image

Ronny Blaschke

Angriff von

Rechtsaußen

Wie Neonazis den Fußball missbrauchen

VERLAG DIE WERSTATT

Copyright © 2011 Verlag Die Werkstatt GmbH

ISBN 978-3-89533-772-7

Inhaltsverzeichnis

Ideologie der Ungleichwertigkeit

Einleitung

Stimmenfang am Stadion

Neonazis unterwandern die Fanszene des 1. FC Lokomotive Leipzig

Unparteiischer mit Parteibuch

Der NPD-Funktionär Stephan Haase ist seit 2007 Schiedsrichter in der Kreisliga C

Braunes Intermezzo

In Lübeck gründet die NPD 2006 einen Fanklub – ohne Erfolg

„Der DFB hat Angst, dass wir Kontakte zu Fans knüpfen könnten“

Interview mit Klaus Beier, Geschäftsführer und Pressesprecher der NPD

Lockruf im Vakuum

Der Neonazi Tommy Frenck führt über seinen Fußballverein SG Germania Jugendliche an die Kameradschaftsszene heran

„Das System wegschießen“

Neonazis feiern Fußballturniere als wichtigen Teil ihrer Erlebniskultur

„Das Stadion ist der einzige Ort, wo Abwertungsmuster eine breite Öffentlichkeit erreichen – ohne Sanktionen“

Interview mit dem Bielefelder Gewaltforscher Wilhelm Heitmeyer

Unfreiwillig unpolitisch

Kategorie C besingt Fußball, Freundschaften, Ehre. Die Bremer Rockband erhebt die Wolfsgesellschaft zur Leitkultur

Verschlüsselte Lebenswelt

Kleidermarken, Symbole und Codierungen von Rechtsextremen wandeln sich ständig. Der Fußball wird dabei systematisch als Marketing- und Geschäftsfeld erschlossen

Bilder vom rechten Rand

Comics bedienen Stereotype und pflegen Feindbilder auf einprägsame Art – auch in Fußball-Fanzines

Unterwanderung 2.0

Fans nutzen das Internet zum Informationsaustausch, zur Selbstdarstellung oder zur Abgrenzung von anderen Gruppen

Sheriffs fürs Grobe

Einigen privaten Sicherheitsdiensten in den Stadien werden Verbindungen zur rechtsextremen Szene nachgesagt

Die Schlichterin

Ein Funktionär der NPD als beliebter Jugendtrainer – ein Fall für die Sportmediatorin Angelika Ribler

„Wir können Minderheiten helfen, ein Stück mediale Gerechtigkeit zu erlangen“

Interview mit DFB-Präsident Theo Zwanziger

Hürdenläufer durch die Bürokratie

Islamfeindlichkeit wird oft zwischen zwei Toren ausgetragen

„Warum sollte ich nur Dönerfleisch essen?“

Interview mit dem Fußballprofi Halil Altintop

Sehnsucht nach Normalität

Antisemitismus ist im Amateurfußball weit verbreitet. Die Bewegung Makkabi stellt sich mit Bildungsangeboten gegen Diskriminierungen

„Wer heute miteinander Sport treibt, wird sich morgen nicht feindselig gegenüberstehen“

Interview mit Dieter Graumann, Präsident des Zentralrats der Juden

Die Angst der Aussätzigen

Auch im Fußball wird Antiziganismus, die rassistische Ablehnung von Roma, weitgehend toleriert – doch langsam wächst Gegenwehr

Abenteurer im Archiv

Vereine haben sich lange gegen eine Aufarbeitung ihrer Rolle im Nationalsozialismus gesträubt. Stattdessen graben Fans in der Geschichte ihrer Klubs

„Vereine wollen pflegeleichte Spieler ohne politisches Profil“

Interviews mit Yves Eigenrauch, ehemaliger Profispieler beim FC Schalke 04

Die Horizont-Öffner

Seit drei Jahrzehnten entwerfen Sozialarbeiter für junge Fans kreative Erlebniswelten, um rechtsextreme Einstellungen gar nicht erst entstehen zu lassen

„Sozialarbeit sollte sich niemals in eine Allmachtsfantasie flüchten“

Interview mit dem Erziehungswissenschaftler Thomas Schneider

Klima des Misstrauens – Ein Ausblick

Literatur

Aktive Gruppen im Internet

Der Autor

image

Hobbykicker in Gefahr: Am 24. Oktober 2009 überfallen 50 Neonazis den Verein Roter Stern Leipzig in der sächsischen Kleinstadt Brandis.

image

Waffen im Sport: Mit Holzlatten und Eisenstangen gehen die Angreifer auf den Roten Stern los, ein Fan verliert fast sein Augenlicht.

Ideologie der Ungleichwertigkeit

Einleitung

Die Optik ist verzerrt, der Ton undeutlich, die Kamera wackelt. Junge Männer laufen durchs Bild, breitschultrig, aggressiv, ihre Gesichter vermummt, ihre Hände umklammern Eisenstangen und Holzlatten. Dazwischen ein dumpfer Schrei, Drohungen, Geräusche von schnellen Schritten. Das Video, das im Internet kursiert, zeigt einen gewalttätigen Angriff auf die Mannschaft von Roter Stern Leipzig in der sächsischen Kleinstadt Brandis. Rund fünfzig Hooligans und Neonazis überfallen am 24. Oktober 2009 den antirassistischen Verein während eines Auswärtsspiels in der Bezirksklasse. Freizeitspieler, die Tore schießen wollen, müssen sich in Kampfstellung verteidigen, ein Fan verliert fast sein Augenlicht. Selten wird Rechtsextremismus im Fußball so eindringlich dokumentiert. Sichtbar, hörbar, fast spürbar.

Wer sich in der Republik umhört, unter Funktionären, Schiedsrichtern, Trainern, der hört die immer gleichen Antworten: „So etwas gibt es bei uns nicht.“ „Bei uns ist es zuletzt ruhig geblieben.“ „Wir haben zwar Glatzen im Stadion, aber die lassen die Politik draußen.“ „Die Anfeindungen gegen schwarze Spieler sind stark zurückgegangen.“ Noch immer dominiert die Wahrnehmung: Rechtsextremismus könne nur gefährlich sein, wenn es zu lautstarkem Rassismus auf den Rängen kommt, wenn Spieler antisemitisch geschmäht werden, wenn die NPD vor dem Stadion ihre Wahlprogramme verteilt. Nach einem ähnlichen Muster verfahren viele Medien. Sie berichten lange und laut, wenn der Stürmer Gerald Asamoah in Rostock beschimpft wird, wenn sein Kollege Adebowale Ogungbure in Halle getreten wird, wenn der jüdische Verein TuS Makkabi Berlin aus Protest und Angst vor Attacken ein Spiel abbricht. Viele Fußballvertreter und Journalisten erzeugen den Eindruck, dass Rechtsextremismus eine Mode-Erscheinung sei, eine lose Kette von öffentlichen Ereignissen. Doch Rechtsextremismus ist in der Regel kein öffentliches Ereignis.

Rechtsextremismus ist laut dem Berliner Politikwissenschaftler Richard Stöss eine Kombination von Einstellungen, die einen gemeinsamen Kern haben: die Ablehnung der Gleichheit aller Menschen. Zu diesen Einstellungen zählen Rassismus, Antisemitismus, die Befürwortung eines Führers, die Verharmlosung des Nationalsozialismus oder die Herabsetzung von Minderheiten: von Homosexuellen, Menschen mit Behinderungen, Obdachlosen. Diese rechtsextremen Einstellungen müssen nicht zwangsläufig in rechtsextremes Verhalten übergehen, in Gewalt, Diskriminierung, Parteimitgliedschaft. Weder die Wählerstimmen für die NPD noch der Überfall auf den Roten Stern Leipzig geben ausreichend Auskunft über den Rechtsextremismus in Deutschland.

Wie tief Einstellungen in der Gesellschaft verankert sind, dokumentiert die Langzeituntersuchung zur „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ des Bielefelder Gewaltforschers Wilhelm Heitmeyer. Seit 2002 erforscht sie die Abwertung von gesellschaftlichen Gruppen. In der neunten Ausgabe dieser repräsentativen Studie, die im Dezember 2010 veröffentlicht wurde, stimmen 49 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass in Deutschland zu viele Ausländer leben würden. 26 Prozent befürworten die Forderung, dass Muslimen die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden solle. 16 Prozent geben an, dass Juden zu viel Einfluss hätten. Und elf Prozent stützen die Meinung, dass „die Weißen“ zu Recht führend in der Welt seien. Angesichts dieser Zahlen ist die oft bemühte Trennung zwischen einem intoleranten „Rand“ und einer toleranten „Mitte“ der Gesellschaft nicht mehr als eine politische Floskel. Rechte Positionen und die Ablehnung von Gruppen sind tief in der Gesellschaft verankert. Nur sind sie nicht immer – wie beim Überfall auf den Roten Stern Leipzig – sichtbar, hörbar oder spürbar.

Der Berliner Sozialwissenschaftler Gerd Dembowski ist der Meinung, dass das Fußballstadion wie ein Brennglas wirke, unter dem gesellschaftliche Zustände verstärkt sichtbar werden: „Nicht unbeachtet bleiben darf, dass der Fußball durch sein starres Regelwerk mit Befehl, Gehorsam und Bestrafung auch ein Präsentationsfeld für patriarchale Wertvorstellungen und autoritäre Charaktere schaffen kann. Das ihm zugrunde liegende männliche Weltbild kann autoritäre Charakterstrukturen, Identitätsdenken, Nationalismus, Rassismus, Homophobie, Sexismus verstärken.“ Selten dringen Ausbrüche aus dem Amateurfußball an die Öffentlichkeit: Im Dezember 2007 hatte ein Funktionär des TSV Lingenfeld in Rheinland-Pfalz über ausländische Gegner getönt: „Wenn ich solche Mannschaften sehe, bin ich nicht mehr stolz darauf, ein Deutscher zu sein. Wenn ich beim Verband etwas zu sagen hätte, würde ich solche Mannschaften zwangsabmelden. Die gehören in den Rhein gejagt.“ Er sprach eine Meinung aus, die Millionen Deutsche für sich behalten.

In den Bundesligastadien sind die Auswirkungen von rechtsextremen Einstellungen zurückgegangen, dank moderner Sicherheitsarchitektur und professioneller Fanarbeit, Urwaldgesänge gegen schwarze Spieler sind nicht mehr zu hören, Reichskriegsflaggen nicht mehr zu sehen. Das bedeutet nicht, dass sich Einstellungen verändert haben, wie die umfangreiche Studie „Rechtsextremismus im Sport“ von 2009 belegt, geschrieben von einem wissenschaftlichen Team unter der Leitung des Hannoveraner Sportsoziologen Gunter A. Pilz. Während Rassismus und Antisemitismus auch wegen der deutschen Geschichte tabuisiert sind, flüchten sich Anhänger oft in Homophobie oder Sexismus, in Diskriminierungen, die weniger geächtet sind. Funktionäre, Medien und Spieler tragen dazu bei, dass eine gefährliche Rangliste der Schmähungen entstanden ist. Erinnert sei an einen Konflikt zwischen Gerald Asamoah und Roman Weidenfeller. Der ehemalige Schalker Stürmer hatte dem Dortmunder Torwart im August 2007 vorgeworfen, ihn als „schwarzes Schwein“ beschimpft zu haben. In der Verhandlung des Sportgerichts soll man sich auf „schwules Schwein“ geeinigt haben. Statt für sechs Spiele gesperrt zu werden, soll Weidenfeller deshalb nur drei Partien zugeschaut haben. Die Lesben- und Schwulenszene protestierte gegen dieses Urteil, fühlte sich stigmatisiert.

Dieses Buch untersucht die Auswirkungen von rechtsextremen Einstellungen auf den Fußball, vor allem auf Amateurebene. Entfremdung, sozialer Frust, verschwommene Vorurteile gegenüber Muslimen, Juden oder Sinti und Roma finden im Fußball ein Ventil. Auf dem Rasen öffnet sich dieses Ventil unter Emotionen, auf den Tribünen öffnet es sich in der Anonymität der Masse. Eine bundesweite Integrationsdebatte oder die schwelende Kritik an der Verteidigungspolitik Israels können Einfluss auf das Verhalten haben. Nicht jeder, der schlägt, brüllt, den Mittelfinger zeigt, muss ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild haben. Trotzdem ist der Fußball ein wichtiger Schlüssel für rechtsextreme Parteien, Autonome Nationalisten oder für Freie Kameradschaften, von denen es in Deutschland rund 150 geben soll. Dieses Buch beschreibt an ausgewählten Orten, wie sich die NPD den Fußball zunutze macht. Wie sie an Einstellungen, Meinungen, Aussagen von Fans und Spielern anknüpft, diese weiterentwickelt und für ihre parteipolitische Arbeit umdeutet.

Nicht überall muss wie im Umfeld von Lokomotive Leipzig der Fußball Teil einer Unterwanderungsstrategie sein, um Mitglieder und Wähler zu rekrutieren. Oft ist der Fußball für die NPD eine Bühne, auf der sich Botschaften verbreiten lassen. Gegen Polizeihundertschaften am Stadion – und damit gegen den Staat. Für eine neue Arena – und damit für die Jugend. Gegen den Kommerz in Vereinen – also gegen Globalisierung. Für heimische Talentförderung – gegen Ausländer. Immer wieder nutzen Rechtsextreme Schlagworte, die auch der Fußball nutzt: Kampfkraft, Ehre, Fairplay, Heimat, Männlichkeit. Diese Argumentation findet fernab der Stadien statt. Und außerhalb der Massenmedien, weil keine martialischen Szenen zu bestaunen sind.

Dennoch darf diese Argumentation nicht unterschätzt werden. Die NPD beteuert, in die „Mitte der Gesellschaft“ zu wollen. Also klammert sie sich an beliebte, ideologisch weniger aufgeladene Aktionsfelder – und welches Feld könnte akzeptierter sein als der Fußball? Ihre Kader beteuern, sie könnten als Ehrenämter Fußball und Politik auf dem Rasen kommunikativ trennen. Das mag sein, doch schon ihre Anwesenheit wirkt in die Gesellschaft hinein. Sie erwerben Akzeptanz, vor allem in der eigenen Szene. Sie betonen, dass auch Mitglieder der SPD oder der CDU im Fußball aktiv sind. Sie wollen nach den gleichen Maßstäben beurteilt werden, doch das würde das Demokratieverständnis schädigen. Die 6,7 Millionen Mitglieder des DFB stehen für Meinungspluralismus und Multikulturalismus – die NPD vertritt das Gegenteil. Sie hat sich für militante Neonazis geöffnet, dadurch hat sie ihre Mitgliederzahl verdreifacht, auf rund 6.600.

Dieses Buch lässt NPD-Funktionäre wie den Geschäftsführer Klaus Beier oder den Lüdenscheider Ratsherrn und Schiedsrichter Stephan Haase ausführlich zu Wort kommen; auch die Neonazis Enrico Böhm in Leipzig und Tommy Frenck in Hildburghausen schildern ihre ertragreiche Beziehung zum Fußball. Ihre Argumentationsmuster entlarven Demokratie- und Ausländerfeindlichkeit – ein Wertesystem, das Wilhelm Heitmeyer als „Ideologie der Ungleichwertigkeit“ bezeichnet. Wer ihre abstrusen Opfer- und Verschwörungstheorien wortwörtlich dokumentiert – ohne eine journalistische Einordnung und Kommentierung zu vernachlässigen –, der nimmt ihnen die demagogische und aufrührerische Kraft.

Dieses Buch begreift den Fußball als eine von vielen Landschaften einer rechten Erlebniswelt. Der Fußball darf nicht isoliert betrachtet werden von anderen Landschaften. Rechtsextreme nutzen Musik, Kleidermarken, Internet, Kunst, Symbole und Codierungen als Erkennungszeichen – und um ihre Gruppenidentität zu stärken. Alle Elemente sind verwoben. Die Bremer Rockband Kategorie C verdeutlicht dieses Netzwerk besonders. Sie besingt Fußball und Freundschaften, auf ihren Konzerten treffen unpolitische Jugendliche auf Neonazis, ihr Geschäftsfeld mit Tonträgern und Devotionalien ist lukrativ. Fahrlässig ist daher die Aussage von Funktionären, dass Rechtsextremismus ein Problem der Gesellschaft sei, der Politik und aller anderen – bloß nicht des Fußballs. Der Sport ist ein Sittengemälde, das rechtsextreme Strukturen und Strategien auch für andere Bereiche verdeutlicht.

Dieses Buch plädiert für eine politische Diskussionskultur. In einer Branche, die sich selten ihrer sozialen Verantwortung bewusst ist. In langen Interviews beschreiben Dieter Graumann, Präsident des Zentralrats der Juden, DFB-Präsident Theo Zwanziger oder die Spieler Yves Eigenrauch und Halil Altintop den Fußball als Privileg, um gesellschaftliche Debatten voranzutreiben, den Kampf gegen Antisemitismus, Islamfeindlichkeit, Homophobie. Dieses Buch bezieht Position für Prävention: im Profifußball für die Stärkung der pädagogischen Fanprojekte, im Amateurfußball für aufklärende Initiativen wie jene der Sportwissenschaftlerin Angelika Ribler. Nur mit einem breiten Wissen lassen sich kreative Bildungsangebote entwerfen, um rechtsextreme Einstellungen nicht entstehen zu lassen. Doch in der kurzsichtigen Auseinandersetzung lässt sich ein nicht gezeigter Hitlergruß noch immer schwer als Erfolg verbuchen.

Der Verfassungsschutz geht in Deutschland von 26.000 Rechtsextremen aus, sie organisieren sich immer weniger in festen Strukturen, 9.000 von ihnen gelten als gewaltbereit. Daran gemessen war es eine kleine Gruppe, die den Roten Stern Leipzig im Oktober 2009 in einen Schockzustand versetzt hat. Doch rechtes Gedankengut reicht weiter: Wenige Wochen zuvor war in Sachsen der neue Landtag gewählt worden. Die NPD hatte den Wiedereinzug ins Parlament geschafft: mit 5,6 Prozent, das sind mehr als 100.000 Wähler. Zwar hat die NPD im März 2011 den Einzug in den Landtag Sachsen-Anhalts verpasst, doch für Entwarnung ist es zu früh: Von den Männern zwischen 18 und 24 Jahren gaben der Partei laut dem Umfrageinstitut Infratest dimap 18 Prozent ihre Stimme. Nicht sichtbar, nicht hörbar, aber deutlich spürbar.

image

Wohnzimmer Plache-Stadion: Im Dezember 2003 beleben 13 Gründungsmitglieder den Traditionsverein 1. FC Lok Leipzig neu, der 1987 im Europacup-Finale der Pokalsieger stand.

Stimmenfang am Stadion

Neonazis unterwandern die Fanszene des 1. FC Lokomotive Leipzig, rekrutieren dort Mitglieder und schöpfen Wählerstimmen für die NPD. Ein Hausverbot hält sie nicht ab – im Internet und per SMS organisieren sie sich ohnehin viel effizienter. Trägt dieses Klima dazu bei, dass sich rechtsextreme Einstellungen der Anhänger in Gewalt entladen?

Als Holger Apfel am Abend des 30. August 2009 durch die überfüllten Flure des Dresdner Landtages eilt, ist da immer ein Mann, der ihm eine Schneise durch die Menschen öffnet. Der schiebt und drückt und drängt. Entschlossen und mit ernstem Blick. Apfel ist Chef der sächsischen NPD, er freut sich an jenem Sonntag über den Wiedereinzug seiner Partei ins Parlament des Freistaates – nie zuvor war das einer NPD-Fraktion in Deutschland gelungen. 5,6 Prozent der Wähler haben den Rechtsextremen an diesem 30. August ihre Stimme gegeben. Nun baut sich Apfel vor immer neuen Fernsehkameras auf. Währenddessen wartet Marco Remmler, der Leibwächter, hinter einer Absperrung, breitbeinig, die Schultern nach vorn geschoben, die Hände vor dem schwarzen Sakko gefaltet. Nach jedem Interview muss Remmler für seinen Boss eine Schneise schlagen. Schneisen schlagen, das ist Remmlers Aufgabe, in der Politik, im Fußballmilieu. Doch eigentlich sind Politik und Fußball in Sachsen nicht mehr voneinander zu trennen. Vor allem in Leipzig.

Die NPD hat in Sachsen ihr größtes Stammwählerpotenzial, das hat sie auch ihrem Einfluss im Fußball zu verdanken. In keinem anderen Klub ist die NPD so nah an die Fans herangerückt wie beim 1. FC Lokomotive Leipzig. Einige Anhänger erleichtern der Partei die lokale Verankerung, den angestrebten Weg zu mehr Akzeptanz. Die NPD macht sich im Umfeld des 1. FC Lok einen rechten Grundtenor zunutze, den viele Fans im heimischen Bruno-Plache-Stadion teilen. Das Stadion liegt in Probstheida, im Südosten Leipzigs. Die neu erblühte Stadtmitte ist fünf Kilometer entfernt, doch hier draußen sind die Häuser unsaniert, die Straßen voller Schlaglöcher. Immer wieder brechen Einstellungen der Fans heraus: Im Februar 2006 stellen sich Lok-Fans während eines A-Jugend-Spiels im Stadion so auf, dass ein menschliches Hakenkreuz entsteht. Auf einem Transparent steht 2002: „Wir sind Lokisten, Mörder und Faschisten“. Regelmäßig beschmieren sie Wände mit fremdenfeindlichen Parolen. Aber das sind nur die sichtbaren Zeichen einer Bewegung, die immer seltener sichtbar wird. Doch wie genau verwandelt die NPD diese Ausbrüche in ein politisch messbares Ergebnis? Wie gewinnt sie aus dem diffusen Weltbild junger Fans, das sich oft in Diskriminierungen und Aggressionen erschöpft, ihre Wählerstimmen? Und wie rekrutiert sie im Fußball Nachwuchs für die Partei? In Leipzig lassen sich Antworten auf diese Fragen finden.

Der Reihe nach: Lokomotive Leipzig, Nachfolger des VfB Leipzig, des ersten Deutschen Meisters von 1903, zählt zu den erfolgreichsten Vereinen der DDR, steht 1987 im Finale des Europacups der Pokalsieger. Im Jahr 2003 geht der Klub zum zweiten Mal pleite – ihm droht die Abwicklung. Fans wollen den Verein wiederbeleben, in der elften Liga, ganz unten. Am 10. Dezember gründen 13 Mitglieder in der Leipziger Kneipe „Treibhaus“ den neuen 1. FC Lok. Den Vereinsvorsitz übernimmt der gelernte Koch Steffen Kubald, der lange als Fanbeauftragter tätig war. Ebenfalls am Tisch: der Maler und Lackierer Marco Remmler, der seinen wahren Namen nicht veröffentlicht sehen will. Kubald und Remmler waren früher Hooligans, sie haben sich für ihren Klub geprügelt. Dass Remmler in der rechtsextremen Szene unterwegs ist, scheint niemanden im „Treibhaus“ zu interessieren. Manche teilen seine Ansichten. Sie brauchen jede helfende Hand. Auf Politik wollen sie keine Rücksicht nehmen.

Marco Remmler, geboren 1977, will erfolgreichen Fußball sehen, doch er hat noch ein anderes Ziel: Er will ein Stadion ohne farbige Nachwuchsspieler, ohne Andersdenkende, ohne Homosexuelle. Lok soll ein „nationaler Familienverein werden“. An Spieltagen klemmt er einschlägige Flugblätter hinter die Scheibenwischer der Autos. Hilft beim Verkauf von Fanutensilien. Schwärmt von einem der meistverkauften Artikel: einem dunkelblauen T-Shirt, verziert mit dem Wappen von Lok, darauf der Reichsadler, umrahmt von altdeutscher Schrift: „Wir sind die Größten der Welt!“ An Wochenenden trifft Remmler Kinder und Jugendliche, die sich für den Fußballverein begeistern. Sie sehen Remmlers trainierte Schultern, seinen rasierten Schädel, seine Tätowierungen. Im Stadion kursieren Geschichten aus seiner Vergangenheit, Schlägereien mit gegnerischen Fans und Polizisten. Die Jungen schauen zu ihm auf. Remmler beschreibt seine Bewegung mit Worten, die den Jungs gefallen: unangepasst, rebellisch, heldenhaft.

image

Oben: Agitation mit Breitenwirkung: Marco Remmler ist Grün dungsmitglied von Lok und seit 2006 Mitarbeiter der NPD

image

Rechts: Begehrtes Kleidungsstück: Marco Remmler schwärmt von einem dunkelblauen T-Shirt, verziert mit dem Wappen von Lok, darauf der Reichsadler, umrahmt von altdeutscher „Wir sind die Größten der Welt!“

Lange darf der Neonazi Remmler schalten und walten. Das ändert sich mit dem sportlichen Erfolg. Lok spielt besser, als viele erwarten, stürmt von Aufstieg zu Aufstieg, vor tausenden Zuschauern. Damit steigt der Druck auf den Präsidenten Steffen Kubald, sich von rechtsextremen Anhängern zu distanzieren. Die Trennung von Remmler gipfelt im Februar 2007 in einem Hausverbot. „Eigentlich wollte ich niemanden aus der Familie ausschließen. Ich dachte, die kriegen sich alle wieder ein. Irgendwann“, sagt Kubald drei Jahre später, „doch das war falsch. Manche haben mir ins Gesicht gelächelt und hinter meinem Rücken über mich gelacht.“ Drei Jahre lang, seit der Wiedergründung 2003, hat Kubald alle reingelassen, die mitmachen wollten. Er brauchte die Eintrittsgelder, die Mitgliedsbeiträge. Ob er die verlorene Zeit aufholen kann?

Steffen Kubald, geboren 1962, wirkt wie aus einem Feld geschlagen, er hat Hände wie Schaufeln. Lange arbeitet er, morgens vier Stunden als Abteilungsleiter einer Gebäudereinigungsfirma, danach ist er bis zum späten Abend im Verein – ehrenamtlich. „Es gibt Fans im Stadion, die ihre Gesinnung verbergen“, sagt er, „aber ich kann am Eingang nicht jedes Parteibuch kontrollieren.“ Es gehört zu seinem Alltag, sich von Personen zu distanzieren, zu denen er keinen Kontakt pflegt. Zum Beispiel von der NPD, die im sächsischen Landtag über Sicherheit im Fußball diskutieren will, auf dem Rücken von Lok. Doch manchmal erzeugen Kubalds Worte auch Kritik und Ratlosigkeit. So wie im ARD-Magazin Kontraste, das am 8. März 2007 Antisemitismus unter Leipziger Fans thematisiert, zum Beispiele Gesänge wie „Juden Aue“. Kubald sagt in die Kamera: „Und hier muss ich auch sagen: Es gab schon zu DDR-Zeiten solche Sprüche, und ich denke schon, dass einige, die bisschen älter sind schon, das auch kennen.“

image

„Es gibt Fans im Stadion, die ihre Gesinnung verbergen, aber ich kann nicht jedes Parteibuch kontrollieren.“ Steffen Kubald, Lok-Chef von 2003 bis 2011.

Kubald würde lieber von der harmlosen Mehrheit sprechen, aber er wird nach der radikalen Minderheit gefragt. Ständig muss er Journalisten erklären, warum die Rechten sich seinen Verein ausgesucht haben. Einen Klub, der am Boden war, eine leichte Beute. Kubald spricht von 300 Mädchen und Jungen in seinem Verein. Aus 13 Nationen, wie er betont. Einigen hilft er, eine Lehrstelle zu finden, andere begleitet er bei Behördengängen. Dutzende Fans helfen bei der Sanierung des Stadions, schaufeln Sand, schleppen Steine, mähen Rasen. Sie bekommen bei Kubald ein Mittagessen, aber keinen Cent. „Wir holen die Kinder von der Straße“, sagt Kubald. Viele Stunden spricht er mit Sponsoren, um die Finanzierung zu sichern. Sponsoren mögen keine Nazi-Schlagzeilen. Nazi-Schlagzeilen können alles zunichte machen. Die bekommt Kubald mit keinem Behördengang mehr aus der Welt.

Steffen Kubald und Marco Remmler haben sich nichts mehr zu sagen. Remmler teilt die Menschen, die ihm begegnen, in Patrioten und Feinde ein. Während eines Interviews trägt er ein braunes T-Shirt, bedruckt mit dem Schriftzug „Königstiger“. Es ist der Name eines Panzers aus dem Zweiten Weltkrieg. Remmler schimpft auf den Staat, die Kapitalisten, die Ausländer, er scheint sich von allen verfolgt zu fühlen. Seit 2006 ist Remmler Mitarbeiter der sächsischen Landtagsfraktion der NPD, arbeitet als Leibwächter und Chauffeur der Abgeordneten – und soll, wie jeder Mitarbeiter, Parteimitglieder gewinnen. Dafür nutzt er weiter den Fußball, ohne ins Stadion zu dürfen: Am 17. August 2007, wenige Monate nachdem Remmler im Stadion Hausverbot erhalten hat, geht er mit dem rechtsextremen Aktivisten Henrik Ostendorf auf Deutschland-Tour. Sie steuern einen weißen Laster, auf dem ein großes Bild von Rudolf Heß prangt, daneben die Botschaft: „Mord verjährt nicht“. So begehen sie den 20. Todestag von Hitlers Stellvertreter. In Leipzig halten sie vor dem Völkerschlachtdenkmal und dem Bruno-Plache-Stadion. Sie stellen Fotos auf eine Internetseite und schildern ihren Weg in einem Video, unterlegt mit pathetischer Musik. Medien greifen die Aktion auf. Als gegen Remmler ein Ordnungswidrigkeitsverfahren eingeleitet wird, verklären ihn Neonazis zum Märtyrer. Im Internetforum Altermedia ruft jemand zu Spenden für ihn auf. Klubchef Kubald führt dutzende Telefonate, um sich von seinem einstigen Mitstreiter zu distanzieren. Remmler und Ostendorf werden später freigesprochen.

image

Gedenken für Hitlers Stellvertreter: Im August 2007 begehen Marco Remmler und der rechtsextreme Aktivist Henrik Ostendorf den 20. Todestag von Rudolf Heß, sie posieren vor dem Plache-Stadion und instrumentalisieren den 1. FC Lok für ihre Propaganda.

NPD-Treffen im Fanprojekt?

Es ist ein Vorstoß nach dem Geschmack von Enrico Böhm. Im Bruno-Plache-Stadion grölt er versteckt in der Masse seit Langem fremdenfeindliche Parolen. Nach der Neugründung des Vereins meldet er sich 2004 als ehrenamtlicher Helfer an, er erhält eine der ersten Mitgliedsnummern: die 101. Schleppt Bierfässer ins Stadion, beseitigt Unkraut, hilft beim Aufbau des Internetradios Lokruf. Böhm genießt Privilegien, darf Interviews mit Ehrengästen führen, mit Rekordnationsspieler Lothar Matthäus oder Trainer Udo Lattek. Böhm trifft sich mit Spielern. Er könnte es bei Lok zu etwas bringen. Wenn er sich an die Regeln hielte.

Böhm ist 24, als er Remmler kennenlernt. Böhm hat seine Lehre als Kfz-Mechatroniker abgeschlossen, trotz großer Probleme mit seinem Chef. Familiäre Schwierigkeiten kommen hinzu. In wenigen Monaten verliert er mehr als 30 Kilo. Böhm steckt in einer Krise, sucht Ablenkung und Arbeit – in beiden Fällen kann Remmler ihm helfen. Remmler geht mit Böhm Bier trinken, besorgt ihm Gelegenheitsjobs, lädt ihn zu Konzerten ein, wo Bands wie Endstufe spielen. Er empfiehlt ihm Vorträge von Kriegsveteranen, auch von dem einstigen Gefängniswärter von Rudolf Heß, dem Tunesier Abdallah Melaouhi, der die These vertritt, dass Heß 1987 im Kriegsverbrechergefängnis Spandau nicht Selbstmord begangen habe, sondern durch den englischen Geheimdienst ermordet worden sei.

Langsam führt Marco Remmler Enrico Böhm, geboren 1982, aus dem Fanblock in die Politik, aus dem unorganisierten Spektrum hin zu den Strukturen der NPD. Remmler lässt seine einnehmende Art wirken. Mit den immergleichen Leitmotiven: Kameradschaft, Identifikation, Loyalität. Den Verein nutzt Remmler als Bindeglied, als gemeinsamen Nenner. „Ich habe Zugehörigkeit gefunden, die ich woanders nicht bekommen konnte“, sagt Böhm. „In der Gruppe fühle ich mich immer etwas größer.“ Es sind einfache Antworten auf eine komplexe Frage: Wie mutiert eine gemäßigte Einstellung zu einer radikalen Haltung? Überzeugt von sich wie der Eiferer Remmler wirkt Böhm nicht. Er ist ein unauffälliger Typ, blass. Er redet viel, aber wenig selbstsicher: „Wer weiß, was ohne Fußball aus mir geworden wäre?“

Remmler darf nicht mehr ins Stadion, nun wird Enrico Böhm im Umfeld von Lok aktiv. Er tritt einem Fanklub bei: den 2006 gegründeten Blue Caps, die aus einem Freundeskreis im Osten Leipzigs entstanden sind. Die Blue Caps unterscheiden sich nicht von anderen hartgesottenen Ultra-Gruppen im Stadion. Sie unterstützen ihre Mannschaft mit Gesängen, Spruchbändern, Choreografien. Sie provozieren, prügeln sich, zünden verbotene Knallkörper. Für Agitation mit Breitenwirkung fehlt ihnen die Organisation. Noch.

image

„Ich habe Zugehörigkeit gefunden, die ich woanders nicht bekommen konnte. In der Gruppe fühle ich mich immer etwas größer.“ Enrico Böhm, treibende Kraft der Lok-Ultras Blue Caps und NPD-Stadtratskandidat 2009.

Im Stadion stehen die Blue Caps unter Beobachtung der Vereinsführung. Nicht aber im Leipziger Fanprojekt, das eigentlich rechtsextremen Tendenzen im Fußball entgegenwirken soll. Die sozialpädagogische Einrichtung liegt im Stadtteil Stötteritz, in einer ehemaligen Firmenkantine mit vergitterten Fenstern, umwuchert von Unkraut. Am 19. November 2007 ruft Böhm im Internetforum des Vereins unter seinem Tarnnamen „Gegengerade“ zu einem Arbeitseinsatz und einer Spendenaktion auf. Geld, Möbel, Baumaterialien werden für das Fanprojekt bereitgestellt. 30 Fans helfen bei der Sanierung, darunter die rechten Blue Caps. Sie putzen, streichen Wände, schaufeln Gräben für die Stromkabel.

Böhm und seine Mitstreiter haben ihren Ort gefunden. Sie dürfen im Fanprojekt einen Raum gestalten, pinseln das Bild eines Faustkampfes an die Wand, auch das Logo des italienischen Spitzenklubs Lazio Rom, zu dem die Buchstabenkombination SS gehört: Società Sportiva. „Das SS hat uns gut in den Kram gepasst“, sagt Böhm. Die Blue Caps trainieren an Fitnessgeräten, spielen Billard, veranstalten Videoabende. Am 1. Februar 2008, sagt Böhm, habe er im Fanprojekt ein Treffen von 20 Rechtsextremen organisiert, darunter NPD-Funktionäre. Auch Marco Remmler ist einmal Gast des Hauses, liefert Jugendlichen auf Bestellung rechtsextreme Literatur – im Rahmen eines Präventionsprojekts, das öffentlich gefördert wird. Die Stadt Leipzig zahlt dafür 83.160 Euro im Jahr 2008. Den Rest, 41.580 Euro, übernimmt der DFB.

In Leipzig hatten sich die Verantwortlichen darauf geeinigt, rechtsextremen Jugendlichen eine pädagogische Betreuung zu verweigern. Ende der neunziger Jahre war ein Jugendhaus im Stadtteil Grünau von Neonazis unterwandert worden. Fast 50 Fanprojekte existieren in Deutschland, einige betreiben sogenannte akzeptierende Sozialarbeit, Integration statt Ausgrenzung – auch von Rechtsextremen. Die Pädagogen haben einen schwierigen Auftrag: Sie müssen Nähe suchen und zugleich Distanz wahren. Wer ist Verführer in der rechtsextremen Szene? Und wer Verführter? Doch wie weit soll diese Betreuung gehen? Wie weit darf sie dem Übel entgegenkommen? Bis hin zu Hinweisen auf die SS?

Udo Ueberschär, Leiter des Fanprojekts, hat darauf keine einfache Antwort. Er bestreitet, dass es zu einem Treffen von Rechtsextremen gekommen sei. In seinem ersten Leben als Pädagoge hatte er straffälligen Jugendlichen während ihrer Resozialisierung geholfen, seit 2000 betreut er Fußballfans. Bei Lok habe er nicht bei null angefangen, sagt er, sondern bei minus hundert. Lange war er auch für die Fans des FC Sachsen verantwortlich, er bewegte sich in einem Spannungsfeld zwischen unversöhnlichen Rivalen. Die große Mehrheit der Lok-Fans, die er unterstützt, sei ausschließlich an Fußball interessiert. Aber er spricht auch von den Wurzellosen, die für rechtes Gedankengut empfänglich seien. Ueberschär glaubt, wer verführt wird, könne zurückgeholt werden: „Einige Jungs werden zu Strohmännern und wissen nicht, dass sie verbrannt werden. Wir versuchen, ihnen ihre Zukunft aufzuzeigen, wir wollen sie mit Fußball für positive Ideen begeistern.“ Doch das ist nicht so einfach, einige seiner Stammgäste können sich nicht mal eine Monatskarte für die Straßenbahn leisten. „Da sind welche dabei, die politisch nie auffällig geworden sind. Aber weil sie Geld brauchen, lassen sie sich zu Dummheiten hinreißen, die sie später bereuen.“ Ueberschär ist ein Mann von mächtiger Statur, er spricht leise. Er beobachtet seine Klientel mit Empathie, will ihr Chancen eröffnen. Doch manchmal muss er die Notbremse ziehen.

Im Fall Enrico Böhm dauert es bis September 2008, ehe er im Fanprojekt zur unerwünschten Person erklärt wird. Böhm macht sich fortan immer wieder lustig über die Mitarbeiter des Projekts. Vor allem auf der Internetseite der Blue Caps, auf der er bunte Fankurvenfotos mit Propaganda mischt. Unter der Überschrift „Reizwort Böhm“ schreibt er über die frühere Beziehung zu den Sozialarbeitern: „Das Verhältnis war sehr gut und fast familiär. Man konnte tragen, was man wollte, und trank reichlich Alkohol mit dem Sozialarbeiter. Auch war es kein Problem, ein Treffen mit Vertretern der Nationalen Szene im Fanprojekt abzuhalten, natürlich gegen zwei Flaschen Goldkrone. Des Weiteren sagte keiner etwas, als man Bücher vom Mord am ehemaligen Reichsminister Rudolf Heß im Fanprojekt verkaufte.“ Das Fanprojekt stellt bald darauf Strafanzeige gegen Böhm und beschuldigt ihn der üblen Nachrede, Wochen später wird das Verfahren eingestellt.

image

Braune Choreografie: Während eines A-Jugend-Spiels formieren sich Fans von Lok Leipzig im Februar 2006 zu einem Hakenkreuz.

image

Provokation in der Kurve: Lok-Fans bekennen 2002 auf einem Transparent „Wir sind Lokisten – Mörder und Faschisten“.

Wo man in Leipzig auch fragt, beim verantwortlichen Jugendamt, beim Sportbürgermeister der Stadt: Rundum zufrieden scheinen mit dem Fanprojekt nur wenige zu sein. Daher begibt man sich auf die Suche nach einem neuen Träger, der das Projekt modernisieren soll. Aber auch der wird beim Kampf gegen die Neonazis in derselben Klemme stecken wie Vereinschef Steffen Kubald: Ruft er zu laut nach Hilfe, gilt er als überfordert. Benennt er offen den Ernst der Lage, gefährdet er womöglich die Existenz des Klubs. Greift er zu hart durch, verliert er viele Anhänger – und damit Geld, das der Verein zum Leben braucht.

Balancieren im Internet

Wie viel freier können da die Rechtsextremen agieren: Nach seinem Rauswurf aus dem Fanprojekt widmet sich Enrico Böhm dem Internet. Im Oktober 2008 ruft er in seinem Portal zu einer Demonstration der Jungen Nationaldemokraten auf, der Jugendorganisation der NPD. Motto: „Unser Volk stirbt! Volkstod aufhalten!“ Forderung: „Todesstrafe für Kinderschänder“. Kurz zuvor war in der Umgebung von Leipzig die geschändete Leiche der acht Jahre alten Michelle gefunden worden. Böhm wiederholt seinen Aufruf, meldet selbst eine Demonstration an, wirbt für ein Konzert der Rockgruppe Kategorie C, beliebt bei Hooligans und Neonazis. Böhm baut die Plattform aus. Er bittet um eine Probeabstimmung, fast 80 Prozent seiner Gäste im Forum würden NPD wählen. Zeitweilig ist auf seiner Seite das Bild eines Freundes zu sehen, der den Hitlergruß zeigt. Die Klickzahlen steigen von 120 auf über 1.000 pro Tag. Immer wieder gehen Beschwerden ein, mehrfach muss er den Internetanbieter wechseln.

Im selben Monat möchte Böhm auf der Vereinshomepage für eine rechte Demonstration werben. Vereinsboss Kubald lehnt ab – und nutzt die Gelegenheit, die Blue Caps im Stadion zu verbieten. Wer sich auf dem Vereinsgelände zu der Gruppe bekennt, durch Symbole oder Kleidung, wird rausgeworfen. Nur als Einzelpersonen sind die Mitglieder weiter willkommen. Bei Böhm ist Kubald konsequent: Er darf das Stadion nicht mehr betreten. Böhm orientiert sich stärker an der NPD. Die sächsische Landtagsfraktion hat ihm im September 2008 einen Posten als Mitarbeiter angeboten, als Partner seines Kumpels Marco Remmler. Böhm wertet das als Prämie für seine Leistungen. Als Karrieresprung.

Böhm lebt nun von der NPD, eine seiner Aufgaben ist die Rekrutierung von Nachwuchs. Er verschickt Handyvideos an Jugendliche, darin sind Szenen aus dem Stadion zu sehen, aggressive Fans, Polizisten oder Leuchtkugeln, die sich in Häuserfassaden fressen. Spektakuläre Bilder für den ersten Kontakt. An manchen Tagen sitzt er stundenlang vor seinem Computer, fahndet nach neuen Kräften. Im Fanforum des Vereins ist er anonym unterwegs und sucht Diskutanten, von denen er hofft, sie könnten seine Ansichten teilen. Zunächst, auf der öffentlichen Ebene des Forums, belässt er es bei belanglosen Beiträgen. Auf der zweiten Ebene, den persönlichen Nachrichten unter Mitgliedern, verschärft er den Ton. Nach einem Small Talk, einem Witz über den Teamkapitän oder einem Ausblick auf das nächste Spiel, versteckt er Hetze in seichten Formulierungen, balanciert an der Grenze zur strafrechtlichen Relevanz. Farbige sind bei ihm „maximal pigmentierte Ortsunkundige“. Über einen jüdischen Spieler schreibt Böhm: „Personen mit langen Nasen sind unerwünscht.“ Einmal entdeckt ihn der Betreiber des Forums und löscht seinen Zugang – Böhm meldet sich mit einem neuen Namen wieder an. Und er weicht in die sozialen Netzwerke aus. Bei StudiVZ und Facebook haben die Blue Caps ihre eigene Diskussionsgruppe – aus Datenschutzgründen dürfen die Unternehmen nur bei einem begründeten Verdacht Nachrichten einsehen.

image

Aufruf im Netz: Enrico Böhm wirbt auf seiner Internetseite für rechtsextreme Demonstrationen.

Am liebsten mag es Böhm, wenn er nicht suchen muss, sondern gefunden wird. Wie im Fall des jungen Tobias Zilke, der in Wahrheit anders heißt. Auch Zilke ist Fan von Lokomotive Leipzig, er hat unzählige Heimspiele besucht. Zilke ist ein schmächtiger Junge, trägt eine Brille, in seinem Gesicht wuchert Akne. Er sagt, seine Mutter habe vier Kinder allein groß gezogen, das müsse man erstmal schaffen. Im Frühjahr 2008 schreibt er Böhm in einem Fanforum zum ersten Mal an, er ist beeindruckt von den Blue Caps, er möchte zu ihnen gehören. Fast täglich schicken sich Böhm und Zilke in jener Zeit Nachrichten. Hat Zilke Potenzial für die Partei? Kann man ihn zum Wahlkämpfer ausbilden? Hin und wieder sendet Böhm ihm persönliche Fotos, auch von seinem neugeborenen Sohn. Das schafft Vertrauen. Böhm besorgt ihm Musik von rechtsextremen Bands, die in keinem CD-Laden angeboten wird, Bands wie Landser, Blitzkrieg, Zillertaler Türkenjäger. Die Liedtexte hätten ihm „die Augen geöffnet“, sagt Zilke. Er trägt ein T-Shirt in Schwarz-Weiß-Rot, den Farben der Reichskriegsflagge, darauf die Zeile: „So sind wir!“ Zilke sagt: „Die Deutschen haben ein gestörtes Nationalbewusstsein. Bei Lok darf ich stolz sein.“

Bei den Wahlen 3,7 Prozent

Zilke passt sich Böhmes Weltsicht an, hat schnell die Arbeitslosenquote unter Leipziger Ausländern parat, er kann hundert angebliche Argumente gegen eine multikulturelle Gesellschaft aufsagen. Im Juni 2008, da ist Zilke 16, bestellt ihn Böhme auf den Lindenauer Markt, einen belebten Kiez am westlichen Rand des Leipziger Stadtzentrums. Sie gehen gemeinsam in die Odermannstraße, wo der sächsische Landtagsabgeordnete Winfried Petzold ein Büro der NPD errichten lässt. Sofort wird Zilke eingespannt, verbringt seine Ferien als Helfer auf dem Bau. Die JN, die Jungen Nationaldemokraten, nehmen ihn als loses Mitglied auf. Alle zwei Monate erhält er von seinem Gruppenführer einen Plan mit Aufgaben: Sticker verteilen, Freunde gewinnen. Zeit hat Zilke im Überfluss. In diesem Sommer hat er die Realschule abgeschlossen, Notendurchschnitt 3,2. Er sucht nach einer Lehrstelle, er will zur Bundeswehr oder sich zum Gießer ausbilden lassen, vielleicht zum Berufskraftfahrer – einen Job findet er nicht. Nun plant er ein Berufsgrundbildungsjahr, eine schulische Überbrückung für Leute ohne Job. „Er wird seinen Weg gehen“, sagt Böhm. In seiner Stimme schwingt der Stolz eines großen Bruders mit.

Anfragen aus dem Umfeld des Fußballs erhält Böhm oft. Ein 15-Jähriger, der sich Bad Boy nennt, schreibt ihm: „Ich kämpfe für mein Vaterland und will noch mehr für mein Vaterland tun.“ Ein 14-Jähriger, der keinen Namen angibt, meldet sich mit den Worten: „Ich bin Patriot.“ Er zweifelt jedoch, für die JN geeignet zu sein. Mit seinen weiten Hosen und langen Haaren, schreibt er, wirke er eher wie ein Hip-Hopper. Es sind kurze Mitteilungen, schlichte Botschaften. Puzzlestücke, die Böhm zu einem Ganzen zusammenlegen will.