Image Missing

Inhaltsübersicht

Uff, sagte er

Uf, va dir ell

Geschichte einer Liebe

In einer weit zurückliegenden Zeit

Über das Nichterscheinen zu Verabredungen

Uff, sagte er

Über die Wankelmütigkeit des menschlichen Geistes

Platssschh

Rauch

Die Augen voller Wiesen

Underworld

Die Schöpfung

Über die Nichtigkeit menschlicher Wünsche

Frau mit Mehari

Vertrauliches

Olivetti, Moulinex, Chaffoteaux et Maury

Olivetti, Moulinex, Chaffoteaux et Maury

Der Aufsatz

Thomson, Braun, Corberó, Philishave

Apfelpfirsich

Die Lachsdame

Kakophonie

Globus

Der Norden des Südens

Tricks

Matruschkas

To choose

Der Brief

Vier Viertelstunden

Ein Kino

Das Pflanzenreich

Oldeberkoop

Die Aktentasche

L’illa de Maians

Die Aktentasche

Barcelona

Haus mit Garten

Philologie

Fieber

Ich habe nichts zum Anziehen

Eisenbahn

Das Mobiliar als Menschenfreund

Ländliche Literatur

Mundgeruch

Tafelspitz mit Meerrettich

Seien Sie sich da nicht so sicher

Anisschnaps

Die Qualität und die Quantität

Der Grund der Dinge

El perquè de tot plegat

Die Ethik

Die Liebe

Eheleben

Die Unterwerfung

Der Monatszyklus

Der Realitätsverlust

Der Glaube

Pygmalion

Das Opfer

Die Vernunft

Der Entschluss

Die Bewunderung

Warum dreht sich der Uhrzeiger im Uhrzeigersinn?

Die Eifersucht

Das Herz auf der Hand

Die Unbeständigkeit

Valentinstag

Die Euphorie der Trojaner

Gegen halb eins

Das Streben nach Höherem

Der Eid des Hippokrates

Der Pilzkenner

Die Kröte

Schneewittchen

Die Monarchie

Die Fauna

Die Willenskraft

Die Physiognomie

Die göttliche Vorsehung

Die Erzählung

Guadalajara

Guadalajara

1
Familienleben

2
Vor den Toren Trojas

Die helvetischen Freiheiten

Gregor

Hunger und Durst nach Gerechtigkeit

3
Ein Tag wie jeder andere

Das Leben ist so kurz

Die Macht des Wortes

Die Literatur

4
Die Zentripetalkraft

5
Strategien

Prophetenleben

Im Krieg

Die Bücher

Die beste aller Welten

El millor dels mons

1
Mein Bruder

Mutti

Sommerferien

Die fünf Türkeile

Beim Geschirrspülen

Zwei Rosensträuße

Die Beständigkeit des Lebens

2
Vor dem König von Schweden

3
Nach der Schulung

Als die Frau die Tür öffnet

Der Junge, der sterben musste

Der Spiegel

Das Mädchen mit den Schwefelhölzern

Der Unfall

Die Originalausgabe erschien

unter dem Titel Vuitanta-sis contes

© 1999 by Joaquim Monzó

© 1999 by Quaderns Crema, Barcelona

und wurde für die vorliegende Ausgabe erweitert um

El millor dels mons (Die beste aller Welten)

© 2001 by Joaquim Monzó

© 2001 by Quaderns Crema, Barcelona

1. Auflage 2007

Deutsche Erstausgabe

© der deutschen Ausgabe

Frankfurter Verlagsanstalt GmbH, Frankfurt am Main 2007

Alle Rechte vorbehalten

Die Übersetzung und Überarbeitung dieses Werkes wurde aus

Mitteln des Instituts Ramon Llull gefördert

Herstellung und Schutzumschlaggestaltung: Laura J Gerlach

unter Verwendung eines Umschlagentwurfs von Jonathan Meese

eISBN: 978-3-6270-2146-7

Quim Monzó

HUNDERT GESCHICHTEN

Aus dem Katalanischen von Monika Lübcke

Uff, sagte er

Olivetti, Moulinex, Chaffoteaux et Maury

Die Aktentasche

Der Grund der Dinge

Guadalajara

Die beste aller Welten

Un jour il y aura autre chose que le jour.

BORIS VIAN, Je voudrais pas crever

Von Angesicht zu Angesicht, wusstest du nie, ob es ein Kuss war oder nur ein Lächeln.

JORDI SARSANEDAS, Mythen

  

»Je suis fier de dire que toute ma vie je me suis battu

contre les idées que je défends en ce moment.«

»Je suis fier de vous répondre que

moi, c’est exactement le contraire.«

WOLINSKI, Charlie Hebdo, Nr. 346

Zwei Juden treffen sich im Eisenbahnwagen

einer galizischen Station.

»Wohin fahrst du?«, fragt der eine.

»Nach Krakau«, ist die Antwort.

»Sieh’ her, was du für Lügner bist«, braust der andere auf.

»Wenn du sagst, du fahrst nach Krakau, willst du doch,

daß ich glauben soll, du fahrst nach Lemberg.

Nun weiß ich aber, daß du wirklich fahrst nach Krakau.

Also warum lügst du?«

Zitiert von SIGMUND FREUD in Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten

P: Quid est vigilanti somnus? A: Spes.

P: Quid est mirum? A: Nuper vidi hominem stantem, molientem, ambulantem, qui numquam fuit.

P: Quomodo potest esse? Pande mihi. A: Imago est in aqua.

A: Quidam ignotus mecum sine lingua et voce locutus est, qui numquam ante fuit nec postea erit, et quem non audiebam nec novi. P: Somnium te forte fatigavit, magister.

A: Quid est quod est et non est? P: Nihil.

A: Quomodo potest esse et non esse? P: Nomine est et re non est.

Disputatio regalis et nobilissimi iuvenis Pippini cum Albino scholastico

Sir, – Jean Giraudoux (in Siegfried et le Limousin, Chapter 2) raised the interesting question of how, sometimes, minor mysteries in one’s life are suddenly if belatedly explained. He adds:

Je ne désespère pas de voir se résoudre un jour, en Océanie ou à Mexico, quelques autres énigmes de mon passé; un nœud finit toujours par se défaire du simple dégôut d’être un nœud. La seule d’ailleurs que me péoccupe vraiment est l’énigme Tornielli; cet ambassadeur en exercice, que je voyais pour la première fois à la distribution des prix du concours général, me fit signe d’aller à lui et me glissa dans la main un œuf dur. My intensive research on the Torniella Enigma has so far yielded only the information that Count Giuseppe Tornielli di Vergano (1836–1908) was Italian Ambassador in Paris from 1895 to 1908. The obvious unanswered questions are: was Giraudoux actually handed a hardboiled egg by the ambassador of a foreign Power? or did he play on the reader the French trick of dissociating «le narrateur» from «l’auteur»? If the former, did Giraudoux die without elucidating the Tornielli Enigma? Or has someone else cleared it up?

I wonder if any of your readers knows the answers.

MARQUÈS DE TAMARÓN, Brief an den Herausgeber, veröffentlicht in The Times Literary Supplement am 28. Januar 1983

Ils commencèrent lentement, puis allèrent plus vite.

GUSTAVE FLAUBERT, Madame Bovary

– Connaissez-vous M.G.? L’autre ne le connaissait pas.

– Il a écrit tel, tel et tel ouvrage, dit M.G. en citant les titres.

RAYMOND QUENEAU, La Petite Gloire

Geschichte einer Liebe

Für Joan Brossa, der mir die Idee dazu gab.

Mit allem, was bisher geschah, wäre ich zufrieden, nur um noch einmal den peppermintfarbenen Himmel und die funkelnden Sterne in ihren Augen zu sehen. Doch so es mir vergönnt sein sollte, möchte ich dieses Mal endlich zum Ende kommen. Ich bin es nämlich langsam leid, was irgendwie erstaunlich ist, wenn man bedenkt, dass ich ein sehr geduldiger Mann bin. Dies ist indes wirklich eine uralte Geschichte, deren Anfänge in meiner Jugend liegen, als ich sie eines Morgens in der Dämmerung zärtlich küsste. Wir saßen in einem gemieteten Landauer, den der Kutscher neben dem Lichtkegel einer noch brennenden Straßenlaterne vor dem neoklassizistischen (einem spätneoklassizistischen) Gutshaus abgestellt hatte, in dem wir uns ganz und ungestört unserer Liebe hingeben wollten. Sie glich einer nordischen Göttin, zart wie der Flug des Wiedehopfs, zerbrechlich, sanft und spitzbübisch. Ich erzähle das auf die Gefahr hin, lächerlich zu wirken, aber es handelt sich hier um die leidenschaftliche Geschichte einer glühenden Liebe, die mit jedem Mal stärker in uns brannte. Wir betraten das Gutshaus, das einer meiner Tanten gehörte, die halb verrückt und kurzsichtig war und mehr aus dunklen als aus heroischen Gründen ins Exil gehen musste, und stürmten hastig die Treppen hinauf, wie vermutlich alle Verliebten, die ihre gegenseitig eingestandene Anbetung wolllüstig befriedigen wollen. Wir durchquerten Flure und Zimmer und weitere Flure und Säle, die sich zu noch mehr Fluren hin öffneten. Wir machten Türen auf, hinter denen sich neue Räume mit Türen verbargen, dahinter Gemächer mit weiteren Türen (bei einer, die sich nicht öffnen ließ, mussten wir erst das verrostete Schloss aufbrechen), die zu Räumlichkeiten mit neuen Türen führten. Ich fasse mich kurz: Schließlich erreichten wir das größte Gemach mit einem breiten Himmelbett und Wänden aus extravagantem Damast. Als wir voller Sehnsucht nach dem Mondlicht die Vorhänge aufzogen, wurden wir von einer Staubwolke eingehüllt. Wir öffneten die Tür zum Balkon. Am Himmel zeichneten sich die Berge ab (in Farbtönen, die mit dem Emporsteigen des Tages immer mehr denen Boticellis glichen) und von den Wiesen drang ein gedämpftes sommerliches Rauschen herauf (unter anderem deshalb, weil all dies im Sommer geschah). Ich musste sie langsam entkleiden (sie, umständlich und aufgeregt wie ich war, von zwei Röcken, den Unterröcken, dem Reifrock, dem Korsett, den Strümpfen, den Schuhen und allen Diademen befreien, die sie auf dem Kopf trug), bis ich endlich ihren milchweißen Körper betrachten konnte. Sie schlug die Wimpern nieder, schwarz und groß wie Fächer, und sie wäre sicher errötet, doch aufgrund ihrer Schminke hätte man es nicht sehen können, und es wäre somit eine unnötige Anstrengung gewesen. Auf ihren jugendlichen Brüsten prangten dunkle Brustwarzen. Wie es sich für eine Dame aus solch gehobener Gesellschaftsschicht gehört, ließ sie alles mit einer durchaus angemessenen Gleichgültigkeit geschehen und, als ich mich schließlich hastig entkleidete, wendete sie schamhaft ihren Blick ab. Am meisten hatte ich mit den Stiefeln zu kämpfen, vor allem, weil ich in der Eile die Schnürsenkel nicht löste, sondern sie nur noch mehr verhedderte. Da ich nicht fertig wurde, nutzte sie die Zeit und erkundigte sich nach der Toilette. Ich zeigte sie ihr. Als sie zurückkehrte (in einem rosafarbenen Nachthemd aus chinesischer Seide von einer meiner Großmütter, das sie wohl im Badezimmerschrank gefunden hatte), entledigte ich mich endlich des zweiten Stiefels und knallte ihn gegen die Wand, was eine neue Staubwolke und Risse im Mauerwerk verursachte. Die Unterhose und das Unterhemd auszuziehen, war dann nur noch eine Sache von Sekunden. Ich beeilte mich, die verlorene Zeit einzuholen: Ich streichelte ihre Wangen, küsste sie aufs Ohrläppchen und flüsterte ihr honigsüße Worte zu. Sie war anscheinend in einem tiefen Zweifel verloren: Einerseits lechzte sie nach meinen Zärtlichkeiten, wollte aber andererseits im selben Moment die Flucht ergreifen. Schließlich drehte sie sich um, schaute mir ganz tief in die Augen und küsste mich so unerfahren auf den Mund, dass ich nicht umhin konnte zu lächeln. Um es zu verbergen, sie sollte ja nicht denken, ich würde mich mit meinem Lächeln über sie lustig machen, biss ich ihr ins Ohrläppchen, leckte an ihrem Hals und nutzte dabei die unmittelbare Nähe ihres Gehörsinnes, um mehrmals zu flüstern: Meine Liebe . . ., jedes Mal ein wenig lauter und etwas wilder im Ton. In diesem Augenblick klingelte es an der Tür: ein langes, überlanges Klingeln. Sie sah mich an. Ich sah sie an. Mein Aufstehen entschuldigte ich mit einer Handbewegung. Ich komme gleich zurück, Liebling. Sie wendete (diskret) den Blick von meiner Erektion ab, die ich nicht verbergen konnte. Mit einem Kimono bekleidet begab ich mich nach unten, um die Tür zu öffnen: Der Kutscher brachte den Hut der Dame vorbei, den wir (von unseren Gefühlen überwältigt) auf dem Sitz vergessen hatten. Da ich keine Hosen anhatte, gab es keine Hosentaschen mit Münzen, um diesem übereifrigen Kutscher zu danken. Ich musste ins Büro nach oben, fand dort aber auch keine, nahm einen Schein, eilte wieder nach unten und steckte den Schein in seine Tasche. Er dankte mir, ich sagte ihm, keine Ursache, schlug die Tür zu (wieder bildete sich eine Staubwolke, eine Türangel fiel herunter) und rannte die Treppen hinauf ins Schlafgemach. Sie erwartete mich sehnsüchtig. Zwei Mal flüsterte sie meinen Namen und bat mich, sie zu küssen und mit meinem Körper zu wärmen. Sie hatte noch ganz keusch das weiße, feine Höschen an (das ich zuvor nicht auszuziehen gewagt hatte, um nicht gar zu ungeduldig zu erscheinen). Nun ja: Ich kniete mich vor ihr hin und zog es ganz sachte herunter. Innen war es feucht und ihre betörend duftende Nässe nebelte meine Sinne ein. Liebstes, oh mein Liebstes, . . . wiederholte ich ein ums andere Mal und zeichnete dabei mit meiner Zunge ihren Oberkörper nach. Ich spürte, wie sie sich immer noch scheute, irgendeine Art von Initiative zu zeigen. Sie wollte nicht zu forsch erscheinen. Da nahm ich ihre Hand und legte sie auf mein Glied, das sich ganz heiß anfühlte. Ein Oh entfleuchte ihr, das ich erstickte, indem ich jeden Quadratzentimeter ihres Halses mit Küssen bedeckte. Etwas grob zog sie die Haut von der Eichel zurück und betrachtete misstrauisch den bedrohlichen Zyklopen. Ihr Liebesfluss hatte bereits die Laken durchnässt und tropfte auf den Boden. Sachte schob ich ihre Beine auseinander. Die Schamlippen umschlossen eine klebrige Öffnung, die sich bei jeder Berührung unkontrollierbar zusammenzog. Mein Täubchen, sagte ich und brachte meinen Schwanz in die Nähe der saugenden Quelle. Genau in diesem Augenblick klingelte es wieder. Ich fluchte laut, beschloss so zu tun, als hörte ich es nicht, und drang weiter vor. Sie hielt mich auf. Geh, mach die Tür auf, sagte sie, wer weiß, wer es nun ist. Nur halb bekleidet, stieg ich die Treppen hinunter: An der Tür bot mir ein feister Winzling eine Lebensversicherung auf Raten an, die ich je nach meinen Bedürfnissen in soundso vielen Monaten abzahlen könnte. Ich schlug ihm ohne ein Wort die Tür vor der Nase zu und eilte wieder die Treppen hoch. Als sie mich kommen sah, zog sie ihre Hand zurück. Ich küsste ihre Finger, die nun nach ihrem Geschlecht dufteten. Um keine Zeit mehr zu verlieren, drang ich ohne weitere Umschweife in sie ein, und es umgab mich das Paradies: der peppermintfarbene Himmel, die Sterne in ihren Augen, all das, was ich bereits weiter oben gesagt habe. Sie hatte die Augen geschlossen, biss sich auf ihre Lippen und wiederholte dabei: Oh. Mit dem ersten Beben strömten die Säfte noch stärker aus ihr heraus, flossen unsere Schenkel hinab und tränkten die Laken mit der klebrigen Nässe. Sie sagte mit der Gleichmäßigkeit eines Metronoms: Ja, ja, und zerkratzte dabei meinen Rücken. Zwischen ihre mannigfachen Seufzer mischte sich plötzlich das Rring-rrring des Telefons im Zimmer unter uns. Diese verfluchten modernen Erfindungen, dieses Teufelszeug! Ich tat so, als hörte ich nichts; doch sie hielt in der Bewegung inne und zwickte mich mit den Scheidemuskeln. Ich sah sie ihre Lippen bewegen, vermutlich wollte sie mir etwas sagen, ihre Stimme war aber so leise, dass sie im Geklingel unterging. Geh. Bei diesem Läuten kann ich nicht weitermachen: Es blockiert mich. Das wunderte mich überhaupt nicht. Bei diesem scheppernden Geläute blockierte sogar ich. Ich kam zwischen ihren Schenkeln hervor (die Möse schloss sich, machte plopp, und verströmte noch mehr ihrer Köstlichkeiten) und rannte zum endlos klingelnden Telefon. Ja, bitte, sagte ich in die schwarze Trompete hinein. Jemand fragte nach einem Namen, den ich noch nie in meinem Leben gehört hatte und der weder mit mir noch mit meiner verrückten, kurzsichtigen Tante im Exil etwas zu tun hatte oder je gehabt hatte. Sie haben sich verwählt, sagte ich (ob vor oder nach dem Auflegen, weiß ich nicht mehr). Doch anstatt auf der Stelle die Treppen nach oben zu erklimmen, ließ ich mich auf einen Stuhl fallen und zündete eine Zigarette an: besser, wenn ich mich erst einmal etwas beruhige. Ich bin so nervös! Aber noch ehe ich die halbe Zigarette geraucht hatte, fragte ich mich, was ich denn hier unten wollte, wo sie doch oben auf mich wartete. Ich warf die Zigarette auf den Boden und kehrte in das Schlafzimmer zurück. Du hast geraucht, sagte sie. Ich nickte voll Angst, der Nikotinatem könne ihr missfallen und die Sache verkomplizieren. Doch nein. Ich mag den Geschmack von Tabak auf deinen Lippen, sagte sie lächelnd und knabberte an ihnen. Ich drängte mich zur Eile, sonst käme womöglich noch mal jemand, um uns zu stören. Die Wiesen jenseits des Balkons färbten sich mittäglich ocker und rot. Sie erinnerten nun nicht mehr so sehr an Boticelli als vielmehr an van Gogh. In der Tat war der Friede so vollkommen, dass man die Holzwürmer in den Balken arbeiten hörte. Liebster, sagte sie, bitte bleib bei mir. Wenn uns noch mal jemand stört, tun wir so als hörten wir nichts, schlug ich vor. Nein, das bitte nicht, flehte das Mädchen. Und dann erzählte sie mir eine herzzerreißende Geschichte: Eines Nachts, als ich klein war, lag ich im Bett und hörte jemanden klopfen. Es klopfte und klopfte, immer heftiger. Ich verstand nicht, warum meine Eltern nicht die Tür öffneten. Verängstigt suchte ich sie im Haus und fürchtete, eine zufällig erloschene Gaslampe (zum Beispiel) habe sie getötet. Endlich fand ich sie im Bett: umschlungen, ringend, lachend, stöhnend. Niemand hatte geklopft, vielmehr schlug das Kopfende des Bettes durch die heftigen Stöße gegen die Wand, die erzitterte und das über dem Bett hängende Bild des Christus von Lepanto in Schwingungen versetzte. Seitdem muss ich immer die Tür öffnen, wenn es klingelt, oder das Telefon abnehmen oder was auch immer, ich ertrage solche Geräusche einfach nicht. Kümmerst du dich darum? Natürlich kümmere ich mich darum, versicherte ich ihr, während ich ihre rechte Brust streichelte. In Sekundenschnelle strömte wieder der Liebesfluss, vermischte sich mit dem vorigen, floss an unseren Beinen und am Bett hinunter und sammelte sich auf dem Fußboden in einer flachen Pfütze. Von den Küssen und den Zärtlichkeiten gingen wir wieder zum Wesentlichen über. In dem Moment, als die Eichel in der Vulva verschwand, prasselte ein Hagel aus Ziegelsteinen, Balken und Rohrgeflecht auf uns nieder: Die Zimmerdecke fiel herunter.

Nachdem dieses Problem gelöst war (die Maurerkolonne bezahlt und aus dem Haus getrieben und wir wieder glücklich zu zweit, ineinander), musste ich zwei Zeugen Jehovas die Tür öffnen, die sich in den Kopf gesetzt hatten, mir Seiten aus der Bibel vorzulesen, die mir völlig gleichgültig waren. Ich war noch nicht ganz oben, als es wieder klingelte. Es war eine junge Frau mit einer breiten Produktpalette von Avon. Zwei Minuten, nachdem ich sie, ohne ihrem Sortiment einen Blick zu schenken, hinauskomplimentiert hatte, und genau in dem Augenblick, als wir die ersten präorgiastischen Vibrationen spürten, kam ein Anruf vom Flugplatz (denn inzwischen hatte man sogar das Flugzeug erfunden). Eine Cousine zweiten Grades, Tochter der verrückten, kurzsichtigen und im Exil lebenden Tante, lud sich ein, vierzehn Tage bei uns zu verbringen (das heißt im Haus ihrer Mutter, meiner verrückten, kurzsichtigen und im Exil lebenden Tante). Es war schier unmöglich, sie am Betreten des Schlafzimmers zu hindern. Doch der Duft der Liebesflüssigkeit war so intensiv, dass er sich in allen Fluren, Sälen und Zimmern des Anwesens ausgebreitet hatte und, je nachdem aus welcher Richtung der Wind wehte, auch in den Dörfern und Tälern der Umgebung. Sobald die Cousine zweiten Grades begriff, um was für einen Geruch es sich handelte, fuhr sie ab, verletzt und empört darüber, in der Familie einen Cousin zweiten Grades zu haben, der den hoffnungslosen Casanova gab. Ohne ihr auf Wiedersehen zu sagen, stürmte ich ein weiteres Mal die Treppe hinauf, öffnete erneut die Tür zum Schlafzimmer, und das war’s auch schon! Denn ich musste auf dem Absatz kehrtmachen: Ein Rekrutierungskommando (in Person zweier Soldaten und eines Gefreiten mit einem Haftund unverzüglichen Marschbefehl aufgrund einer Anklage wegen Fahnenflucht, da ich nicht innerhalb der gesetzlich vorgesehenen, schon seit zwei Jahren abgelaufenen Frist vorstellig geworden war, um meinen Wehrdienst abzuleisten) führte mich in eine Kaserne ab. Wenige Monate später brach der Bürgerkrieg aus. Bei meiner Rückkehr musste ich einer großen, ausgehungerten und alt gewordenen Gläubigerschar meine mittlerweile angehäuften Schulden bezahlen, zudem nahm ich halbherzig und völlig unnötig an einer Radioumfrage teil und fuhr nach La Bisbal, weil ein Verwandter im Sterben lag (ich kam an, als er bereits drei Stunden beerdigt war). Welche Unterbrechungen kommen jetzt noch auf mich zu? Doch unverzagt erklimme ich erneut die Stufen, das ganze Haus ist durchdrungen von diesem Duft, den ich inzwischen mit Daheim identifiziere. Ich habe die Absicht, endlich zum Ende zu kommen, mich in ihr zu ergießen und dann entspannt und befriedigt mit ihr einzuschlafen. Oft hatten mich Albträume geplagt, sie sei bei meiner Heimkehr nicht mehr da! Andererseits wäre es ein Leichtes gewesen, dem Ganzen seinen Lauf zu lassen und diese lange Reihe von Hindernissen als Zeichen zu werten, dass wir nicht füreinander geschaffen sind und nach so langer Zeit des erfolglosen Probierens eigentlich aufgeben sollten. Ich öffne die Tür, der Knauf bleibt in meiner Hand, ich werfe ihn in eine Ecke, schiebe mit dem Fuß Berge von toten Maden und ungeöffneten Briefen beiseite. Sie liegt in den Laken, blickt durch das Fenster in die Unendlichkeit. Als sie das Knarren des Fußbodens wahrnimmt, wendet sie aufgeschreckt den Blick. Sie erkennt mich, zieht die Hand zurück, lächelt. Sie öffnet ihre Arme, wie so oft im Laufe jener langen Jahre. Liebster, komm, umfang mich ganz fest, mein Liebster! Und ich umarme sie ganz fest, entledige mich dabei, ohne sie loszulassen, des Waffenrocks, der Weste und der Trauerkrawatte. Ach, könnten wir doch diesen Koitus zu Ende bringen, den wir vor so langer Zeit begannen, als wir noch jung waren und uns in dem Landauer küssten und fälschlicherweise annahmen, in höchstens einer Stunde sei alles vollbracht.

In einer weit zurückliegenden Zeit

Für Roser

An einem blauen Morgen mit weißem Schnee, unendlichem Sand und Gletschern gleich weinenden Zungen stellte sich der Hominid auf seine beiden Hinterbeine und blickte auf eine Erde hinunter, die mit einem Mal fern und quirlig schien. Er dehnte seine Nasenlöcher, zog die Feuchte des Flusses in sich hinein und es war ihm bewusst, dass es die Feuchte des Flusses war, die er roch, und er grunzte vor Zufriedenheit, wendete seinen Blick zur aufgehenden roten Sonne jenseits der Wiesen und Berge, der schwarzerdigen Ebenen und Grashorizonte mit Herden umherziehender Tiere, die ewig waren wie die Zeit. Dann senkte er seinen Blick und richtete ihn fest auf eine Steineiche, hob die Faust, streckte seinen Zeigefinger aus und deutete auf die wispernde Pflanzenmasse vor sich, man hörte die Wasserfälle in der Schlucht, blubberndes Plätschern, kleine unbestimmte Laute: Pa au au ap Pau; bis das Glucksen sich schließlich in ein Wort verwandelte und er sprach: Ba, B, Bau, Bu, Bu, Bau, Baum. Er sagte es gleich noch einmal: Baum, der Zeigefinger zeigte immer noch in Richtung Steineiche, wanderte dann in die blaue Unendlichkeit, die sich von einer Seite des Tages zur anderen erstreckte, der über seinem Kopf neu geboren wurde, wie ein Gott zweier unendlicher Dimensionen, und sagte: Hch, Ch, h, Chh, Chhimmel, und er wiederholte das Wort, sperrte seine Augen sperrangelweit auf, zeigte, noch etwas unsicher, auf den Fluss und sprach: W, Ww, Wwa, Wass, ass, Waass sser. Er lächelte zufrieden, seine Augen strahlten vor Freude, er trat kraftvoll auf, stapf-stapf, richtete seinen Zeigefinger auf die Erde unter seinem Schritt und formte mit einigen Schwierigkeiten die Laute: Ka, kakat, kata, katala, kalat, klata, katal und dann etwas ruhiger: Katal loni Katalon ien. Dabei lachte er fröhlich, ohne zu ahnen, was er da gerade angerichtet hatte.

Über das Nichterscheinen zu Verabredungen

Ich gehe nur selten in die Stadt hinunter: Nur, wenn ich einkaufen oder mit jemanden reden muss; denn zwischen dem einen und dem anderen Ort liegen zwei lange Stunden im Zug durch Minzwiesen und Krokantberge hindurch, obendrein stört mich das Reisen, es ist anstrengend, nimmt mich mit, mir wird dabei schlecht und mein Gesicht leichenblass. Natürlich bleibt einem manchmal nichts anderes übrig, als sich in den Zug zu setzen, ausgerüstet mit Reisetabletten und einem Riechfläschchen, so wie eben heute, denn man kann ja nicht immer nein sagen. Zudem werden wir in der letzten Zeit ja nicht gerade verwöhnt, und kaum hast du dich auf einen der roten Sitze gesetzt, bist du auch schon eingenickt. So vergeht die Zeit schneller, und ehe du dich versiehst, bist du angekommen, selbst wenn du dann bemerkst, dass du viel zu früh da bist. Denn erst als ich aus dem Zug stieg (ein Fuß auf dem Trittbrett, den anderen auf dem Bahnsteig) schaute ich auf die Uhr, doch mit reichlich mehr als genügend Zeit anzukommen, ist ein so in mir verwurzeltes Laster, dass es mich nicht mehr aus der Ruhe bringt: Es war halb eins, und ich war erst um fünf verabredet, was hieß, dass ich eine lange, langweilige Zeit vor mir hatte, eine Aussicht, die mich dazu veranlasste, Zeitungen zu kaufen; in der Nähe des Bahnhofs sah ich einen Kiosk und einen Platz, auf den eine sengende Sonne knallte (ich setzte mich auf eine silberne Bank unter Ulmen aus metallischem Schweigen). Am anderen Ende des Platzes spielten unter den diskreten Blicken ihrer jungen, rosafleischigen Mütter, denen der Geruch von frischem Stroh anhaftete, ein paar krummbeinige Bürschchen Fangen, was mich auf die Idee brachte, Spielsachen und Kuchen zu kaufen. Deshalb machte ich mich auf den Weg zu den Riesenkaufhallen, diesen Betonmassen, die mein Geld verschlangen und mich später mit einem trommelnden Kopf aus kunterbunten Melodien wieder ausspieen. In der verbleibenden Zeit ließ ich mich an den Schaufenstern, den Luftballons und explosiven Distelfinken vorbeitreiben, die Lupinenkerne zum halben Preis anpriesen, und gesellte mich zu einer Gruppe von Leuten: Sie bildeten einen Kreis, in deren Mitte zwei Quallen mit majestätischer Gewalt gegeneinander kämpften, sie bewegten dabei Arme, Beine, Flügel und Saugnäpfe. Es war wie bei den mexikanischen Hahnenkämpfen; Staub an den Kehlen der schwitzenden Zuschauer in geblümten Hemden. Eine der beiden Medusen umklammerte die andere und schien ihr Blut auszusaugen, ein nicht existierendes gelbes, stinkendes Blut, das unaufhörlich kochte, bis sie zu Boden fiel und nicht mehr aufstand (der Besitzer der Siegerin sammelte stolz sein Tier ein: Er griff es mit der Hand und zeigte es in Siegerpose lächelnd dem Publikum, die Scheine in der Tasche; der Verlierer weinte mit der toten Qualle im Arm). Die Leute liefen allmählich auseinander und ich mit ihnen. Ich bekam Hunger, warf die unangetastete Papiertüte mit den Lupinenkernen weg, betrat ein Restaurant und bestellte Sauerkraut, Mineralwasser und einen doppelten Espresso (der letztendlich ein Brandy auf Eis war und öligbitter wie Benzin schmeckte). Ich betrat das Gebäude (mit einer riesigen Uhr an der Fassade), als es fünf vor fünf war. Alles schien verlassen: die Eingangshalle, der lange, verglaste Flur, der in einen kalten Garten mündete, die seitlichen Säle voll gesalzener Elektrizität und bar jeglicher Aktivität. Auf einer Theke fand ich ein schlafendes Pförtnergesicht. Als ich nach dem Herrn Oliver fragte, schaute der Concierge schläfrig zu mir hoch und versicherte mir apathisch, dieser sei nicht da, er habe ihn den ganzen Tag nicht gesehen. Trotz dieser ganzen Beteuerungen insistierte ich weiter, sodass er mich schließlich einließ. Dann schauen Sie eben selbst nach, sagte er (mit einer Spur Häme in der Stimme), mal sehen, ob Sie ihn finden; mehr kann ich nicht für Sie tun. Und er legte seinen Kopf wieder auf dem Marmortisch ab und machte die Augen zu, während ich mich entschloss, durch die mephistophelischen Schatten eines modernen Märchens zu schweifen: Finsternis und Rasiermesserstille, leichte Fußspuren auf dem glänzenden Boden, alles gewürzt mit einem Duft von Magenta, von fauligen, blau bemalten Granatäpfeln, eine lange Kamerafahrt, ich weiß nicht, ob parallel oder frontal, unter Sonnendächern, durch kalte Räume und zwischen eingestaubten Kulissen hindurch: große Balkone über einem Ganges aus Plastik, eingerissene Dünen aus gelbem Karton, Papieravenuen in New Yorks vom Trödel, Gefängnisse aus Pappe mit Drahtfenstern, Styroporschnee und Papiereis und darüber: ein einziges schwarzmechanisches Netz unter einer unsichtbaren Decke. Das Rauschen unsäglicher Flüsse, von hochspezialisierter Polizei bewacht (die Studios verlassen: keine einzige Kontrolle im ganzen Gebäude). Durch Porzellanflure hindurch erinnert der Hunger der Motten an vergessene Erzählungen Poes: kalte Apparate, Kameras über Kameras, Galgen, verrostete Mikros, alles düster und dunkel (keine Spur einer menschlichen Seele). Ab und zu ein stummes Fernsehgerät, wo dunkle Schatten mit menschlichem Antlitz tanzen, die Lippen bewegend und unhörbare Worte sagend, wo sich glückliche Paare ohne Musik drehen, wo Stoffcowboys lautlose Schüsse abfeuern (Stille in einem Meer aus süßem Eis). Ich schaue auf die Uhr: viertel sechs, und noch ist keiner da (sie haben sich verspätet, denke ich, vielleicht kommen sie noch). Ich gehe weiter, nun durch ein Indianerdorf. Eine Kamera ist auf einen Stuhl gerichtet, der von einem weißen Scheinwerfer angestrahlt wird. Ich setze mich. Schaue. Vor mir reproduziert ein kleiner Bildschirm mein Bild: Wenn ich mich bewege, bewegt sich eine kleine Kopie von mir; wenn ich tanze, tanzt sie; wenn ich lache, lacht sie; wenn ich ruhig ins Objektiv schaue, bleibt sie stumm und schaut mir in die Augen. Sechs Uhr. Ich gehe. Jede Geduld hat mal ein Ende. Ich laufe die Treppe hinunter, komme in die Halle: Der Pförtner ist nicht mehr da. Alles ist leer. Ich öffne die Tür und dann sehe ich den kleinen, blassen Mann dahinter, der mich mit gesenktem Kopf beobachtet. Und Sie?, frage ich ihn. Sind Sie auch wegen der Aufnahmen gekommen? Haben Sie Herrn Oliver gesehen? Was für eine Unverschämtheit! Und da er nicht antwortet, packe ich ihn am Kragen und hebe ihn hoch (die Füße zappeln durchsichtig). Ich bin hier, um das Haus abzuschließen, antwortet er und schaut mir dabei in die Augen. Ich stelle ihn wieder auf den Boden, und er fügt hinzu: Um diese Uhrzeit gehen sie alle, sie haben es satt, noch länger zu warten. Dann komme ich und schließe ab. Das Männchen hat mir anscheinend nichts mehr zu sagen und bewegt sich nervös, so als sei es zu spät und daher in Eile oder als trage es auf seinen Schultern eine große Last, die durch meine Fragen noch größer wird. Ich mache mich auf den Weg und suche ein Taxi, das mich zum Bahnhof bringt.

Uff, sagte er

Sie tranken Kaffee und aßen Cremetörtchen. Uff, sagte er schließlich (denn zuvor hatte er den Mund voll, nicht nur mit Kuchen, sondern auch voll Trägheit, und hätte ihn nicht aufgekriegt). Sie schaute nicht einmal zu ihm hin (es war soooooo heiß und das Fenster wie immer geschlossen). Das Fenster ist wie immer zu, bemerkte sie. Er antwortete nicht (sondern dachte, im Hochsommer ist Hitze doch völlig normal). Mach es auf, wenn du willst, schlug er vor, denn er hatte den Eindruck, etwas sagen zu müssen. Sie aber stand weder vom Stuhl auf noch gab sie einen Kommentar dazu ab. Es war, als würde das Wetter sie in aller Stille fertigmachen. Sie nahm die Teekanne und goss ganz langsam Kaffee in die Tasse (die Kaffeekanne war bereits vor einem Jahr kaputtgegangen, doch sie hatten beschlossen, keine neue zu kaufen: Sie tranken nicht gerne Tee, und die Teekanne würde es für den Kaffee auch tun). Eine Fliege kreiste über dem Kuchen. Sie hob die Hand, um sie wegzuscheuchen, doch dann war ihr das ein zu großer Kraftakt für die kleine Belästigung, die die Fliege darstellte, und sie ließ es sein. Für ein paar Sekunden hing ihre Hand in der Luft. Dann legte sie sie langsam auf dem Tisch ab. Ich glaube, sagte er in die Luft schnuppernd, diese Hitze zieht die Fliegen an. Auf der anderen Seite des Fensters erstickte die Sonne ein syphilitisches Efeugewächs, das mehr tot war als lebendig und sich an dem einzigen sauberen Fleck auf der schmutzig weißen Wand festkrallte. In Kürze würde der Sonnenstrahl die Fensterscheibe erreichen und ins Zimmer eindringen. Ja, pflichtete sie ihm bei, stierte in die Tasse und schlug mit dem Kaffeelöffel dagegen (kling-kling, winzig und warm, ertönte es in gleichmäßigen Abständen). Würdest du bitte damit aufhören?, fragte er genervt. Sie warf den Löffel auf den Tisch, was einen sanftweichen, orangefarbenen Klang ergab. Früher, sprach er weiter, waren die Sommer nicht so heiß. Alles verkehrt sich, beendete sie seinen Gedanken. Sie waren sich einig und saßen schweigend da, während die Sonne weiterwanderte: über die Köpfe der schlapp vor sich hin trottenden Menschen auf der Straße, der Kinder am Strand, sonnengeblendet. Sie mischten die Karten und hoben ab. Sie hatte zwei Paare.

Als sie wieder hochschauten, war der Himmel bereits dunkel und leuchtete schwarz. Sie machten die Tischlampe an, sammelten die Karten zusammen und schalteten mit der Fernbedienung den Fernseher ein. Auf dem Tisch lagen noch Wurst und kalte Toastscheiben, die sie nebenbei in sich hineinfutterten. Als das Fernsehprogramm, die Nationalhymne usw. zu Ende waren, schneite es auf dem Bildschirm und sie schliefen in den Sesseln ein. Gegen Mitternacht flogen dann rosa Tauben, schwarze Hähne aus Zuckerrohr, goldene Hirsche, Lapislazulimöwen, bunte Efeuranken und die stets zum Lachen aufgelegten Heliotropgiraffen durchs Fenster herein. Sie blieben bis zum frühen Morgen und entschwanden mit dem Aufgehen der Sonne einer nach dem anderen, sodass, als er und sie erwachten (die Sonne brannte bereits auf die schmutzig weiße Wand vor dem Fenster) die Tiere und Pflanzen fort waren. Sie tranken Kaffee und aßen Cremetörtchen. Uff, sagte er schließlich (denn zuvor hatte er den Mund voll und hätte ihn nicht aufgekriegt).

Über die Wankelmütigkeit des menschlichen Geistes

Für den Allesfresser VallcorbaPlana

Natürlich hatte er als Kind Buchstaben aus der Suppe gelöffelt, aber ein aus weißem Papier ausgeschnittenes A zu verzehren, rief dann doch ein befremdliches Gefühl in ihm hervor. Er hatte das A mit einer riesengroßen Schere bedächtig und sorgfältig ausgeschnitten und sah dabei benommen, wie jenseits der Terrassenfenster der Abend hereinbrach. Es war einer jener traurigen Abende, an denen man nicht weiß, was man mit sich anfangen soll, und sich schließlich an den Alltagskram klammert, wie Blumen gießen, Bücher auf dem obersten Regalbrett abstauben, Fingernägel schneiden, bis man zum Schluss nur noch die Schere in der Hand hat, der es gefällt, sinnlose Formen auszuschneiden, und eine davon wird eben ein A, das er jetzt so gierig aufaß, als sei es eine feine Speise. Nachdem er das A aufgegessen hatte, schnitt er ein B aus; dann ein C und ein D und mit immer größerem Appetit verschlang er einen Buchstaben nach dem anderen. Als die Nacht schon aussah wie eine schwarze Scheibe, bildete er bereits kurze Worte – Ei, Ohr, Hut, Tee, Rom, Lohn, – die er genüsslich verspeiste. Zwei Tage später bemerkte er, da er nichts anderes mehr aß, dass die Buchstaben zu seiner Ernährung ausreichten. Er brauchte weder Obst noch Milch noch Fleisch noch Gemüse noch Fisch. Normale Lebensmittel ließen ihn kalt – jeden Tag etwas mehr – und bereits zwei Wochen später widerten sie ihn eher an. Mit der Zeit konnte er die verschiedenen Buchstaben auseinanderhalten, nicht so sehr nach dem Stoff, aus dem sie gemacht waren (der spielte keine Rolle, hatte keinerlei Einfluss auf Nährstoffgehalt oder Geschmack), sondern die verschiedenen Schrifttypen, Körper und Varianten. Er entdeckte, dass Buchstaben ohne Serifen verdauungsfördernder waren als solche mit; von denen war die Egyptien die schwerste Kost, die, vor dem Schlafengehen verzehrt, Schlaflosigkeit und schreckliche Albträume verursachte. Die Erfahrung lehrte ihn, dass die englische Schreibschrift gut gegen Verstopfung war, gegen Hepatitis gab es nichts Besseres als halbfette Helvetica und die mittlere Futura wirkte ausgezeichnet gegen Herzrasen. Zur besseren Verdauung aß er die fette Futura mit weniger als 24 Punkt (und immer gewürzt mit etwas American Typewriter). Natürlich entwickelte er bestimmte Vorlieben: die Baskerville, die Gill, die Stymie. Dagegen verabscheute er die Blippo und die Avantgarde. Die Times war ihm gleichgültig; so wie gekochter Seehecht, meinte er eines Tages, doch dann fiel ihm ein, dass er (damals, als er sich noch konventionell ernährte) manchmal sehr gerne einen guten gekochten Seehecht gegessen hatte, oder auch einfach gedünsteten. So ließ er sich Texte in Times auf unterschiedliches Papier drucken: auf blaues und grünes Martelé, auf rosa Couché, auf vergilbte Bibeln. So wurde auch die Venus Fina, die er bisher extrem langweilig gefunden hatte, (in 38 Punkt und dunkelgrüner Tinte auf türkisem Glanzpapier) zu einer seiner Lieblingsspeisen. Dann kam die Frage des Weines: Welcher Wein passte zu welchem Buchstabentyp? Das führte zu einer langen Periode mit Weinproben: die manchmal danebengingen, doch meist von Erfolg gekrönt waren. So fand er heraus, dass zur Helvetica wunderbar Burgunder, Barolo, Chianti, Cabernet, Rioja und Priorat passten. Zur Futura (sowohl zur fetten als auch zur schmalen) passte ausgezeichnet ein elsässischer Wein oder auch ein guter Moriles. Und im Allgemeinen zu allen Groteskschriften Ribeiro, Penedès, Valdepeñas, Silvaner, Riesling, Sancerre, Chablis. Zu den Schriften mit Serifen passten wunderbar Bages, die großen Bordeaux-Weine (wie der Château-Latour, Château-Margaux oder Saint-Émilion), ein paar Burgunder oder die aus Tudela und Elciego. Nach zwei Monaten stopfte er Zeitungen, Zeitschriften, Arzneimittelprospekte, Bücher, leichte Pappschachteln und kleine Leuchtschriften in immer größeren Mengen in sich hinein; und ein Abendessen war kein richtiges Abendessen, wenn nicht irgendein Band einer Enzyklopädie und irgendein Neonbuchstabe dabei waren. Er kaufte eine große Anzahl an Buchstaben-Sets. Nachts drang er in Druckereien ein und verschlang alle Drucktypen, die er finden konnte. Er schob die Zeilensetzer beiseite und fraß die Bleibarren, so wie sie aus der Maschine fielen. Er entdeckte die kulinarische Raffinesse des griechischen Alphabets (deren ersten, etwas schwülstigen Eindruck er revidieren musste), den Genuss des Kyrillischen, den exotischen Geschmack der chinesischen Zeichen, die Unterschiede zwischen dem Thailändischen und dem Kambodschanischen, das Schmalz des Arabischen. Er brauchte ABC-Fibeln wie andere die Luft zum Atmen. Das Einzige, was ihm auf dieser Welt fehlte, war Zeit. Durch die Literophagie war er zum Glück gelangt; Tag und Nacht folgte sein ganzes Leben nur einem einzigen Zweck: neue Schriftzeichen zu probieren. Reiste er, so tat er dies ausschließlich, um Varianten der gebräuchlichen Buchstabentypen kennenzulernen. Er besuchte Lettergießereien, wie andere Champagnerkellereien oder Brauereien besichtigen, und er war der glücklichste Mensch auf Erden, wenn er einen neuen, frischen, gerade vollendeten Buchstaben zwischen die Finger (und Zähne) bekam. Er suchte Grafiker auf und unterstützte sie dabei, Varianten in die bekannten Designs einzufügen. Einige hielten ihn für verrückt, doch mit der Zeit mussten auch sie eingestehen, dass sein Rat nützlich und treffsicher war, beispielsweise gab er einer leicht schlampigen Form, für die niemand eine Lösung gefunden hatte, den perfekten Schliff. Infolgedessen ließen sie ihn reden und, wenn sie nicht mehr weiterwussten, forderten sie ihn sogar an, bevor sie eine neue Form auf den Markt brachten, und baten um seine Zustimmung. Er war es, der mit einem Lächeln auf den Lippen die letzten Ratschläge gab, damit die neue Type so wurde, wie sie sein sollte, sowohl vom typografischen als auch vom kulinarischen Standpunkt aus.

Aber ach, der Wankelmut! Drei Jahre später hatte er genug von den Buchstaben. Nach ein paar weiteren Monaten überfiel ihn bei ihrem Anblick bereits ein unwiderruflicher Ekel. Doch zur gleichen Zeit zeigte er gottlob ein wachsendes Interesse an Miniaturschiffen.

Platssschh

PLATSSSCHH: Ich werfe mich in die Fluten, denn es ist heiß und ich schwitze, meine Haut stinkt, ich bin erschöpft, und das Wasser perlt klar und frisch, die Spritzer des Bauchplatschers, also meines eher uneleganten dickbäuchigen Kontaktes mit der sinnlich oszillierenden, amoralischen Mittelmeeroberfläche lösen sich in dem weißen Schaum auf, der an den Strand brandet und im Sand versickert, ich schwimme ein paar Züge, prust, bah, prust, bah, prust, bah, entsteige, BLUBB, dem Wasser, entzückt von meiner kupferfarbenen Haut, ich sommerlicher Apoll, eingebildeter als Johnny Weissmüller, und stelle mich bewusst zur Schau, drehe eine Runde in dem Netz aus gelangweilten, gehässigen, ausgehungerten und drögen Blicken von vier nordischen Weibern, die sich hinter schrecklichen Sonnenbrillen verstecken und so tun, als würden sie die Bunte oder den Stern lesen, so als hätte es irgendeine Bedeutung für sie, welches Metallic-Plastikkleid der Schwachkopf Rabanne entworfen hat oder welche Schlüpfer die Ische von Schmidt trägt oder welche Farbe die Mandarinen haben, die sie, Caroline von Monaco, kleines Mädchen, mit diesen Erdbeerlippen verspeist und die in mir unter anderem ein plötzliches und unvorsehbares Interesse an der Aristokratie geweckt hat, insbesondere an ihr und dem blauen Blut in ihren Venen, die völlig verrückt in einzelnen Strängen ihre Brüste durchschlängeln, diese Aprikosen, diese Pfirsiche, diese frischen Früchte, die da sind, um sich darin zu suhlen und dein Lachen deine Augen deine Zähne zu beweinen und die Sozialisierung der Welt zu fordern, sie EINZUKLAGEN, nicht für umsonst (die Welt ist uns scheißegal), sondern für dich, Caroline, und dann, während die Sonne uns durch puren Wasserentzug die Haut einreißt (es ist Mittag, und eigentlich dürften die Schatten nicht so lang sein, aber die seltsame Uhrzeit, mit der wir hier ständig herumlaufen, ist ja stadtbekannt), schlendere ich in Richtung Strandpromenade, oder wie auch immer sie hier heißen mag, zur Bar auf dem Platz, wo ich ein Tagesgericht für fünfundneunzig Peseten und ein kühles Bier bestelle, beim Trinken bemerke ich Landsleute, hey, Leute, was gibt’s?, tja, eigentlich nichts, na, gut, okay, wir sehen uns später, ja, im Western Saloon, ich zahle und begebe mich in meine Pension auf mein Chambre und ruhe mich ein wenig aus, denn, Mann, bin ich erschöpft vom vielen Tanzen (vier Tage bin ich schon hier) und nichts, rein gar nichts in Sicht, ist das nicht widerlich bei soviel Lloret, komm nach Lloret, Mann, da gibt’s genug Frischfleisch, und nichts am ganzen Horizont, Mann, was willst du da machen?, das nächste Mal werden sie mir aber nicht entwischen. Ich wache um neun auf, es ist immer noch nicht schwarze Nacht, ich begebe mich auf die Straße hinunter, betrete die Hamburger-Bar und bestelle einen Hamburger mit Ketchup und Zwiebeln und ein Volldamm. Alle Achtung, wie die schuften, bei dieser Affenhitze im weißen T-Shirt mit schweißnassen Achselhöhlen und dem Käppi auf dem Kopf, auf diesen üppigen, schmutzigen, herabwallenden Locken, einen Cheeseburger, please, ich schlinge ihn mit zwei großen Bissen hinunter, dann gehe ich; es ist zehn Uhr, und ich treibe durch den Menschenstrom, der bald alles ausfüllt, betrete eine Spielhalle und spiele zwei Runden Flipper, doch bei der zweiten Runde verlässt mich das Glück, denn bei der ersten Kugel mache ich einen Fehler, TILT!, dann gehe ich zum Bowling, zur Bar dort, wollte ich sagen, und trinke noch ein Bier, krrrrrrrrrk! das rutschige Geräusch der Kugel, die immer näher kommt, plopp!, krooook, dann ist mir auch hier langweilig, und ich zieh weiter und hole mir Pommes in einer Bar aus weißem Kunststoff und Resopal, auf einer Bank an der Promenade mit Blick aufs Meer stopfe ich die Pommes in mich hinein, in meinem neuen, verschwitzten T-Shirt (vor allem unter den Achseln), das ich mir gestern gekauft habe, in Rot; und betrachte dabei den Himmel, so weit und ganz schwarz und voller weißgelber Punkte, ach, jetzt auch noch philosophisch!, ich werfe die fetttriefende Pommes-Tüte weg und schmeiße mich wieder in das Labyrinth von Straßen, Souvenirs und unentschlossenem Fleisch, hi, Kumpel, hey, was gibt’s?, es ist Perlanca, der auf und ab schlendert, komm, gehen wir in den Western Saloon? Ja, der Lärm (Musik), der auf einen niederprasselt, ist heftig, too much, wie die Polyglotten sagen, wir setzen uns in eine Ecke, es sind lauter behaarte Typen und supertolle Weiber da, voll cool und distanziert, und der Kellner, ein Blonder, two beers, what?, two beers!, two beers!?!, YEAH!, scheißegal, ob man spricht oder schreit, man versteht sowieso kein Wort bei dem Radau und der Musik, die Rolling Stones aus der guten alten Zeit, Mann, klatsch den Rhythmus mit, ein Chuck Berry von 58, Reserva Carta Blanca, mmmhh, gut, dann wird das beer serviert (dreißig Peseten and five for the boys und ich kapier’ gar nichts mehr), o.k., langsam komm ich gut drauf, bofff, Traumurlaub, eine Frau beginnt zu tanzen, wow, blond und seidenglatte Haare, Augen wie Brunnen, Lippen wie Matratzen und einen Busen, der bei jeder Verrenkung außer Rand und Band gerät, bis der Gorilla auftaucht, das hier ist keine Disco, das wussten wir, Mann, also nichts mit Tanzen, die Frau hört auf, Frust durchzuckt ihre Matratzen, es ist zum Heulen und Hinsetzen und noch mehr Bier saufen, bis wir uns schließlich durch eine kleine Gasse verdrücken und ich mit einem Bäumchen zusammenknalle, ein untrügliches Zeichen oder so was Ähnliches eines very interesting Rauschzustandes, beschickert oder betütert, und ich setze mich hin. Perlanca, komm, wir setzen uns auf den Gehweg und lauschen in die Stille, sie ist so strange, die Stille und die weiße Wand, hmmmmm, auf, wir gehen in eine Disco, in Ordnung, und wir machen uns auf die Suche, an einer superscharfen Ecke, blau-rote Lichter, ha, die ist sicher gut, wir hätten auch ins Revolution gehen können, zu weit, wir tanzen hier und lassen es uns gut gehen, gut, wir werfen uns, HOPP!, auf die Tanzfläche, klasse, bestellen einen Cubalibre, doch man serviert uns eine Cola mit Gin, was soll denn das, aber macht nichts, das hier ist das Leben und nicht der Achtstundentag im Büro, dieser Song ist toll, von Rosana de los Diablos, wie schön!, es gibt ein paar ausländische Girls, alle Achtung; wir setzen uns, ich muss etwas ausruhen, die Lichter: gelb, knallrot, grün, blau; weiße Spots: flash flash flash flash, alles dreht sich, Mann, wenn man sich eine angeln könnte . . ., doch dieses Jahr ist echt ’ne Katastrophe: Nicht einmal Barça gewinnt die Liga, wie soll denn dann der Urlaub klappen, ha ha, und dieses Jahr ohne den Michels, da muss man erst mal abwarten, und dieser neue Typ, der Deutsche, ich weiß nicht einmal, wie er heißt, erstmal abwarten, wie?, ach so was!, neben uns ein paar Tussen mit Riesenzinken, ein bisschen stulle, die taugen nichts, hast du ’ne Alternative?, scheinen von hier zu sein, hallo, was?, oh Gott, wie sollen wir das bloß anstellen, Perlanca?, noch eine Cola mit Gin, und auf geht’s, was für eine Hitze, Perlanca hebt ab, heute ist er besser drauf als ich, und die Tussen reagieren (sind die öde . .    Playboy