Hans-Peter Nolting

Lernfall Aggression

Wie sie entsteht - wie sie zu vermindern ist. Eine Einführung

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einführung

1 Aggression – ein schillernder Begriff

1.1 Wirrwarr im Sprachgebrauch – Klarstellungen

1.2 Aggressive Verhaltensweisen, aggressive Emotionen

1.3 Aggression – Sachverhalt oder Werturteil?

2 Populäre Vorstellungen und Irrtümer

2.1 «Aggressionen haben, rauslassen, ausleben»

2.2 Weitere geläufige Vorstellungen

3 Erklärung und Verminderung: Vorschau

3.1 Was zu erklären ist: Kernfragen

3.2 Viele Aggressionsphänomene – eine Erklärung?

3.3 Aggressionsverminderung: Warum und wie?

Erklärungen I: Wichtige Einzelaspekte

4 Angeborene Grundlagen

4.1 Ein Aggressionstrieb «des» Menschen?

4.2 Wie universell ist aggressives Verhalten?

4.3 Organische Bedingungen

5 Negative Ereignisse

5.1 Der Anlass: Frustrationen, Provokationen u.a

5.2 Die Emotion: Kommt es auf den Ärger an?

5.3 Das Verhalten: von aggressiv bis konstruktiv

5.4 Aggressives Verhalten nur nach negativen Ereignissen?

5.5 Aggressivität durch «frustrationsreiches» Leben?

6 Lernen

6.1 Lernen am Modell I: Reale «Vorbilder»

6.2 Lernen am Modell II: Gewalt in den Medien

6.3 Lernen am Effekt I: Erlangen und Abwenden

6.4 Lernen am Effekt II: Emotionaler Gewinn

6.5 Kognitives Lernen: Wissen und Erkenntnisse

6.6 Signallernen: Neue Affektauslöser

6.7 Reichweite und Grenzen des Lernens

7 Interaktion

7.1 Mit im Blick: Angegriffene, Mittäter, Zuschauer

7.2 Eskalationen und Teufelskreise

7.3 Aggressives Verhalten als Kommunikation

Erklärungen II: Zusammenschau nach Kernfragen

8 Differenzierungen: Arten der Aggression

8.1 Aggression ist nicht gleich Aggression

8.2 Vergeltungs-Aggression

8.3 Abwehr-Aggression

8.4 Erlangungs-Aggression

8.5 Lust-Aggression

8.6 Individuelle versus kollektive Aggression

9 Personen: Wer zeigt aggressives Verhalten?

9.1 Alterstypische Unterschiede

9.2 Geschlechtstypische Unterschiede

9.3 Individuelle Aggressivität

9.4 Wodurch entwickelt sich hohe Aggressivität?

10 Situationen: Wann tritt aggressives Verhalten auf?

10.1 Anregende und enthemmende Faktoren

10.2 Kontext: Persönliche Beziehungen

10.3 Kontext: Kriminelle Gewalt

10.4 Kontext: Politische Gewalt

Aggressionsverminderung I: Einzelne Ansätze

11 «Aggressionen abreagieren» – geht das?

11.1 Das Bild vom Ventil und die Katharsis-Hypothese

11.2 Sport oder Gewalt gegen Ersatzobjekte

11.3 Verbales «Rauslassen», Spiele, Phantasien

11.4 Fazit: Die Befunde und der Volksglaube

12 Ansatzpunkt: Anreger

12.1 Verminderung von Provokationen, Frustrationen etc

12.2 Verminderung aggressiver Modelle und Signalreize

12.3 Positive Gegenanreger

13 Ansatzpunkt: Auffassen und Bewerten

13.1 Ent-ärgernde Denkweisen

13.2 Weniger Schuldzuschreibungen

13.3 Mehr Einfühlung

13.4 Relativierung eigener Ziele und Werte

13.5 Skepsis gegenüber aggressiven Modellen

14 Ansatzpunkt: Aggressionshemmungen

14.1 Vom Strafen und Stoppen

14.2 Einstellungen und Selbstbewertungen

14.3 Affektkontrolle

15 Ansatzpunkt: Alternatives Verhalten

15.1 Ärgerbewältigung I: allein

15.2 Ärgerbewältigung II: Aussprache

15.3 Konfliktregelung

15.4 Lernwege I: Sozialisation

15.5 Lernwege II: Verhaltenstraining

16 Ansatzpunkt: Interaktionssystem

16.1 Jenseits des Einzelnen

16.2 Die Mitwirkung von Angehörigen und Helfern

16.3 Ganze Systeme: Familien, Schulen usw

Aggressionsverminderung II: Zusammenschau nach Praxisfeldern

17 Partnerschaft

17.1 Förderliche Einstellungen

17.2 Hilfreiche Kommunikationsformen

17.3 Konfliktgespräche = Problemlösungsgespräche

18 Erziehung in der Familie

18.1 Realistische Ziele und Einschätzungen

18.2 Günstiges Erziehungsverhalten

18.3 Elterntraining

19 Schule

19.1 Hauptziel: die Schwachen schützen

19.2 Vielfalt der Vorschläge

19.3 Aussichtsreiche Schulprojekte

20 Frieden – psychologisch gesehen

20.1 Frieden als organisierte Gewaltlosigkeit

20.2 Anforderungen an das Denken und Handeln

20.3 Pädagogische Perspektiven

Literaturverzeichnis

Sachregister

Personenregister

Vorwort

Dieses Buch habe ich jetzt zum vierten Mal geschrieben. Nach der ersten Ausgabe von 1978 kam Lernfall Aggression 1987 und 1997 jeweils in gründlichen Überarbeitungen heraus, und die vorliegende Ausgabe ist abermals eine umfassende Neugestaltung.

 

Geblieben sind drei Zielsetzungen:

  • einen geordneten Überblick über die Psychologie der Aggression zu geben,

  • theoretische und praktische Fragen miteinander zu verbinden, insbesondere in Hinblick auf Möglichkeiten der Aggressionsverminderung,

  • trotz der engen Orientierung an der empirischen Forschung in einer Sprache zu schreiben, die auch für interessierte Laien verständlich ist.

 

Und was hat sich geändert?

Die Änderungen beziehen sich auf inhaltliche Akzente und auf den Aufbau des Buches.

  • In der Psychologie hat die Beschäftigung mit grundsätzlichen Fragen zur Erklärung «der» menschlichen Aggression abgenommen, die Erforschung individueller Unterschiede, besonders auch die Forschung zum Problem hoch aggressiver Menschen, hat dagegen zugenommen. Dieser Akzentverschiebung versucht vor allem das neue Kapitel 9 über Personen-Aspekte Rechnung zu tragen.

  • Weiterhin richtet sich das Interesse heute mehr auf einzelne Kontextbereiche und Praxisfelder. Dies wird berücksichtigt durch das Kapitel 10 über die Rolle von Situationsfaktoren und durch eigene Kapitel zur Aggressionsverminderung in Paarbeziehungen, in der familiären Erziehung und in der Schule sowie durch ein Kapitel zu Frieden im gesellschaftlich-politischen Kontext.

  • Selbstverständlich wurden überdies alle Kapitel aktualisiert, indem interessante Forschungsergebnisse der letzten Jahre aufgenommen wurden.

  • Was den Aufbau des Buches betrifft, so wurden die Kapitel zur Erklärung aggressiven Verhaltens doppelt gegliedert: einerseits nach theoretischen Ansätzen, andererseits nach Kernfragen, unter denen vielfältige Erklärungsaspekte integriert werden. In ähnlicher Weise wurden die Kapitel zur Aggressionsverminderung nach Ansatzpunkten und nach Praxisfeldern geteilt. Dieser Aufbau soll es erleichtern, nach persönlichem Interesse selektiv zu lesen.

  • Das Buch umfasst nunmehr 20 Kapitel (vorher 16), ist aber quantitativ nicht umfangreicher geworden. Ich habe einiges weggelassen oder gekürzt, was primär von «historischem» Interesse ist und bald ins psychologische Museum gehört, und ich habe überdies den Text selbst gestrafft.

Ich hoffe, dass das Buch eine gute Mischung aus grundsätzlichen Erörterungen und Ausführungen zu konkreten Lebensproblemen bietet und dass zugleich der einführende Charakter gewahrt ist.

 

Danksagungen: Für nützliche Literaturhinweise danke ich Dr. Marianne Gras, Enrico Weigelt und Prof. Dr. Werner Greve. Für hilfreiches Gegenlesen des Manuskriptes danke ich Prof. Dr. Franz Thurner und Alois Thomas sowie ganz besonders Anne Hermes, die in der Rolle des interessierten Laien viel zu inhaltlichen und stilistischen Verbesserungen des gesamten Manuskriptes beigetragen hat. Meiner Lektorin beim Rowohlt Taschenbuch Verlag, Frau Julia Vorrath, danke ich für die gute Betreuung und die angenehme Zusammenarbeit.

 

Göttingen, Juli 2005

H.-P. N.

Einführung

  • Aggression – ein schillernder Begriff

  • Populäre Vorstellungen und Irrtümer

  • Erklärung und Verminderung: Vorschau

1 Aggression – ein schillernder Begriff

Allein mit Erörterungen zum Begriff der Aggression könnte man ganze Bücher füllen. Ich möchte mich hier auf wenige Seiten beschränken. Diese sind jedoch notwendig, um auf typische Missverständnisse aufmerksam zu machen und um klarzustellen, was mit der «Aggression» gemeint ist, um deren Erklärung und Verminderung es geht.

1.1 Wirrwarr im Sprachgebrauch – Klarstellungen

Unter Aggression kann sich jeder etwas vorstellen. Die Frage ist nur: Stellen sich alle dasselbe vor? Folgende Äußerungen habe ich so oder ähnlich alle schon gehört und hier zu einer fiktiven Gesprächsrunde komprimiert. Verwenden die beteiligten Personen das Wort Aggression für dieselben Sachverhalte?

A: «Was für eine unglaubliche Aggression, einen Mitschüler so zu malträtieren» – Aggression als absichtliches Verletzen

B: «Aggressiv sind doch alle Menschen irgendwie. Schon kleine Kinder können richtig wütend brüllen oder aufstampfen» – Aggression als erregtes, wildes Verhalten

C: «Jeder Mensch muss ja auf die eine oder andere Weise seine Aggressionen rauslassen» – Aggression(en) als innere Impulse oder Emotionen

D: «Aggression würde ich nicht nur negativ sehen. Bei manchen Menschen äußert sie sich in gesundem Ehrgeiz oder gesunder Durchsetzung» – Aggression als aktives, offensives Verhalten oder als entsprechende Energie dafür

Der faktische Sprachgebrauch ist keineswegs einheitlich, und ohne eine begriffliche Verständigung redet man leicht aneinander vorbei. Dabei zeigen die vier Beispiele nicht einmal die ganze Vielfalt des subjektiven Begriffsverständnisses. So denken manche Menschen nur an «massives» Verhalten wie körperliche Gewalt, Beschimpfungen und Zerstörungen, andere denken hingegen auch an subtile Formen wie Missachtung oder Ausgrenzung. Für manche gehört zur Aggression eine affektive Erregung (Ärger, Wut), während andere gerade eine kühl berechnete Attacke als besonders aggressiv empfinden. Viele Menschen sprechen nur von Aggression, wenn sie die Handlung inakzeptabel finden; selbst Waffengebrauch ist dann keine Aggression, wenn er der Verteidigung dient. Andere sprechen gar schon von «aggressiver» Werbung, «aggressiver» Musik und dergleichen.

Trotz dieser Unterschiede scheint es jedoch auch einen gemeinsamen Kern im Aggressionsverständnis der meisten Menschen zu geben. Er umfasst drei Merkmale: (1) Schaden, (2) Intention und (3) Normabweichung (Mummendey et al. 1982). Vorfälle wie die Malträtierung des Mitschülers würde also jeder als Aggression bezeichnen, auch wenn das Begriffsverständnis in anderen Punkten differieren sollte. Die ersten beiden Bestimmungsmerkmale, Schaden und Intention, sind auch typisch für Definitionen in der Psychologie, das dritte, die Normabweichung, hingegen ist es nicht (hierzu S. 24).

 

«Schädigen» – «Wehtun»

Auch die Wissenschaft kann nicht sagen, was Aggression ist, sondern nur, welche Sachverhalte unter diesem Wort zusammenfasst werden sollten, um sie von anderen Sachverhalten sinnvoll abzugrenzen und eine klare Verständigung zu erleichtern.

Typische Definitionen in der Psychologie bestimmen Aggression im Kern als ein auf Schädigung gerichtetes Verhalten (nicht als Emotion), auch wenn sie sich im Detail unterscheiden. Beispiele: «Aggression umfasst jene Verhaltensweisen, mit denen die direkte oder indirekte Schädigung eines Individuum, meist eines Artgenossen, intendiert wird» (Merz 1965, S. 571). Oder «Aggression besteht in einem gegen den Organismus oder ein Organismussurrogat gerichteten Austeilen schädigender Reize» (Selg et al. 1997, S. 14). In beiden Definitionen steckt das Wort «schädigen», in anderen ist stattdessen von «verletzen» die Rede. Fürntratt (1974, S. 283) nennt Verhaltensweisen, die andere zielgerichtet «in Angst versetzen», ebenfalls aggressiv und spricht damit eine psychische Beeinträchtigung an. Da psychische Wirkungen mit dem Wort «schädigen» nicht so gut ausgedrückt werden, spreche ich auch von «wehtun». Man zeigt z. B. jemandem die «kalte Schulter», um ihm wehzutun, nicht eigentlich zu schädigen (s. Tafel 1).

Das Spektrum der Verhaltensweisen, die nach Definitionen dieser Art aggressiv zu nennen wären, ist potenziell riesengroß. (Der nächste Kapitelabschnitt wird sie systematisieren.) Zugleich bleiben Verhaltensweisen aber ausgeschlossen, die zu einem sehr weiten Aggressionsbegriff gehören, nämlich alle möglichen Formen des «In-Angriff-Nehmens» und des offensiven Handelns: selbstbewusstes Auftreten, Wetteifern, ehrgeiziges Arbeiten, zupackendes Helfen usw. – also Handlungen, die mit Schädigen oder Wehtun wenig zu tun haben, ja teilweise mit dem Gegenteil. Ein solch weites, unspezifisches Aggressionsverständnis wurde zwar auch von einigen Autoren vertreten (z. B. Mitscherlich 1969, Hacker 1971), hat sich in der Psychologie aber nicht durchgesetzt – und zwar aus gutem Grund: In der weiten Fassung ist der Begriff «Aggression» unbrauchbar und überflüssig, denn er meint im Kern dasselbe wie «Aktivität». Tatkraft und Destruktion werden in einen Topf geworfen, und man kann sich verhalten, wie man will, man ist praktisch immer aggressiv. Bei einer solchen Definition bleibt mithin reichlich verschwommen, welche Phänomene man eigentlich erklären oder auch vermindern möchte.

 

Tafel 1: Aggression und einige verwandte Begriffe

  • Aggression: Verhalten, das darauf gerichtet ist, andere Individuen zu schädigen oder ihnen wehzutun

  • Aggressivität: Individuelle Ausprägung der Häufigkeit und Intensität aggressiven Verhaltens («Eigenschaft» einer Person)

  • Gewalt: Schwerwiegende Formen aggressiven Verhaltens

  • Mobbing: Aggressive Handlungen gegen eine schwächere Person über einen längeren Zeitraum (gewöhnlich im Kontext des Arbeitsplatzes)

Neben der Aggression gibt es noch den Begriff der Aggressivität. Auch hier ist der Sprachgebrauch nicht ganz einheitlich. In der Psychologie meint er meistens die individuelle Disposition zu aggressivem Verhalten, die Ausprägung dieser «Eigenschaft», die sich in der Häufigkeit und Intensität aggressiven Verhaltens manifestiert («Karl ist aggressiver als Franz»).

Als Gewalt werden gewöhnlich nur schwerwiegende Formen der Aggression bezeichnet, leichtere hingegen nicht (z. B. Anschnauzen, böse Blicke). Üblich ist es, körperliche Angriffe als Gewalt zu bezeichnen, doch zunehmend ist in der Alltagssprache und manchen Publikationen auch von «verbaler Gewalt» oder «psychischer Gewalt» die Rede. Das macht einen gewissen Sinn, solange man damit auf eine «schwerwiegende» Wirkung hinweisen möchte (z. B. bei einer seelischen Misshandlung). Nicht für sinnvoll halte ich es aber, alles als Gewalt zu bezeichnen, was man heftig verurteilt. Das führt zu einem inflationären Gebrauch und erleichtert nicht gerade die Verständigung über die Sache. (Zu Aggression und Gewalt als Werturteil s. S. 24 ff.).

Während Gewalt nach dieser Eingrenzung ein engerer Begriff ist als Aggression, gibt es noch den oft zitierten Begriff der «strukturellen» oder «indirekten» Gewalt (Galtung 1975). Er meint die «stille» Schädigung durch ein ungerechtes Gesellschaftssystem: Menschen gehen zugrunde, weil ihnen der Zugang zu Nahrung, zu medizinischer Versorgung etc. versperrt ist. Da hier die Schädigung nicht direkt durch verletzendes Handeln herbeigeführt wird (wiewohl es «Verantwortliche» geben kann), sollte die strukturelle Gewalt nicht zur Aggression gerechnet werden.

Eine spezielle Variante aggressiven Verhaltens ist das Mobbing. Der Begriff ist mittlerweile auch einer breiten Öffentlichkeit geläufig und meint Handlungen, die sich wiederholt und über einen längeren Zeitraum gegen eine bestimmte Person richten, wobei die «Mobber» dem Opfer an Macht überlegen sind (vgl. Esser 2003). Ursprünglich waren nur kollektive Handlungen mehrerer Personen gemeint («Mob»), inzwischen hat sich die Bedeutung ausgeweitet. Von Mobbing spricht man vor allem in der Arbeitswelt, aber auch hier gibt es inzwischen eine Ausweitung auf andere Lebensbereiche, z. B. die Schule. In der psychologischen Fachliteratur wird für den Bereich der Schule gewöhnlich der Begriff des Bullying bevorzugt (z. B. Scheithauer et al. 2003); er hat aber eine ähnliche Bedeutung wie Mobbing.

 

«Intendiert» – «gerichtet»

Als Aggression wird gewöhnlich nicht einfach das Schädigen, Wehtun usw. definiert, sondern das «intendierte», «zielgerichtete» oder wenigstens «gerichtete» Schädigen. Die Schmerzzufügung beim Arzt, der versehentliche Tritt gegen das Schienbein und ähnliche Falle sollen damit ausgeklammert bleiben. Ein Problem liegt darin, dass die Intention oftmals fraglich ist, zuweilen sogar bei massiver Gewaltausübung (z. B. im Zustand der «Unzurechnungsfähigkeit»). Eher wahrnehmbar und eindeutiger ist da in vielen Fällen das Merkmal der «Gerichtetheit» des Verhaltens (Definition von Selg, s.o.). Bei einer versteckten Aggressionsform wie der Verleumdung ist die Gerichtetheit allerdings schwer zu beobachten, die Rufschädigung dennoch klar beabsichtigt.

Ob Intention oder Gerichtetheit, die Entwicklung kleiner Kinder macht deutlich, wann ein Verhalten zur «echten» Aggression wird. In den ersten zwei Lebensjahren ist das Schreien, Schlagen, Zerren, Treten usw. ein ungezielter Affektausdruck. Das heftige Verhalten richtet sich auf die Aneignung eines Objektes (z. B. eines Spielzeuges) und nicht gegen eine Person. Es ist auch unwahrscheinlich, dass das Kind eine schädigende Wirkung seines Verhalten erkennt und beabsichtigt. Insofern ist es voraggressives Verhalten. Als Unterscheidungskriterium kann nach Selg et al. (1997; angeregt durch Blurton-Jones) der Blick des Kindes dienlich sein: Schaut es kurz vor oder während des Verhaltens die angegriffene Person an? Ein deutliches Fixieren, so Selg, tritt etwa am Ende des zweiten Lebensjahres auf und spricht für Gerichtetheit. Aber der Übergang ist fließend.

Auch wenn nicht immer klar zu erkennen ist, welche Absicht hinter einem Verhalten steckt – im Alltag oder vor Gericht wird gerade danach gefragt. Wie wesentlich die Intention ist, sehen wir daran, dass selbst dann von «Aggression» gesprochen wird, wenn gar kein Schaden eingetreten ist, er aber beabsichtigt war (z. B. wenn der Schuss danebenging). Nehmen wir den Fall, dass eine Frau über ihre Nachbarin verbreitet, sie sei Alkoholikerin, obwohl dies nicht stimmt. Hier wird man wissen wollen, ob die Frau ihre Nachbarin herabsetzen wollte oder sich lediglich geirrt hat, um zu entscheiden, ob es sich um aggressives Verhalten handelt oder nicht.

Wie ist es nun aber, wenn die Schädigung gar nicht das «eigentliche» Ziel des Verhaltens ist, z. B. wenn Eltern ihr Kind schlagen, um es «zur Vernunft zu bringen»? Auch dies muss als Aggression gelten, da die Erzeugung von unangenehmen Empfindungen (das «Wehtun») beabsichtigt ist, wenn auch «nur» als Mittel zum Zweck. Dasselbe gilt, wenn Polizisten einen Verbrecher jagen oder wenn jemand in Notwehr zuschlägt. Würde durch einen «positiven Zweck» eine Handlung ihren aggressiven Charakter verlieren, dann wäre unsere Welt fast aggressionsfrei. Denn wo lässt sich ein solcher Zweck nicht finden? Der «heilige Krieg» liegt da auf derselben Linie wie das Motto: «Wer sein Kind liebt, der züchtigt es».

Aus diesem Grunde spricht die folgende Definition das Problem des «eigentlichen» Zieles ausdrücklich mit an: «Aggression wird hier definiert als eine Handlung, mit der eine Person eine andere Person zu verletzen versucht oder zu verletzen droht, unabhängig davon, was letztlich das Ziel dieser Handlung ist» (Felson 1984, S. 107; eigene Übers.). Nur in einem Fall passt diese Definition nicht: nämlich wenn die andere Person ausdrücklich wünscht, dass man sie verletzt und ihr wehtut – also im Falle des Masochismus. Da würde man das Peinigen wohl nicht als Aggression bezeichnen dürfen.

Wie immer man definiert, eine scharfe Grenze zwischen aggressiven und nichtaggressiven Handlungen lässt sich nicht ziehen. Weder das Merkmal des Schädigens oder Wehtuns noch das Merkmal der Intention oder Gerichtetheit ist in jedem Einzelfall immer eindeutig vorhanden oder nicht vorhanden, sondern manchmal eben nur «ein bisschen». Das ist keine Schwäche der Definitionen, das liegt in der Sache selbst.

1.2 Aggressive Verhaltensweisen, aggressive Emotionen

In den meisten Definitionen (auch in den vorgestellten) heißt es, Aggression sei ein «Verhalten, welches …». Nur selten ist statt von Verhalten von inneren Vorgängen die Rede, z. B. von Impulsen oder Emotionen. Doch genau so etwas ist gemeint, wenn im Alltag davon die Rede ist, dass jemand «Aggressionen» (Plural!) in sich habe (zu diesem problematischen Ausdruck s. Kapitel 2). Innere aggressive Empfindungen und äußeres aggressives Verhalten scheinen so eng zusammenzugehören, dass man beides in demselben Wort vereinigt und oft kaum zu erkennen ist, ob jemand ein Verhalten oder eine Emotion meint oder beides. «Er richtet seine Aggressionen gegen den Vater» kann dann z. B. bedeuten: Er ist wütend auf seinen Vater, er hasst seinen Vater, oder aber: Er beschimpft, verspottet, schlägt seinen Vater, oder auch beides.

Für die Erklärung und Verminderung aggressiven Verhaltens ist es nun wichtig, dass man diese beiden Bedeutungen auseinander hält. Denn (wie später noch erörtert wird): Nicht jedes aggressive Gefühl äußert sich in aggressivem Verhalten, und nicht jedes aggressive Verhalten ist Ausdruck aggressiver Gefühle! Beispielsweise beruhen aggressive Handlungen aus Gehorsam oder zwecks Bereicherung nicht auf aggressiven Emotionen.

Zwischen aggressivem Verhalten und aggressiven Emotionen gibt es also keine feste Verbindung! Wegen der Verwechslung der beiden Ebenen wäre es daher eigentlich am besten, den Terminus Aggression ganz zu streichen und stets von aggressivem Verhalten/​Handeln einerseits und von aggressiven Emotionen, Bedürfnissen, Impulsen usw. andererseits zu sprechen. Da sich dies kaum durchsetzen wird, sollte der Begriff der Aggression der Verhaltensebene vorbehalten bleiben und ansonsten explizit von aggressiven Emotionen usw. gesprochen werden. (So ist der Sprachgebrauch in diesem Buch.)

 

Aggressive Verhaltensweisen

Nehmen wir zunächst die Verhaltensebene. Wie dargelegt, sind nicht einfach bestimmte sichtbare Verhaltensweisen aggressiv, entscheidend ist vielmehr die Intention. Zielt diese auf Schädigung, kann fast jedes Verhalten auch mal aggressiv sein.

Dennoch gibt es typische Erscheinungsformen, die von fast jedem Menschen als aggressiv angesehen werden. Diese Formen kann man grob unterteilen in körperliche, verbale und nonverbale (s. Tafel 2). Eher untypisch, aber zuweilen durchaus schwerwiegend sind die «relationalen» Aggressionsformen, mit denen sich die Forschung erst in den letzten Jahren genauer beschäftigt hat (z. B. Crick & Grotpeter 1995). Sie bestehen in der gezielten Beeinträchtigung sozialer Beziehungen: z. B. jemanden «schneiden», jemanden verleumden, ein anderes Kind nicht mitspielen lassen u. dgl.

 

Tafel 2: Aggressives Verhalten in unterschiedlichen Erscheinungsformen

  • Körperlich: Schlagen, Kratzen, Beinstellen, Würgen, Schießen, Vergiften usw.

  • Verbal: a) Verspotten, Hetzen, Drohen usw. (inhaltlich aggressiv), b) Anschreien, Beschimpfen, Fluchen usw. (auch in Wortschatz und Tonfall aggressiv)

  • Nonverbal: böse Blicke, rausgestreckte Zunge, drohender Finger usw.

  • Relational: jemanden «links liegen lassen», ausgrenzen, verleumden usw.

Wenn eine aggressive Handlung nicht in unmittelbarer Interaktion mit der angegriffenen Person ausgeführt wird, spricht man auch von indirekter Aggression. Gerade relationale Formen sind zum großen Teil indirekt. Andere Aggressionsformen geschehen zwar im direkten Umgang, sind aber dennoch so versteckt, dass sich leicht leugnen lässt, damit ärgern bzw. wehtun zu wollen. Beispiele sind etwa absichtliches Missverstehen durch das «Allzu-wörtlich-Nehmen» einer Aussage oder auch übermäßige Bescheidenheit, die beim anderen ein schlechtes Gewissen verursachen soll (Mandel, Mandel et al. 1971, S. 153). Selbst Geschenke können zuweilen eine Form der Aggression sein, wenn sie jemanden beschämen oder in Verlegenheit bringen sollen – wie schon der weise Wilhelm Busch durchschaute: Die Tanten schenken der Nichte ein grünes Kleid mit gelben Ranken: «Ich weiß, sie ärgert sich nicht schlecht und muss sich noch bedanken» (in: «Kritik des Herzens»).

Für Forschungszwecke ist wichtig, aggressives Verhalten auch messbar zu machen. In Felduntersuchungen (z. B. auf dem Schulhof oder in einem Streitgespräch) legt man die interessierenden Verhaltensweisen fest (z. B. Schlagen, Treten) und registriert deren Auftreten durch systematische Beobachtung. Durch eine Befragung kann man auch weniger auffällige Aggressionsformen (z. B. Hänseln) ermitteln. Bevorzugt wird dabei die Opferbefragung: Man fragt Menschen, ob sie innerhalb eines definierten Zeitraumes bestimmte Arten des Angriffs schon erlebt haben (z. B. «In den letzten zwölf Monaten bin ich beraubt worden», «In der letzten Woche haben mich Mitschüler verspottet oder ausgelacht»).

Als die Aggressionsforschung auch mit Laborexperimenten begann, stellte sich das schwierige Problem, aggressives Verhalten herbeizuführen und zu messen, ohne ethische Prinzipien zu verletzen. Die bekannteste Lösung für dieses Problem präsentierte Arnold Buss 1961 mit seiner «Aggressionsmaschine». Das aggressive Verhalten besteht hier im Erteilen von Elektroschocks in variierbarer Stärke. Dies geschieht in einem Rahmen, der die eigentliche Fragestellung des Forschers tarnt. So kann z. B. eine Versuchsperson eine andere mit den Schocks bestrafen, wenn sie beim Lernen Fehler macht oder in einem Reaktionszeit-Wettkampf langsamer ist. (Die Schocks und ihre Wirkungen werden simuliert, ohne dass die echte Versuchsperson dies weiß; die andere Versuchsperson ist ein Helfer des Experimentators). Vorgegeben ist der Versuchsperson, dass Schocks erteilt werden sollen, doch bleibt es ihr überlassen, welche Voltzahl, welche Häufigkeit und welche Schockdauer («Aggressionsstärke») sie wählt.

Solche Experimente werden auch im vorliegenden Buch erwähnt. Die Vorzüge des exakten Experimentierens zur Klärung bestimmter Hypothesen liegen auf der Hand. Aber im Labor lässt sich natürlich nicht die Vielfalt aggressiver Handlungen und Lebenssituationen nachbilden. So weit doch, stimmen die experimentellen Befunde immerhin recht gut mit denen in der natürlichen Umwelt überein (Anderson & Bushman, zit. nach Krahé 2001). Hier wie dort findet man z. B. erhöhte Aggression nach einer Provokation, nach Alkoholkonsum, bei Anonymität u. a.m., wobei mit «Aggression» im einen Fall das Verhalten an der Aggressionsmaschine, im anderen Fall z. B. kriminelle Gewalt gemeint sein kann.

 

Aggressive Emotionen

Aggressive Gefühle, Stimmungen usw. gibt es ebenfalls in verschiedenen Varianten. Einige sind in Tafel 3 zusammengestellt und nach mehreren Kriterien unterteilt. Als aggressiv gelten dabei alle Emotionen, die in deutlich negativer Färbung auf andere Personen bezogen sind und einen Impuls zum Schädigen bzw. Wehtun enthalten. Einige Emotionen sind eher «voraggressiv», der Unmut vielleicht «halbaggressiv». Nicht aggressiv (daher auch nicht in der Tabelle) sind nach dieser Definition Emotionen wie beispielweise Angst, Begeisterung oder Langeweile. Auch sie können aber zuweilen in aggressives Verhalten münden, z. B. Angst in Notwehr oder Begeisterung in ein Attentat für eine «gute Sache».

Die Einteilung soll die Vielfalt ein wenig ordnen, ohne dass immer eine eindeutige Zuordnung möglich wäre. Einzelne Emotionen unterscheiden sich zum Teil durch spezielle Akzente. Zorn und Empörung sind z. B. «moralischer» als Ärger oder Groll, und Verachtung ist «kognitiver» als Hass.

 

Tafel 3: Einige aggressive und voraggressive Emotionen

In der psychologischen Forschung werden aggressive Emotionen häufig durch die subjektive Einschätzung der eigenen Stimmung auf einer Art Thermometer (einer mehrstufigen Schätzskala) erhoben. Oder man registriert den Erregungsgrad durch objektive physiologische Messungen (z. B. des Blutdrucks), wobei man allerdings gute Gründe für die Annahme haben muss, dass es sich tatsächlich um eine «aggressive» Erregung und nicht etwa um Anstrengung, Angst, sexuelle Erregung oder andere Spannungen handelt.

1.3 Aggression – Sachverhalt oder Werturteil?

Aggression als Verhalten zu definieren, das auf Schädigen und Wehtun gerichtet ist, stößt zuweilen auf Missfallen, weil ein solcher Begriff «zu negativ» sei. Schließlich könnten aggressive Handlungen durchaus positive Wirkungen haben, etwa Ungerechtigkeiten abwenden oder Anstöße für gesellschaftlichen Fortschritt geben. Dieser Einwand argumentiert mit dem «positiven Zweck», von dem bereits die Rede war (S. 18). Um ihn zu berücksichtigen, sprechen manche Menschen hier von «positiver» oder «konstruktiver» Aggression, andere überhaupt nicht von Aggression.

An dieser Stelle wird ein bedeutsamer Unterschied zwischen verbreitetem Sprachgebrauch und psychologischen Definitionen sichtbar. Während diese nämlich Aggression rein beschreibend als Sachverhalt zu bestimmen versuchen, wird das Wort im Alltag häufig wertend gebraucht: Zu dem Sachverhalt «intendierte Schädigung» kommt die Normabweichung bzw. Unangemessenheit als weiteres Kriterium hinzu, das entscheidet, ob ein Verhalten als Aggression bezeichnet wird oder nicht (Mummendey et al. 1982). Vergleichen Sie folgende Beispiele:

 

A1: Ein Bankräuber fordert mit vorgehaltener Pistole, seine Tasche mit Geld zu füllen.

A2: Ein Polizist schießt einem flüchtenden Bankräuber ins Bein.

B1: Ein Schüler wirft einen anderen absichtlich zu Boden.

B2: Ein Schüler wirft einen Mitschüler zu Boden, damit er aufhört, einen kleinen Jungen zu verprügeln.

 

Beim Gebrauch einer Pistole hat sicherlich der Polizist, nicht aber der Bankräuber die Norm auf seiner Seite und bei einem Schlag in den Bauch sicherlich jemand in akuter Notwehr, nicht aber der Angreifer – obwohl sie alle jeweils mit voller Absicht handeln. Legitim erscheinende Akte des Verletzens und Wehtuns, besonders solche zur Verteidigung oder Hilfeleistung (wie in dem Schülerbeispiel), werden von Betrachtern seltener als Aggression bezeichnet, jedenfalls sofern sie nicht völlig überzogen und damit ihrerseits «unangemessen» sind.

Die Urteile darüber, was angemessen, was normgerecht ist, wird von persönlichen Ansichten und dem jeweiligen Kontext abhängen. Wer etwa findet, dass Ohrfeigen zur «normalen» Erziehung und dass Fouls zu einem ordentlichen Fußballspiel gehören, wird kaum von Aggression sprechen, während andere dies durchaus tun.

Ein für fast alle Menschen ausschlaggebender Gesichtspunkt ist der vorangegangene Anlass. Eine Reaktion auf Bedrohungen oder Provokationen wird im Vergleich zu offensiven Angriffen viel seltener als aggressiv beurteilt (Brown & Tedeschi 1976). Ein einzelner Verhaltensakt ist dann also nicht mehr per se aggressiv, sondern aufgrund seiner Stellung innerhalb eines Interaktionsverlaufs (Mummendey et al. 1982). Wer eine bestimmte Handlung in dem Ablauf als Normverstoß wertet, spricht von Aggression, wer Entschuldigungsgründe sieht, spricht möglicherweise auch bei extremer Gewaltausübung nicht von Aggression.

Der Spielraum für subjektive Sichtweisen zeigt sich besonders deutlich in einer unterschiedlichen Bewertung des eigenen und des fremden Verhaltens. Im eigenen erblickt man selten eine Aggression, aggressiv sind die anderen. Die meisten Menschen sehen sich selbst als Opfer und nicht als Täter – irgendwie haben immer die anderen «angefangen». Das heißt nun: Der alltagstypische Aggressionsbegriff umfasst nicht nur eine bestimmte Art des Handelns («intendiertes Schädigen»), sondern auch eine Bewertung («unangemessen»). Und diese Bewertung hängt stark vom eigenen Standort im Geschehen ab, mit anderen Worten: Sie ist parteiisch. Was aus dem eigenen Blickwinkel legitim erscheint, wird nicht als Aggression etikettiert. (Das Gleiche gilt übrigens für den Begriff der Gewalt.) Aggression kann mithin leicht zu einem Kampfbegriff werden, der als Vorwurf gegen andere gerichtet wird.

Wenn man sich aber bei der Entscheidung, von Aggression zu sprechen oder nicht, von Entschuldigungen und Rechtfertigungen leiten lässt, dann ist «Aggression» ein moralisches Urteil und nicht ein psychologischer Sachverhalt. Da ein solches Verständnis nichts mehr mit einem wissenschaftlich brauchbaren Begriff zu tun hat, ist sogar schon vorgeschlagen worden, auf den Begriff der Aggression ganz zu verzichten und stattdessen konkrete Phänomene wie «Drohung» und «Bestrafung» zu untersuchen (Tedeschi 1984). Das mag Vorteile haben; aber der Begriff der Aggression ist damit nicht aus der Welt. Menschen werden ihn weiterhin gebrauchen und werden die Psychologie nach Erklärungen für «die menschliche Aggression» fragen. Also muss man sich auf eine wertneutrale Sachverhalts-Bestimmung verständigen – etwa entsprechend den oben vorgestellten Definitionen (S. 14 f.). Die Wissenschaft jedenfalls darf den wertenden Sprachgebrauch auf keinen Fall mitmachen, weil sonst ihr Gegenstand völlig verschwimmt. Denn was soll sie untersuchen, wenn Aggression im Kern ein Verhalten ist, das man anderen vorwirft?

Die Konsequenz ist also eine klare Trennung von Sachverhalt und Wertung! Zuerst ist zu bestimmen, ob ein Verhalten vorliegt, das auf Schädigen und Wehtun zielt. Falls ja, bleibt immer noch offen, ob dieses Verhalten legitim oder illegitim, konstruktiv oder destruktiv, angemessen oder unangemessen ist. Schüsse der Polizei ebenso wie Attentate auf Politiker beabsichtigen ohne Frage die Schädigung von Menschen und sind insofern definitionsgemäß aggressive Handlungen. Auf der wertenden Ebene mag man sich dann fragen, ob diese Handlung angemessen oder unangemessen ist. Das Urteil darüber ist eine Frage persönlicher Anschauungen. Dieselbe (nach psychologischer Definition) «aggressive Handlung» kann folglich sowohl negativ als auch positiv bewertet werden.

2 Populäre Vorstellungen und Irrtümer

Problemen, mit denen wir häufig konfrontiert werden und die uns überdies emotional berühren, stehen wir nicht gerne orientierungslos gegenüber. So ist es nicht verwunderlich, dass wohl jeder Mensch sich auch Vorstellungen darüber bildet, wie aggressives Verhalten entsteht und was man dagegen tun kann. Dabei kommen neben psychologischen auch biologische, kulturelle, politische und andere Aspekte in Betracht. In diesem Kapitel geht es vorrangig um populäre Annahmen über innere Vorgänge und Wirkungsmechanismen in Zusammenhang mit aggressivem Verhalten.

2.1 «Aggressionen haben, rauslassen, ausleben»

Menschen verhalten sich aggressiv, weil sie «Aggressionen» in sich haben. Diese Erklärung scheint ebenso selbstverständlich wie die Möglichkeit, die «Aggressionen» irgendwie rauslassen oder ausleben zu können. Mit «Aggressionen» (immer als Pluralwort, das es so z. B. im Englischen nicht gibt) sind dabei nicht aggressive Verhaltensakte gemeint (wie in der Begriffsbestimmung von Kapitel 1), sondern innere Kräfte «hinter» aggressivem Verhalten.

Sind die so genannten «Aggressionen» überhaupt eine Erklärung für aggressives Verhalten oder lediglich ein Wort? Es handelt sich lediglich um ein Wort, wenn man von dem Verhalten namens «Aggression» auf innere Vorgänge namens «Aggressionen» schließt, ohne diese selbst erläutern zu können. Das ist dann etwa so gehaltvoll, als würde man das Spielen des Kindes durch «Spielonen» erklären. Man nimmt ein Wort, das sprachlich zum Verhalten passt, und tut so, als hätte man es damit erklärt.

Ganz so oberflächlich sprechen die meisten Menschen gewiss nicht von (inneren) «Aggressionen». Denn jeder kennt aus eigenem Erleben, was gemeint sein kann: nämlich Gefühle, die dazu drängen, sich verletzend oder zumindest laut und grob gegenüber anderen zu verhalten – eben aggressive Gefühle. Das wäre dann immerhin schon ein Stück Erklärung: Das sichtbare Verhalten wird auf bestimmte Gefühle zurückgeführt.

Allerdings müsste man sich noch genauer darüber verständigen, welche Gefühle als «Aggressionen» gelten sollen. Hat jemand «Aggressionen», der … auf einen anderen wütend ist? … einen anderen Menschen hasst? … in gereizter Stimmung ist? … Unmut über eine Nachlässigkeit empfindet? … Groll gegen einen Übeltäter hegt? … auf einen Rivalen neidisch ist? … über eine Ungerechtigkeit empört ist? … mit Vergnügen Tiere quält? … bei einem Bankraub Geiseln nimmt? … einen Angreifer mit einem Faustschlag abwehrt?

Wenn all dies (und vielleicht noch mehr) mit «Aggressionen» gemeint sein kann, ist das Wort reichlich vage; es differenziert nicht zwischen verschiedenartigen Emotionen. Wenn aber nur ein Teil dieses Spektrums gemeint ist, wäre es besser, gleich präzise zu sagen, worum es geht, z. B. Hass oder Unmut oder sadistische Lust.

 

Tafel 4: Einige populäre Vorstellungen zu (inneren) «Aggressionen»

  • «Aggressionen» sind Gefühle, die aggressives Verhalten erklären können.

  • «Aggressionen» sind psychische Energien, die verbraucht werden können.

  • Sie bilden ein latentes Potenzial.

  • Sie verschieben sich nach hydraulischen Gesetzen.

  • Sie können den Körper verlassen.

Viele Menschen meinen mit «Aggressionen» aber offenbar nicht nur aktuelle Gefühle, sondern auch ein latentes Potenzial – der Ausdruck «Aggressionspotenzial» ist recht geläufig –, und zwar in der Bedeutung von schlummernden Impulsen und psychischen Energien, die etwas bewirken. Diese Vorstellung spricht aus Aussagen wie: «Aggressionen» haben sich «angestaut», oder «Aggressionen» können durch sportliche und andere Aktivitäten «abgebaut» bzw. «verbraucht» werden. Nach dieser Vorstellung können «Aggressionen» also etwas sein, was man nicht einmal als Ärger oder ähnliche Emotion verspüren muss.

Der stete Plural «Aggressionen» legt übrigens nahe, dass sie wohl so etwas wie kleine psychische Partikel sind, die im Körper herumschwirren – und vielleicht nicht nur dort. Denn manche Menschen stellen sich offenbar vor, dass sich die «Aggressionen» sogar wie Viren ausbreiten und Menschen infizieren können. So hörte ich nach den Anschlägen vom 11. September 2001 einen Journalisten im Fernsehen mutmaßen, dass hier wohl «frei flottierende Aggressionen» in den Attentätern ihre Opfer gefunden hätten. Nicht fern von solchen Vorstellungen waren ältere Aggressionstheorien wie die vom «Kreislauf der Aggression» nach Hacker (s. hierzu Kapitel 4, S. 51).

Vermindern lassen sich «Aggressionen» nach volkstümlicher Redeweise aufgrund einer weiteren interessanten Eigenschaft: Sie können den menschlichen Körper verlassen. Diese Annahme spricht aus Ausdrucksweisen wie «rauslassen», «ableiten» oder «kanalisieren»; sie alle enthalten räumliche Vorstellungen. Die «Aggressionen» gelangen von innen nach außen, so wie etwa Dampfmoleküle aus dem Topf drängen oder Wasser aus einem Stausee in einen Kanal fließt. Eine solche Ortsveränderung soll also auch den «Aggressionen» möglich sein.

Zusammengenommen entsteht aggressives Verhalten also in der Vorstellung vieler Menschen nach Art eines hydraulischen Energiemodells: Aggressive Energien können hierhin oder dahin verschoben werden und brauchen ein Ventil, um zu verschwinden. Wie verbreitet solche Vorstellungen sind, zeigte sich auch in einer eigenen Umfrage unter etwa 100 Personen (Lehrer/​-innen und nichtakademische Berufe): 92 Prozent der Befragten stimmten der Aussage zu: «Wenn man Aggressionen verspürt und zurückhält, äußern sie sich später an anderer Stelle.»

Aus diesem hydraulischen Energiemodell ergibt sich auch ein oft propagierter Weg zur Aggressionsverminderung, nämlich die Energien in harmlose «Kanäle» zu leiten. Verwandte Ausdrucksweisen sind die vom «Abreagieren» oder «Ausleben von Aggressionen». Auch darin steckt die Annahme, dass man durch bestimmte Aktivitäten die Energien «rauslassen» oder aber «verbrauchen» könne. Breit ist jedenfalls die Zustimmung (78 %) zu der Aussage: «Aggressionen kann man durch Sport, Holzhacken usw. abreagieren.»

Kommentar: Die Ausdrucksweise «Aggressionen» ist ziemlich unbestimmt und mehrdeutig. Denn als innere Vorgänge können, wie dargelegt, verschiedene Emotionen oder auch nicht gefühlte Energien gemeint sein. Und es kommt ja noch die ganz andere Bedeutung hinzu, nämlich aggressive Verhaltensakte bzw. Handlungen (im Plural). Diese Ebene des sichtbaren Verhaltens ist in der empirischen Psychologie fast ausschließlich gemeint (s. S. 14 ff.) und in der Alltagssprache teilweise auch.

Der Gebrauch desselben Wortes für verschiedene Sachverhalte erzeugt nicht nur Missverständnisse, sondern suggeriert überdies, dass aggressives Verhalten immer aus aggressiven Gefühlen oder Energien entsteht oder dass doch zumindest ein enger Zusammenhang zwischen beiden Ebenen besteht. Dies wird erheblich zu relativieren sein (s. insbesondere Kapitel 8). Und nicht zuletzt: Wissenschaftlich völlig unhaltbar ist die mit dem Ausdruck «Aggressionen» häufig verbundene Vorstellung von einem hydraulischen Energiemodell und die Annahme, «Aggressionen» könnten «rausgelassen» oder in Kanäle geleitet werden (hierzu ausführlich Kapitel 11).

Um fragwürdige Konnotationen zu vermeiden, scheint es mir nach alledem am besten, auf das deutsche Pluralwort «Aggressionen» (im Sinne innerer Kräfte) ganz zu verzichten oder es immer in Anführungszeichen zu setzen.