okay«, sagte sie. »Alles klar so weit. Wo fahre ich hin? Mir fällt gerade kein Projekt in der Region ein, das du meinen könntest. Worum geht es? Darf ich Koffer packen?« Hoffnungsvoll strahlte sie ihn an. Eine Reise? Womöglich in die geliebten Berge? Vielleicht konnte sie das Projekt mit einer Klettertour verbinden?

»Nun«, sagte Fischer etwas gedehnt. »Jetzt kommen wir zu dem interessanten Teil. Es geht nicht um eines deiner Projekte, da wüsstest du ja ohnehin Bescheid. Es geht um zwei Projekte von Michael«, – er nickte mit dem Kopf zu dem gegenüberliegenden Büro hinüber, das ihrem Kollegen Michael Wams gehörte –, »der sich gestern abgemeldet hat. Die Kinder haben die Läuse im Kindergarten, seine Frau ist krank, er muss sich kümmern und kann nicht weg. Du hast das große Los. Die schon fertige Kläranlage ist in China. Qingdao, genau genommen.« Erwartungsvoll schaute er sie an. Er wusste ja, wie sehr sie das Reisen liebte, und in China war sie noch nie gewesen.

»China? Qingdao? Ich? Wow!«, rutschte es ihr heraus. »Äh, entschuldige, ich meine, das ist ja sehr interessant, mache ich natürlich gern, wann soll ich denn fliegen?«

»Du musst dich im Flugzeug einarbeiten, wir haben es eilig. Gleich morgen Abend 17.10 Uhr ab Frankfurt, Stopover in Beijing. Das Ticket und alle Details der Route, Hotels und so weiter findest du in deinem Kalender auf deinem Smartphone. Irene kümmert sich um das Visum, du kriegst das bei der Ankunft in Beijing als visa on arrival und musst es dann dort verlängern lassen. Das ist mit dem Konsulat in Frankfurt abgesprochen. Michael hat dort einen Freund, er fliegt ja ständig nach China.«

China! Sie versuchte gar nicht erst, ihr glückliches Strahlen zu verbergen. Da hatte sie immer schon mal hingewollt, nie hatte es geklappt. Nicht, dass sie viel über das Land wusste, das Übliche eben: unglaublich dynamisches Wachstum, die nächste Weltmacht, Diktatur, Fleiß – die normalen Klischees. Aber sie würde sofort Michael anrufen, der konnte ihr sicher noch Tipps geben. Sie wollte schon aufstehen, als Fischer sagte: »Cora? Du hast etwas vergessen.«

»Was denn?«

»Die zweite Anlage.«

»Ach ja, genau. Wo ist die? Auch Qingdao?«

»Nicht ganz. Nyingchi.«

»Gesundheit!«

»Sehr witzig, Cora. Das ist eine Stadt in China. Genauer, in Tibet.«

Jetzt verschlug es sogar der sonst so wortgewandten Cora die Sprache. Ihr blieb der Mund offen stehen, was mit dem fröhlichen Strahlen zusammen einen etwas seltsamen Ausdruck ergab.

Kirchen, Westerwald

Nachdenklich betrachtete sie ihren Koffer. Zwei Wochen China, was nahm man mit? Es war Ende Juli, also sicher warm in Qingdao. Das überprüfte sie besser noch einmal, sie überließ die Dinge ungern dem Zufall. Sie scrollte durch ihr Smartphone. 32 Grad waren es heute in Qingdao, na, das klang doch vielversprechend. Andererseits würde sie ja den ganzen Tag auf der Baustelle verbringen, da war es schon wieder zu heiß eigentlich. Dann folgte eine Zugfahrt nach Shanghai, hatte Fischer gesagt, dort würde sie einen chinesischen Kollegen treffen, mit dem sie gemeinsam mit dem Zug nach Lhasa, der Hauptstadt der Provinz Tibet, fahren sollte. 44 Stunden dauerte die Fahrt, quer durch China! Aber es war besser so, Lhasa lag auf einer Höhe von 3600 Metern, und auf der Fahrt zu diesem Ort, den Namen hatte sie schon vergessen, genau, Nyingchi, im Osten Tibets, würden sie über 5000 Meter hohe Pässe überqueren. Da war eine langsame Akklimatisierung durch die Bahnfahrt besser als ein Flug nach Tibet. Viel zu gefährlich, nach der Ankunft auf dem Dach der Welt aus dem Flugzeug zu steigen und dann gleich weitere 1000 Höhenmeter mit dem Jeep in Angriff zu nehmen. Nun, sie hatte nichts dagegen. Zwei Tage Bahnfahrt quer durch China! Ob es in Tibet auch heiß war? 22 Grad, Regen versprach das Internet. Das machte die Kleiderwahl nicht einfacher. Normalerweise war das kein Problem, sie war immer sehr sportlich und praktisch angezogen. Sneaker, Jeans, T-Shirt, fertig. Aber ging das in China? Und in Tibet? Da war wohl festes Schuhwerk angesagt. Nicht schön, aber praktisch. Sicher konnte es da auch sehr windig und kalt werden. Also die Wanderschuhe. Um ihr Aussehen machte sie sich weniger Sorgen, da war sie unkompliziert. War ja auch einfacher, wenn man so eine Figur hatte, würde ihre Freundin, die ständig mit den Pfunden kämpfte, jetzt sagen. Sie musste unwillkürlich lachen, als sie an das Telefonat eben dachte. Ihre Freundin hatte vor ein paar Minuten angerufen.

»Hallo Elisabeth. Wie geht’s dir?«

»Hi Cora. Kommst du morgen mit auf die Jagd? Wir sind zu siebt diesmal, hast du Lust?«

»Tut mir leid, das geht nicht. Ich muss morgen für NIB ins Ausland fliegen. Rate mal wohin!«

»Keine Ahnung. Fliegen? Also etwas weiter. Rom? Das wäre mein Traum. Madrid?«

»Viel besser. China!«

»China? Oh Gott. Ist das nicht gefährlich? Kennst du dich da aus? Kann man da als Frau allein hin? Und essen die da nicht Hunde? Was ist wenn ...?«

»Moment, Moment, Elisabeth«, lachte Cora. »Alles gut. Das ist nicht gefährlich. Ich habe vorhin mit Michael telefoniert, der war schon oft dort, ist ja auch sein Projekt. Für Frauen kein Problem. Shanghai ist sicherer als Koblenz. Liegt wohl an der Diktatur, die Strafen sind hart, bis zur Todesstrafe. Und ich werde abgeholt, und später begleitet mich ein chinesischer Kollege. Es gibt auch anderes als Hund zu essen, da bin ich mir sicher. Und man braucht keine Impfungen, die Hygiene ist im Allgemeinen sehr gut, keine Krankheiten wie in Indien oder Afrika. Also keine Sorge, das wird richtig interessant. Soll ich dir was mitbringen?«

»Hm, was gibt es denn da? Tee? Seide? Ich weiß nicht. Wie lange bleibst du?«

»Zwei Wochen etwa. Muss dann nach Tibet.«

»Wow, du erlebst ja Sachen. Dann nimm dein Jagdmesser mal mit, vielleicht begegnest du einem Yeti …«

Cora strich sich eine widerspenstige Locke aus dem Gesicht. Sie trug ihre Haare seit ihrer Scheidung relativ kurz, aber manche wollten einfach nicht an ihrem Platz bleiben. Neuer Lebensabschnitt, neue Frisur, hatte sie damals gedacht … Das Messer nahm sie wohl besser nicht mit, das gab sicher nur Ärger beim Zoll. Angst hatte sie ohnehin nicht. Sie ging seit ihrer Kindheit mit einer Freundin auf die Jagd, hier im Westerwald. Da lernte man tapfer zu sein, mit Blut umzugehen, wenn man ein Reh ausnehmen musste, Kälte auszuhalten. Und wenn man dann hinter dem Wild her war und durch ein Brombeergestrüpp lief, musste man Kratzer schon ertragen können. Da war zimperlich sein keine Option. Inzwischen hatten sie eine eigene Jagdgruppe gebildet, nur Frauen. Das war viel entspannter als mit den Männern, die immer beweisen mussten, wie toll sie waren. Sich teure, verzierte Gewehre kauften, um damit anzugeben. Das waren oft Waffennarren. Albern.

Also gut. Sie hatte nur 20 Kilogramm Freigepäck, da half alles nichts. Sommersachen für Qingdao, zwei Pullis für Tibet, eine Regenjacke, eine warme Mütze, das musste reichen. Michael hatte Handschuhe wegen der Kälte empfohlen, aber das war sicher nicht nötig. Sie war schließlich nicht auf der Jagd, sie arbeitete auf einer Baustelle. Sie ging ins Bad, packte die wichtigsten Sachen in ihren Kulturbeutel, eine etwas gehaltvollere Hautcreme mit einem hohen Lichtschutzfaktor war sicher angeraten. Sie überlegte. Schuhe, richtig. Zwei Paar, das musste reichen. Und Sportsachen, es würde ja wohl einen Fitnessraum im Hotel geben.

Sie schaute auf die Uhr. Schon zwölf. Bis nach Frankfurt musste sie zwei Stunden Fahrt rechnen, zwei Stunden vorher am Flughafen sein … bliebe noch etwas Zeit. Sie goss die Blumen, checkte ein letztes Mal ihre Mails, schaltete den Laptop aus und packte ihn ein. Aufladekabel! Hatten die in China die gleichen Steckdosen wie in Deutschland? Wie gut, dass es ein Smartphone gab, das ihr bei dieser Frage helfen konnte. Natürlich, die Stecker in China waren anders geformt, drei schmale Stifte, im Dreieck angeordnet. Sicher konnte sie am Flughafen einen Adapter kaufen. Gut, auch geklärt. Ein letzter Blick durch ihre Wohnung; die Opernkarten, die sie für das Wochenende gekauft hatte, würde sich ihre Freundin abholen. Puccini, Turandot. Wirklich schade darum. Spielte das nicht auch in China? Genau, diese Prinzessin wollte nur den heiraten, der drei Rätsel lösen würde … die anderen Bewerber ließ sie hinrichten. Auch eine Möglichkeit. Vielleicht hätte sie das mit ihrem Ex auch machen sollen. Er hätte mit Sicherheit kein Rätsel lösen können. Der kannte lediglich die Namen all der anderen Frauen, die er neben ihr gehabt hatte. Aber wenigstens das wunderschöne Schachspiel aus Eukalyptusholz war ihr geblieben, das er ihr einmal geschenkt hatte, weil sie das Spiel so liebte. Sie hatte ihm erklärt, dass es von den Arabern nach Europa gebracht worden war, wie so vieles; Shah war ja der König in Persien, mat hieß »tot« im Arabischen, daher »Schachmatt«. Aber das hatte ihren Ex alles nicht interessiert; sie sah förmlich, wie er bei ihren Erklärungen das Interesse verlor. Na gut. Vorbei.

Ihr Blick glitt noch einmal durch das Zimmer; an der Pinnwand hing ein Foto ihres Vaters, der 1982 bei dem Besuch des Dalai Lama auf Schloss Wachendorf in der Eifel eingeladen worden war. Dort, bei Mechernich, war mit dem Bau der ersten Stupa, einem Heiligtum der Buddhisten, in der Bundesrepublik begonnen worden. Das Foto, auf welchem ihr Vater neben Seiner Heiligkeit, dem Dalai Lama stand, war dessen ganzer Stolz gewesen. Und nun würde sie in die Heimat des Dalai Lama, nach Tibet fahren!

Achtlos schaute sie noch einmal über das Jagdmesser, das auf dem Tisch zurückblieb, dann ging sie und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Die Klinge, von der sie erst vorgestern noch das Blut eines Rehes abgewischt hatte, funkelte in der Sonne, die auf den Tisch schien. Hätte Cora gewusst, was auf sie zukam, hätte sie das scharfe Jagdmesser sicher eingepackt.

3. Kapitel

Sie lief immer weiter die Uferstraße entlang, Richtung Innenstadt. Vielleicht konnte sie so ihren Verfolgern entkommen. Die ehemalige deutsche Kolonie lag etwas westlich der eigentlichen Innenstadt Qingdaos, und nur das Stadtzentrum bot die Chance auf ein Untertauchen. Die Bucht zog sich über viele Kilometer hin, immer wieder von kleineren Landzungen unterbrochen. Unmöglich, das zu Fuß zu schaffen; sie war zwar fit durch ihr regelmäßiges Joggen, aber hier auf dem rutschigen Asphalt – es hatte zu regnen begonnen – würde sie das nicht lange durchhalten.

Da! Beinahe wäre sie darüber gestolpert, aber ein Aufblitzen im Schein einer Laterne hatte sie gerade noch darauf aufmerksam gemacht. Ein rostiges Fahrrad lehnte an einer alten Steinmauer, die der Stabilität nach zu urteilen noch von den deutschen Kolonialherren gemauert worden war. Festgemauert in der Erden. Hieß das nicht so? Schiller, Lied von der Glocke. Warum merkte man sich aus der Schulzeit immer die unwichtigen Dinge? Die zeitliche Zuordnung schien auch für das Rad zuzutreffen, aber in ihrer Situation war sie nicht wählerisch. Sie schwang sich auf den Sattel und kurvte Richtung Innenstadt, die DongHaiLu entlang. Lu hieß »Straße«, so viel hatte sie schon mitbekommen, die Straßenschilder waren ja Gott sei Dank sowohl in chinesischen Schriftzeichen als auch in westlicher Schrift geschrieben, sodass man zumindest den Namen in seine Karten-App eingeben konnte und wusste, wo man war.

Die Landzungen abkürzend, fuhr sie am Zhongshan Park vorbei, der sich den Berg hinaufzog, dann weiter die Dong-HaiLu entlang, am Yachthafen vorbei. Alles war still, das Nachtleben der Millionenmetropole spielte sich an anderen Stellen ab. Da kam ihr ein Gedanke. Noch weiter östlich, aber an der gleichen Straße, lag das Hyatt Hotel, ein internationales Fünf-Sterne-Hotel. Davon hatte Michael erzählt; er wohnte immer dort. Dort würde sie nicht auffallen. Ob sie eine Chance hatte, so weit zu kommen? Es waren sicher noch drei bis vier Kilometer, und ihr Puls schlug schon jetzt wie verrückt. Aber sie konnte nicht aufgeben, musste einfach weiter, trat in die Pedale, immer weiter die Straße entlang, bis sie endlich die Lichter des Hyatt aufblitzen sah.

Das Hotel hatte sich ein herrliches Grundstück gesichert, Zimmer mit unverbaubarem Meerblick, eine Seltenheit in dieser Stadt, die täglich neue Wolkenkratzer hervorzubringen schien. Ihr eigenes Hotel lag etwas landeinwärts, an der Hauptverkehrsstraße, aber an eine Flucht dorthin war ohnehin nicht zu denken. Dort warteten sie vielleicht schon. Wenn etwas in China funktionierte, dann war es die Überwachung, das hatte sie schnell – und schmerzhaft – begriffen. Ein Wunder, dass ihr niemand zu folgen schien.

Sie trat noch einmal kräftig in die Pedale, versuchte das Ziehen in ihren Beinen zu ignorieren. Fuhr die Straße entlang und erreichte schließlich die strandgesäumte Bucht, an welcher das imponierende Hotel lag. Viel zu langsam näherte sie sich dem Komplex. Ihre Lungen brannten; die Luftverschmutzung war zwar nicht sichtbar wie in Beijing, aber bei der körperlichen Anstrengung spürte sie doch deutlich das Kratzen im Hals, ihre Augen tränten. Sie erreichte eine flache Abzäunung, warf das Rad in ein Gebüsch und ließ sich gleich daneben auf den Boden fallen.

Ausruhen! Es war schön, wie der Schmerz in ihren Oberschenkeln nachließ. Aber weiter, weiter! Sie musste weiter. Sie wusste nicht, ob ihr überhaupt noch jemand auf den Fersen war, aber das spielte nun keine Rolle mehr. Sie musste weg, in die Sicherheit der Anwesenheit anderer Ausländer, da konnte sie am besten untertauchen. Gegen den Willen und die wunderbare Vorstellung, einfach liegen zu bleiben, ankämpfend, lief sie Richtung Hotel und hinunter ans Wasser. Das Hotel lag fast direkt am Meer; nur ein schmaler Streifen Sand trennte es davon. Vom Strand führte ein breiter Holzsteg mit dicken Planken, leicht geschwungen, zum Gebäude empor. Am Ende des Steges kam Cora an eine weitläufige Terrasse, die hier und da mit drei bis vier Metern hohem Bambus bepflanzt war. Der Wind, der vom Wasser heraufwehte, ließ den Bambus hin und her wogen; bei jeder anderen Gelegenheit hätte sie das sanfte Rauschen und die angenehme Temperatur genossen. Aber nicht jetzt! Stühle und Tische waren säuberlich für die Nacht aufgestapelt. Dahinter lag ebenerdig das Restaurant. Donghai 88 stand an der Glastür, das war wohl der Name. 88, eine Glückszahl in China. Glück konnte sie jetzt auch brauchen. Sie rüttelte an der Tür, verschlossen! Eine zweite, auch nichts, die dritte endlich offen. Schnell lief sie über den Marmorboden quer durch das Restaurant, zwei Stufen hinauf, und erreichte rechts eine lang gezogene hölzerne Wendeltreppe, die weit ausladend nach oben führte. Ein Stockwerk hinauf gelangte sie in das Erdgeschoss und damit in die Lobby des Hotels. Glitzerndes Licht, Marmor; Hotellobbys in China hatten immer gewaltig und beeindruckend zu sein, das ließ nach Meinung der Chinesen auf die Qualität des Hotels schließen. Braune, tiefe Sessel, an der hohen Decke ebenfalls in braunes Holz eingefasste Lampen, die ein diffuses, angenehmes Licht verströmten.

Von ihrem Standort aus lag die Rezeption auf der rechten Seite. Links konnte sie über ein Geländer hinabblicken in das Restaurant einen Stock tiefer, das sie eben durchquert hatte. Alles ruhig so weit. Sie ging tiefer in die Lobby hinein, vorbei an dem Flügel, an dem wahrscheinlich den ganzen Tag eine Chinesin im hoch geschlitzten Seidenkleid die üblichen, belanglosen, weil weltweit austauschbaren Melodien auf dem Klavier spielte; das hatte sie in ihrem Hotel auch gesehen.

Der Haupteingang war zu riskant, dort stand immer Wachpersonal, und die Drehtür war für ein schnelles Entkommen nicht gerade förderlich. Mitten in der Lobby, direkt an der Drehtür, befand sich ein riesiger Stein, der sich, ständig von Wasser überströmt, trotz seiner Wucht erstaunlich harmonisch in die Gesamtkonzeption einfügte. Das sollte die Geister abhalten, hatte sie mal gelesen. Nach der Lehre des Feng Shui, also der Lehre von Wind und Wasser, war die Natur beseelt von Geistern, Drachen, Dämonen. Aber es gab Regeln, mit diesen Wesen umzugehen, sie sich zunutze zu machen. So konnten Geister erfahrungsgemäß nur geradeaus gehen, daher fand man in jedem Restaurant und jeder Hotellobby, kaum war man eingetreten, einen Wasserfall, einen Paravent, einen Stein, irgendetwas, das einen zwang, um es herumzugehen. Also eben nicht geradeaus. Für die Geister hieß das: Wir müssen leider draußen bleiben. Auch stand das fließende Wasser für ein gut fließendes Qi, eine Strömung von Lebensatem, Energie.

Ihre eigene Energie kam nun langsam wieder zurück. Was nun? Eine Ausländerin, verschwitzt, allein, nachts in einer Hotellobby auftauchend, würde an und für sich nicht weiter auffallen; meist war es den Chinesen ja egal, wie die Ausländer aussahen. Ohnehin immer etwas seltsam. Und dass in einem Luxushotel eine einzelne Ausländerin nachts in der Lobby erschien, war auch nichts Besonderes, wahrscheinlich kam sie vom Joggen, so was taten die Ausländer ja erstaunlicherweise. Ließen sich auch vom Smog nicht davon abhalten, etwas für ihre Gesundheit zu tun! Dabei war es gesünder, einfach im Bett zu bleiben, statt den giftigen Nebel draußen einzuatmen, das wusste jeder Chinese.

Also wohin nun? Erschöpft ließ sie sich in einen der weichen Sessel in der Lobby fallen. Das diffuse Licht der Hotelhalle, die um diese Zeit nicht mehr vollständig beleuchtet war, das Plätschern des Wassers, die Ruhe nach der Panik, die sie im Büro überkommen hatte, all das tat gut. Die Lobby wirkte durch ihre Einrichtung westlich, damit vertrauter als das echte China draußen. Sie konnte sich endlich fallen lassen, und mit der plötzlichen Entspannung begann sie, die sie ohne mit der Wimper zu zucken einen Hirsch ausnehmen konnte, unwillkürlich zu zittern. Da saß sie nun, erschöpft in einem Ledersessel in China. Allein unter einer Milliarde Chinesen. Was war eigentlich passiert? Sie wollte doch nur ihren Job machen. Das Projekt Kläranlage in Qingdao sauber abschließen und dann nach Tibet zu der anderen Baustelle fahren. Aber ihre Neugier war ihr wieder zum Verhängnis geworden. Sie musste aber auch überall ihre Nase hineinstecken! Und nun war sie in etwas hineingezogen worden, das größer war, als sie bewältigen konnte. Was sollte sie tun? An wen konnte sie sich wenden? Chinesen kannte sie keine, denen sie vertrauen konnte. Wie war sie in dieses Chaos hineingeraten? Da fielen ihr wieder die Papiere ein. Sie zog sie aus der Tasche und begann nochmals zu lesen, dieses Mal aufmerksamer als vorhin.

Also wenn NIB Consult einen Kunden beriet, damit der eine Kläranlage bauen konnte und dann eine andere Firma, Great Wall, den Auftrag bekam, die zum Bau benötigten und von NIB empfohlenen Materialien zu liefern, war das doch in Ordnung. Der Auftrag kam vom Umweltministerium; das schien auch in Ordnung. Wo war das Problem?

Cora schloss erschöpft die Augen. Die China Daily, die englischsprachige Tageszeitung, die vor ihr auf dem Tisch lag, nahm sie nur unbewusst wahr. Die Schlagzeile »Wieder Demonstrationen wegen schlechter Wasserqualität!« und, etwas weiter unten, »2. Teilabschnitt des Süd-Nord-Umleitungsprojekts vollendet« las sie nicht mehr bewusst. Aber ihr Gehirn hatte die Information abgespeichert.

»Sind Sie auch so müde?« Sie zuckte zusammen. Heimische Klänge, jetzt und hier? Als sie sich umdrehte, sah sie einen dicklichen, schwitzenden Mann, das Polohemd an der Stelle etwas zu eng anliegend, an der wohl mal eine Taille gewesen war. Die beige Stoffhose über den weißen Turnschuhen verstärkte den Eindruck eines Touristen; zweifellos deutsch. Er nahm die Brille ab, wischte sich mit einem schon fleckigen Taschentuch über die Glatze, auf der sich Schweißperlen angesammelt hatten, die herunterzulaufen drohten, und schnaufte: »Seit Tagen früh aufstehen! Bin noch im Jetlag, zu Hause in Bitburg ist jetzt Nachmittag, hier muss ich jetzt zu Bett gehen, weil wir morgen früh den Zug nach Shanghai kriegen müssen, so ein Schnellzug, die sollen ja besser sein als bei uns, das glaube ich nicht, man weiß doch, dass die Chinesen das nur nachbauen, also wenn Sie mich fragen …« Der Rest ging gnädigerweise in einem Stimmengewirr unter, das sich in der ganzen Lobby auszubreiten schien. Eine ganze Touristengruppe, bestimmt 30 Personen, unverkennbar (und unüberhörbar) deutsch, schob sich Richtung Aufzüge. Cora wollte sich schon tiefer in den Sessel drücken, um nicht aufzufallen, als plötzlich Unruhe entstand. Eine Dame hatte wohl etwas im Bus vergessen, musste noch mal zurück, der Busfahrer war nicht aufzufinden, die Chinesen an der Rezeption verstanden nicht, warum sie wieder in den Bus wollte, obwohl sie es doch in bestem Deutsch erklärte, für diese Chinesen auch nochmals lauter, also das konnte doch nicht so schwer sein …

Sie hörte ein Handy klingeln. Das war nichts Besonderes, hier klingelte ja ständig irgendwo eines, aber um diese Uhrzeit war die Hotelhalle ja, abgesehen von dem überfallartigen Erscheinen der Touristen, praktisch leer. Das Klingeln hörte nicht auf, und sie fragte sich schon leicht genervt, wer denn da wieder nicht aufpasste.

»Wollen Sie nicht rangehen?«, hörte sie den schwitzenden Herrn sagen. »Ja, Sie meine ich. Das ist doch Ihr Handy? Klingt, als ob es aus Ihrer Jacke kommt!«

Jacke? Handy? Unwillkürlich tastete sie ihre Jackentaschen ab. Tatsächlich, da war ein Handy. Aber wie … Der Anwalt! Genau, er hatte ihr ein chinesisches Handy und eine Prepaidkarte besorgt, damit sie innerhalb Chinas nicht so horrende Kosten hätte, wie er sagte. Ihr deutsches Smartphone war in ihrem Rucksack. Und der lag noch im Büro, wie ihr jetzt siedend heiß einfiel! Sie zerrte das Handy aus ihrer Jackentasche, das Klingeln wollte einfach nicht aufhören.

»Hallo?«, sagte sie.

»Frau Remy? Sind Sie das? Landmann hier. Wo stecken Sie denn? Ich versuche seit Stunden, Sie zu erreichen. Ich habe mir Sorgen gemacht, wegen Ihrer Kopfschmerzen. Was ist denn passiert?«

Vor Erleichterung hätte sie beinahe das Handy fallen lassen. Eine vertraute Stimme, ein Ausländer, der sich in China auskannte. Rüdiger Landmann.

»Ja, Remy hier«, sagte sie. Erst jetzt merkte sie, wie erschöpft sie war. »Es tut mir leid, das mit den Kopfschmerzen war eine Ausrede.«

»Wo sind Sie? Soll ich Sie abholen?«

»Ich bin im Hyatt, unten am Strand. Ich … ich habe ein Problem. Es wäre wirklich toll, wenn Sie mich abholen könnten. Aber es ist so spät, ich weiß nicht …«

»Nein, nein, kein Problem. Wir Ausländer müssen ja zusammenhalten. Bleiben Sie, wo Sie sind, ich bin in 15 Minuten da. Okay? Nicht weggehen! Bis gleich.«

Weg war er. Gut, dass er angerufen hatte. Er wusste sicher, was zu tun war. Erst mal weg hier, erst mal raus aus Qingdao. Dann nach Shanghai, ihren chinesischen Kollegen treffen, dann Tibet. Wenn das noch ging. Oder lieber gleich nach Hause? Sie ließ sich wieder zurück in den Sessel fallen. Die Reisegruppe hatte inzwischen ihre Probleme gelöst und drängelte sich durch die Halle zu den Aufzügen. Es wurde wieder still, und die Ruhe umfing sie wie ein Mantel. In einer Ecke wischte eine Chinesin nachlässig und sinnfrei mit einem Tuch über die Glastische der Lobby, sonst war niemand zu sehen.

»Hallo, da bin ich!«, holte sie eine fröhliche Stimme unsanft aus ihren Träumen von einem Spaziergang durch den Westerwald. Frische Luft, viel Grün, ein Bach plätscherte neben ihr. Als sie die Augen aufschlug, musste sie sich erst orientieren. Das Plätschern kam von dem Stein vor der Drehtür, über den das Wasser lief. Vor ihr stand Rüdiger Landmann; tadellos gekleidet, lächelte er sie an. »So, jetzt erzählen Sie mal. Was ist passiert? Was machen Sie hier im Hyatt? Haben Sie Ihr Hotel nicht mehr gefunden? Soll ich Ihnen einen Kaffee bestellen? Oder einen Mitternachtssnack?«

Lächelnd schaute sie ihn an. Essen klang gut, Kaffee auch. Aber sie musste erst reden, wissen, was sie tun sollte. »Können Sie sich bitte einen Moment zu mir setzen? Ich muss Sie etwas fragen«, begann sie. Dann, als er ihr gegenübersaß, sah sie sich vorsichtig um. »Ist das sicher hier? Werden wir abgehört?«

»Abgehört?«, lachte er. »Natürlich werden wir abgehört. So eine Hotelhalle ist bestimmt verwanzt. Aber wen interessiert denn, was wir hier machen? Eine Ingenieurin, die eine Planung überwacht, ist ja wohl keine Spionin. Oder sind Sie vielleicht doch eine?« Er zwinkerte verschwörerisch. Er schien sie nicht ernst zu nehmen.

»Bitte, hören Sie zu. Ich bin heute Abend noch mal in das Büro gegangen, um einige Unterlagen abzuholen …« Sie beschrieb detailliert, was sich zugetragen hatte. Auch den Teil, bei dem er dabei gewesen war, damit er ihre Sicht der Dinge verstand.

4. Kapitel

Noch vor dem Frühstück heute Morgen war sie am Strand entlanggejoggt; das brauchte sie einfach. Der Flug nach China war anstrengend gewesen; sie mochte es nicht, so lange still sitzen zu müssen. Das Umsteigen in Beijing nach Qingdao war auch ohne Chinesischkenntnisse problemlos verlaufen. Alles auf Englisch ausgeschildert, und man konnte immer jemanden fragen. Trotz der Größe des Flughafens, der einer der größten der Welt war und schon jetzt wieder zu klein, blieb ausreichend Zeit, um noch einen Adapter zu kaufen.

»Mrs. Cora?« Fragend sah sie ein junger Mann mit einer verspiegelten Sonnenbrille an. Sie erinnerte sich, dass Michael ihr einmal erklärt hatte, im Chinesischen stünden die Familiennamen vorn, also hatte der Fahrer ihren Vornamen Cora für ihren Nachnamen gehalten. Er sprach zwar kein Wort Englisch, fuhr sie aber schnell und sicher durch den chaotischen Verkehr ins Hotel.

China. Ihr erster Eindruck war eigentlich nur: Staunen. Achtspurige Straßen, Hochhäuser, alles perfekt sauber, effiziente Verkehrsführung, ausgesuchte Höflichkeit, soweit sie das mitbekam. Das Chaos der südamerikanischen Staaten, die sie schon besucht hatte, fand sie hier nicht vor. Auch keine Armut, keine Bettler, keine Slums. Überhaupt schien die Stadt sehr wohlhabend zu sein, luxuriöse deutsche Autos allenthalben. Dazwischen auch mal ein italienischer Sportwagen. Vor ihrem Hotel standen ebenfalls mehrere Luxuskarossen, sehr beeindruckend. Das Zimmer war hell und groß, alles perfekt sauber. Sie war positiv überrascht. Wieso eigentlich? Hatte sie sich China insgeheim rückständiger vorgestellt? Reisfelder und dreieckige Strohhüte? Das war doch albern, die beeindruckende Geschwindigkeit der chinesischen Wirtschaftsentwicklung war ja bekannt. Aber dennoch war es anders. Irgendetwas fehlte; sie wusste nicht genau, was es war. Egal. Müde fiel sie ins Bett und war eingeschlafen, bevor sie weiter darüber nachdenken konnte.

Sie war nur schwer aufgewacht, der Jetlag war doch zu spüren. Sechs Stunden Zeitunterschied! Sie war es gewohnt, morgens Sport zu treiben, und auf ein muffiges Fitnessstudio hatte sie keine Lust. Der Strand lag schließlich in Laufweite vor ihrem Hotel! Also nichts wie in die Sportschuhe und über zwei Querstraßen hinunter ans Wasser. Herrlich, die Sonne ging gerade auf, ein sanfter Wind kam auf, aber außer zwei weiteren Ausländern, die weit vor ihr liefen, war niemand zu sehen. Chinesen waren wohl nicht so sportbegeistert. Es tat richtig gut nach dem langen Flug, sich wieder zu bewegen. Das Meer war grau, kaum Wellengang, aber das Wasser schien sauber zu sein, jedenfalls sah sie keinerlei Dreck oder Algen. Im Sommer trieben hier gewaltige Algenteppiche, hatte Michael gesagt, so verschmutzt war das Wasser. Aber sie wusste ja, was man auch jetzt alles nicht sah. Na ja, schwimmen wollte sie ohnehin nicht, so sehr traute sie der Wasserqualität nun auch wieder nicht. Schnell kam sie auf ihre gewohnte Geschwindigkeit und überholte die beiden Jogger, die sich gemütlich unterhielten. Nach einer Viertelstunde kehrte sie um, erreichte wieder ihr Hotel und machte noch ein paar Dehnübungen. So, jetzt ging es ihr wieder gut! Klarer Kopf, sie fühlte sich topfit. Duschen, umziehen, Frühstück direkt am Fenster des Restaurants mit herrlichem Blick auf eine Baustelle, auf der ein noch höheres Hotel zu entstehen schien. Dafür war das Buffet beeindruckend, riesig; man musste wirklich mehrere Male um alles herumgehen, um sich einen Überblick zu verschaffen. Sie blieb aber trotz aller süßen Verlockungen bei ihrem üblichen Müsli, etwas Obst und einer Tasse Tee. Grün, diesmal, wenn nicht hier, wo sonst?

Sie suchte auf ihrem Zimmer ihre Unterlagen zusammen und ging hinunter in die Lobby. »I need a taxi«, sagte sie zu dem Portier.

»Hao, okay«, meinte dieser gelangweilt und rief etwas in sein Walkie-Talkie. Sogleich kam ein hellgrüner VW Passat vorgefahren. Sie zeigte dem Fahrer die Adresse, und er fuhr, nachdem er noch einmal herzhaft aus dem Fenster gespuckt hatte, kommentarlos an. Na gut, dachte sie, wird schon in Ordnung sein, und beschloss, die Fahrt zu genießen und etwas von der Stadt zu sehen.

Die »grüne Insel«, so die Bedeutung des Namens von Qingdao, zog sich über mehrere Buchten und dann ins hügelige Hinterland hin. Der Teil, der die ehemalige deutsche Kolonie umfasste, lag an der sogenannten Bucht von Qingdao, dann folgte östlich die Küste hinauf die eigentliche Innenstadt. Eine Millionenstadt, doppelt so viele Einwohner wie Berlin, hatte Michael ihr erklärt, aber immerhin eine der schöneren Städte Chinas, viel Grün. Die Chinesen hatten die Relevanz von Umweltthemen erkannt; sie hatten auch gar keine andere Möglichkeit mehr, als sich des Themas Erneuerbare Energien anzunehmen, wollten sie nicht Unruhen und weitere Aufstände unzufriedener Bürger riskieren. Auch in China pochten die Menschen zunehmend auf ihr Recht auf frische Luft und sauberes Wasser. Ein Sino-German Ecopark war das Ergebnis; ein riesiges Gelände, auf welchem deutsche Firmen, die im Bereich Umwelttechnologie weltweit führend waren, ihre Produkte anboten und mit chinesischen Kunden ins Geschäft kamen. Und die deutsche Industrie bot nur zu gern ihre Produkte hierzu an. Man war willkommen als Deutscher, und dies nicht nur wegen der Historie. Immerhin hatten die Deutschen sich hier in Qingdao leidlich gut benommen (nahm man die anderen Mächte als Maßstab). Sie hatten nicht nur die berühmte Germania-Brauerei gegründet, wo man bis heute das Tsingtao-Bier herstellte (die alte deutsche Schreibweise hatte man aus Nostalgie auf den Flaschen beibehalten), nein, sie hatten auf einer Werft in Qingdao auch chinesische Lehrlinge ausgebildet, nicht nur ausgebeutet, wie das eigentlich üblich war. Sie hatten die Stadt durch strikte Quarantäne vor einer Epidemie bewahrt, und, vor allem: Sie waren deutlich beliebter als die Japaner, die nach dem Abzug der Deutschen die Stadt übernommen hatten.

Von den Relikten dieser alten deutschen Kolonie sah Cora jedoch nicht viel. Sie fuhren durch nichtssagende Häuserschluchten, über breite Straßen, gesäumt von Hochhäusern, Hotels, Kaufhäusern. Überall wurde gebaut; hohe Bauzäune verhinderten einen Blick auf das, was dahinter verborgen lag. Den Bildern nach ging es wohl um den U-Bahn-Bau. Nach 20 Minuten und nur einem Stau bog ihr Fahrer von der breiten Straße, die von in perfektem Abstand gleichförmig gepflanzten Bäumen gesäumt war, links ab. Ein riesiges Gebäude zu ihrer Rechten erinnerte irgendwie an ein Skihotel in den Alpen; die zahlreichen Türmchen und Zinnen passten so gar nicht in das chinesische Straßenbild. Da hatte sich wohl ein reicher Chinese einen Traum gegönnt; ein Hotel war es, wie sie im Vorbeifahren erkannte.

Sie erreichten eine schmale Straße, in welche der Fahrer langsam hineinfuhr. Offensichtlich suchte er die Hausnummer. Das schien nicht so einfach zu sein; die meisten Häuser hatten gar keine, soweit sie das sehen konnte. Dann hielt er doch vor einem grauen, nichtssagenden Hochhaus; das war es wohl. Er zeigte auf das Gebäude und fragte: »Xianjin?« Sie zuckte mit den Schultern, aber er wiederholte die Frage, ungeduldiger. Da Cora nun wirklich nicht wusste, was er wollte, nahm sie einfach einen Geldschein aus ihrem Geldbeutel, 50 Yuan, und gab ihn dem Fahrer. Der schien mit dieser Antwort zufrieden zu sein (später erfuhr sie, dass er nur gefragt hatte, ob sie bar zahle); jedenfalls gab er ihr korrekt heraus – die Summe stand ja auf der elektronischen Anzeige im Rückspiegel angeschrieben – und riss auch noch einen Zettel ab, den das Taxameter ausdruckte. Das war dann wohl die Quittung. Sie freute sich schon auf die Augen ihres Kollegen in der Buchhaltung, wenn sie diesen Wisch in Neuwied einreichte. Der würde seine Freude haben!

Cora betrat die riesige Lobby des Bürogebäudes, an der gegenüberliegenden Seite sah sie eine Art Rezeption. Ein junges Mädchen (jedenfalls schien sie keine 15 zu sein, was ja sicher nicht stimmte, aber Cora hätte überhaupt nicht gewusst, wie alt sie die junge Dame hätte schätzen sollen) spielte gelangweilt mit seinem Smartphone, das in einer rosa-goldenen, über und über mit Glitzersteinchen bedeckten Hülle steckte.

»Excuse me, where can I find the office of NIB Consult?«

Die Chinesin blickte sie ausdruckslos an. Sie schien sowohl Cora als auch ihre Frage nur mäßig faszinierend zu finden, schaffte es aber schließlich widerwillig, ihr Smartphone wegzulegen. »What do you want?«

Das habe ich doch gerade gesagt, dachte sich Cora. Sie fragte erneut nach dem Büro ihrer Firma hier in Qingdao. Der Name NIB schien bei der Chinesin kein Erkennen auszulösen, sie schüttelte den Kopf, zeigte auf die Aufzüge und wandte sich wieder ihrem Handy zu.

»Kann ich Ihnen helfen?«, hörte sie plötzlich eine beruhigend vertraut klingende Stimme. Sie drehte sich um. »Sie sprechen Deutsch?«, fragte sie den groß gewachsenen Ausländer, der mit seinem Anzug, dem sauber gezogenen Scheitel und der perfekt sitzenden Krawatte einem Modeprospekt entsprungen zu sein schien. Die Tatsache, dass er Deutsch sprach, hatte ihn schon sympathisch klingen lassen, in all diesem Sprachgewirr von unverständlichen Lauten.

»Ja«, lächelte er sie freundlich an. »Ich sah Ihr Lufthansaschild an Ihrer Laptoptasche, da dachte ich, ich versuche es mal auf Deutsch. Entschuldigung, ich habe mich nicht vorgestellt. Landmann, Rüdiger Landmann. Ich bin deutscher Anwalt hier in Qingdao und habe einen Termin hier im Haus. Kann ich Ihnen helfen?«