9

THE BRONKELMAN FUND

JOHN HANCOCK TOWER

BOSTON, MASSACHUSETTS

Dewey trug einen marineblauen Anzug, ein weißes Hemd mit geknöpftem Kragen und eine grüne Krawatte. Er hatte das gesamte Outfit am Tag zuvor bei Brooks Brothers erstanden, auch die Budapester, die er an den Füßen trug. Seine Haare trug er kurz geschnitten und er hatte sich glatt rasiert. Er reichte dem Sicherheitsmann das Autorisierungsschreiben, trat durch den Metalldetektor und ging auf die Aufzüge zu. Auf der 47. Etage stieg er aus.

Der Korridor war menschenleer. Er ging zu einer doppelten Glastür, in die elegant geschwungen die Lettern TBF eingraviert waren. Mehrere Meter dahinter saß eine attraktive Brünette an einem großen Schreibtisch. Er hörte das leise Klicken, mit dem das Schloss entriegelt wurde. Er zog die Tür auf und betrat das Reich von Chip Bronkelman.

»Mr. Andreas?«, fragte die Frau. Sie stand auf und reichte ihm die Hand.

»Ja«, bestätigte Dewey.

»Willkommen bei Bronkelman«, sagte sie. »Ich bin Monica George. Chip erwartet Sie bereits. Bitte kommen Sie mit.«

Dewey folgte ihr durch den Eingangsbereich. Am Ende des Flurs stand in der Ecke eine Flügeltür offen. Dewey sah in ein geräumiges Büro hinein und durch die großen Fenster im Inneren auf die Skyline von Boston und den blauen Ozean im Bostoner Hafen.

Als er über den dicken weichen braunen Teppichboden ging, registrierte Dewey die großflächigen Gemälde an den Wänden. Edward Hoppers berühmtes Ölbild eines American Diner bei Nacht. Mehrere Arbeiten von Andrew Wyeth. Eine davon zeigte ein Feld, das sich bis zu den fernen Ausläufern eines Strands erstreckte. Es erinnerte ihn an eine Landschaft in Blue Hill, in der Nähe von Castine. Danach kam eine Reihe von Picassos. Es war still in den Büroräumen, als seien sie schalldicht isoliert. Dewey passierte eine Batterie junger Börsenanalysten, die vor Flachbildschirmen saßen, immer zwei pro Schreibtisch, und jeder Schirm war voll mit roten und grünen Ziffern und Diagrammen, auf denen Kurven nach oben und unten zeigten.

»Kann ich Ihnen etwas bringen?«, fragte Monica. »Wasser? Kaffee? Tee?«

»Nein danke.«

Sie führte ihn in das Eckbüro. Es war riesig und zwei der Wände bestanden komplett aus Glas. Ein imposanter Schreibtisch aus massivem Holz war vollgestellt mit Monitoren. Es mochten ein Dutzend sein und dazwischen standen und lagen mehrere Telefone. Der Stuhl hinter diesem Ungetüm war leer, aber aus einer Sitzecke im gläsernen Winkel des Zimmers erhob sich ein übergewichtiger Mann in Jeans und rotem Hemd, das lose herabhing. Er hielt sich ein Mobiltelefon ans Ohr, lächelte und winkte Dewey zu, sich zu ihm zu gesellen.

»Ich ruf dich zurück«, sagte er in den Lautsprecher des Handys und ließ es auf den Glastisch fallen, bevor er ein paar Schritte auf Dewey zu machte. »Dewey Andreas, wie geht es Ihnen? Schön, Sie kennenzulernen. Ich bin Chip Bronkelman. Kommen Sie rein, setzen Sie sich, machen Sie es sich bequem.«

Dewey schüttelte Bronkelmans Hand.

»Ich freu mich auch, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

»Schließen Sie die Tür, ja, Monica?«

Dewey war mindestens 15 Zentimeter größer als Bronkelman. Der Hedgefonds-Manager war höchstens 1,70 Meter, wog dabei aber mindestens 150 Kilo. Er hatte eine Glatze, trug eine Brille und ein breites, ansteckendes Lächeln zur Schau.

Bronkelman setzte sich auf eins der Ledersofas. Dewey nahm gegenüber Platz.

»Sie sehen nicht aus wie jemand, der gerne Krawatten trägt, Dewey«, bemerkte Bronkelman.

»Das stimmt.« Dewey nickte.

»Gut. Ich will nicht, dass meine Leute Krawatten tragen. Ganz ehrlich, ich verstehe nicht mal, wozu die gut sein sollen. Ursprünglich wurden Krawatten erfunden, damit man damit das Essen abfängt, bevor es aufs Hemd fällt. Und heute wäre es eine Katastrophe, einen Fleck reinzumachen, denn so ein Teil kostet locker 200 Mäuse.«

Dewey grinste, schwieg aber.

»Also, Sie stammen aus Maine, sind aufs Boston College gegangen und haben da Football gespielt, nach Ihrem Abschluss dienten Sie bei der Armee, waren bei den Rangers und zuletzt ein Delta«, fasste Bronkelman zusammen.

»Ja.«

»Jessica sagte, dass Sie noch ein paar andere Sachen gemacht haben, über die sie mir nichts sagen darf, weil es um Angelegenheiten der Nationalen Sicherheit ging.«

Dewey bestätigte die Angabe mit einer knappen Kopfbewegung.

»Sie hat mich auch davor gewarnt, dass Sie nicht viel reden.« Bronkelman lächelte. »Das ist mir ganz recht, denn ich rede ja selbst genug für zwei. Es geht also um Folgendes: Ich brauche jemanden, der den Personenschutz übernimmt und koordiniert. In der Hauptsache für mich und meine Familie. Im letzten März ist meine Tochter während einer Reise nach St. Barth entführt worden. Es hat mich mehrere Millionen Dollar gekostet, sie zurückzubekommen. Das Geld ist mir egal, aber wenn ich Rebecca verloren hätte, hätte ich mir das nie verziehen.«

»Wer steckte dahinter?«

»Das wissen wir immer noch nicht. Der Austausch wurde von jemandem bei der CIA abgewickelt. So habe ich auch Jessica kennengelernt. Sie war diejenige, die mir empfahl, einen Profi ins Boot zu holen.«

»Ich verstehe. Macht es Ihnen etwas aus, mir zu sagen, was genau Sie tun?«

»Ich bin Investor. Größtenteils Währungen. Man nennt uns auch globale Makroinvestoren. Ich prognostiziere unter Einbeziehung aller verfügbaren Daten, in welche Richtung sich die Währung eines bestimmten Landes gegenüber dem Dollar entwickelt. Wir betreuen ein Volumen von etwa 30 Milliarden Dollar. Versicherungsgesellschaften, Stiftungsgelder, wohlhabende Einzelpersonen. Fast die Hälfte davon ist mein eigenes Geld. Kunden vertrauen Leuten, die ihr Geld selbst in die Geschäfte investieren, die sie anderen schmackhaft machen wollen.«

Dewey lächelte.

»Wissen Sie, Jessica hat mir ein bisschen was über Sie erzählt. Ich weiß, dass das für Sie ein lausiger Job ist, ein fauler Kompromiss, etwas, womit Sie sich eben arrangieren. Und ich bin sicher, dass Sie sich die meiste Zeit über zu Tode langweilen. Aber ich will eben gar nicht die Art Mensch, die sich um einen solchen Job reißt. Denn das tut nur ein Schwachkopf. Ich will jemanden, für den diese Aufgabe langweilig ist, der sich gerade so damit begnügt. Dann weiß ich, dass ich den richtigen Mann habe.«

»Ich fühle mich geschmeichelt, dass Sie mich in Betracht ziehen«, erwiderte Dewey. »Ich betrachte es definitiv nicht als faulen Kompromiss. Ich bin mir bloß nicht sicher, ob ich der Richtige dafür bin.«

Bronkelman lehnte sich vor. Er sah irgendwie seltsam aus und hatte eine nasale Stimme, sprach zu schnell. Dewey mochte ihn.

»Ich mache Ihnen folgendes Angebot und Sie denken darüber nach«, schlug Bronkelman vor. »Lassen Sie sich Zeit. Ihr Grundgehalt liegt bei einer Million Dollar und es gibt noch einen netten Bonus obendrauf. Sie können meinen Privatjet benutzen, wenn ich ihn nicht gerade selbst brauche. Ich stelle Ihnen ein Budget zur Verfügung, damit Sie ein paar Leute einstellen können und nicht selbst die ganze Zeit babysitten müssen.«

»Das ist sehr großzügig.«

»Und noch was. Wir werden ja eine Menge Zeit miteinander verbringen. Also zeige ich Ihnen, wie mein Geschäft läuft. Vielleicht erweisen Sie sich ja als Naturtalent. Mein bester Währungshändler ist ein Kerl, der nicht mal einen College-Abschluss hat. Er spielte Online-Poker, seit er 15 war und ich ihn eingestellt habe. Ich zeige Ihnen, wie das geht, bringe Ihnen eine weitere Fertigkeit bei. Und ich bin sicher, dass Sie mir auch ein oder zwei Sachen beibringen können.«

Dewey grinste.

»Brauchen Sie ein paar Referenzen?«

»Nein. Die habe ich doch schon. Jessica ist die beste Bürgin, die ich mir vorstellen kann. Ich weiß, dass Sie der Richtige für mich sind. Ich habe mich noch nie geirrt, was Menschen angeht. Sie wirken auf mich wie ein Kerl, der schon eine Menge interessanten Mist erlebt hat. Und da greife ich zu. Ich sage den Leuten immer, dass der beste Zeitpunkt zum Kaufen gekommen ist, wenn etwas unterbewertet wird. Und meine besten Trader sind diejenigen, die auch schon mal ein Vermögen verloren haben. Oder zwei.«

Bronkelman stand auf. Dewey tat es ihm gleich. Sie schüttelten einander die Hände.

»Lassen Sie sich Zeit«, wiederholte Bronkelman. »Ihnen ist klar, dass Sie den Job mit links erledigen können. Und er ist gut bezahlt. Ich bin ein angenehmer Boss. Meine Leute mögen mich, weil ich fair und loyal bin. Ich will Sie in meinem Team haben, also geben Sie mir Bescheid, wenn Sie sich entschieden haben.«

Dewey nahm den stündlichen Delta-Flieger vom Bostoner Flughafen Logan zum LaGuardia Airport außerhalb von New York City. Als das Flugzeug landete, war es schon fast 17 Uhr. Um sechs hatte er sich mit Meir in der Lobby des Mark Hotel verabredet.

Dewey mochte Bronkelman, sogar mehr, als er im Vorfeld erwartet hatte. Der Mann wirkte geradeheraus, freundlich und kein bisschen förmlich oder arrogant. Offenbar war er auch einsame Spitze in seinem Job. Interessanterweise reizte Dewey die Gelegenheit, etwas Neues zu lernen, weit mehr als das viele Geld.

Er nahm sich vor, sich pflichtbewusst ein oder zwei Tage Zeit zu lassen und darüber nachzudenken. In der Zwischenzeit konnte er sich mit Kohl Meir treffen und herausfinden, was dieser von ihm wollte. Er plante, nach Washington zu fahren, um Jessica zu sehen. Von dort aus konnte er Bronkelman anrufen und zusagen.

Dewey stieg aus dem Flieger und lief direkt zum Terminal, weil er lediglich Handgepäck in Form seiner ledernen Reisetasche dabeihatte. Draußen ging er zum Taxistand.

Aber dann hörte er einen lauten Pfiff. Als er sich umdrehte, sah er eine schwarze Limousine mit getönten Scheiben im Leerlauf am Taxistand warten. Das hintere Fenster war zur Hälfte heruntergekurbelt. Er erkannte Hector Calibrisis Gesicht.

Dewey trat auf den großen Wagen zu.

»Hi, Dewey«, begrüßte Calibrisi ihn. »Steigen Sie ein.«

Dewey nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Ein junger Beamter saß am Steuer, hinten Calibrisi und Jessica.

Er starrte sie mehrere Augenblicke lang an. Sie erwiderte sein Starren mit festem, aber ausdruckslosem Blick.

»Hi, Dewey.«

»Hi, Jess«, grüßte er zurück. »Mein Beileid wegen dem Präsidenten.«

»Danke«, erwiderte sie einsilbig.

Dewey wandte sich an den Fahrer.

»Können Sie mich zum Mark Hotel bringen? 77th Street und Madison Avenue.«

Der CIA-Agent rührte sich nicht. Sein Blick in den Rückspiegel begegnete dem von Calibrisi.

»Er ist nicht da«, erklärte der CIA-Chef vom Rücksitz aus und fuhr sich mit der Hand durch die dichten schwarzen Haare. »Iranische Agenten haben ihn entführt. Das ist vorgestern passiert.«

Dewey drehte den Kopf abrupt zu Calibrisi um.

»Er wollte sich mit dir treffen«, stellte Calibrisi fest. »Weißt du, warum?«

»Ich habe keinen Schimmer.«

»Wie wurde das Treffen arrangiert?«

»Er hat mich angerufen und gesagt, dass er meine Hilfe braucht, aber wollte mir nicht sagen, worum es geht.«

»Warum wollte er dir das nicht sagen?«

»Woher zur Hölle soll ich das wissen? Er hat mich angerufen. Wir haben höchstens eine Minute lang miteinander gesprochen. Er sagte, dass er meine Hilfe braucht. Und er wollte die Angelegenheit persönlich besprechen. Das ist alles.«

Er sah Jessica und Calibrisi an, die schweigend zurückstarrten.

»Wo haben sie ihn hingebracht?«, fragte Dewey.

Calibrisi wechselte einen Blick mit Jessica.

»Warum fragst du?«, wollte er wissen.

»Hector, wohin zum Teufel haben sie ihn gebracht?«

Calibrisi schüttelte den Kopf.

»Dewey, der Präsident will nicht, dass wir gerade jetzt irgendwas im Iran anstellen. Nicht jetzt, wo die Iraner im Begriff stehen, ihr Atomwaffenprogramm einzustellen. Dellenbaugh will das Risiko nicht eingehen. Deswegen sind wir hierhergeflogen.«

»Ja, lasst uns um Gottes willen die Gefühle der verdammten Iraner nicht verletzen«, brummte Dewey.

»Aber was schwerer wiegt als das Abkommen ist die Tatsache, dass es ein echtes Himmelfahrtskommando wäre, Kohl zu retten«, erklärte Calibrisi. »Er ist im Evin-Gefängnis. Wer da einmal drin hockt, kommt nicht mehr raus. Kein Delta, kein SEAL, keiner aus der Special Operations Group. Nicht einmal du.«

»Wird Israel etwas unternehmen?«, erkundigte sich Dewey.

»Wir nehmen an, dass sie losziehen und einen Haufen Iraner töten werden. Falls sie das nicht bereits getan haben.«

»Ich meinte eher: Werden sie versuchen, ihn zu retten?«

»Sie sind auf uns zugekommen, damit wir ihnen helfen, falls du verstehst.« Calibrisi seufzte. »Er ist in Evin. Der einzige Weg, auf dem er da rauskommt, ist in einem Leichensack.«

»Wie sieht es mit einem Gefangenenaustausch aus?«

»Es gibt keinen Gefangenen, den der Iran gegen Meir eintauschen würde. Er ist der dickste Fisch, den sie kriegen konnten.«

»Sie werden den Israelis damit vor der Nase herumwedeln«, fügte Jessica hinzu. »So wie die Hamas es mit Gilad Schalit gemacht hat. Ihn irgendwo verrotten lassen. Oder sie inszenieren einen Schauprozess und exekutieren ihn anschließend.«

Dewey starrte aus dem Autofenster. In der Ferne hob gerade ein Flugzeug ab.

»Falls ihr hergekommen seid, um mir das auszureden, vergeudet ihr eure Zeit.«

»Präsident Dellenbaugh möchte, dass Amerika sich mit dem Zuschauerrang begnügt«, wandte Calibrisi ein.

»Ich arbeite nicht für Präsident Dellenbaugh.«

»Du hast schon viel mehr als das getan, worum wir dich gebeten haben«, meldete Jessica sich erneut zu Wort. »Du bist nach Pakistan gegangen und hast dein Leben riskiert, weil dein Land dich darum gebeten hat. Jetzt bittet dein Land dich darum, die Finger von der Sache zu lassen.«

»Jess und ich wollen nicht, dass du draufgehst«, fuhr Calibrisi fort. Er lehnte sich vor und legte Dewey die Hand auf die Schulter. »Deswegen sind wir hier. Es wäre ein Selbstmordkommando.«

Deweys Erinnerungen beschworen die Rollbahn auf dem Beiruter Flughafen herauf. Sie lagen am Boden. Von Süden feuerten die Hisbollah auf sie, von Norden die libanesischen Streitkräfte. Sechs tote Israelis verbluteten ringsum auf dem von Einschüssen durchlöcherten Asphalt. Der israelische Hubschrauber, der sie retten sollte, war nirgends zu sehen. Der Tod lauerte ihnen auf. Sowohl er als auch Meir waren sich dessen vollauf bewusst.

Dewey würde Meirs Blick niemals vergessen. Selbst als sie ihre letzte Munition verschossen hatten und sich innerlich auf den Tod vorbereiteten, behielt Meir diesen furchtlosen Blick bei, der Dewey verriet, dass er niemals aufgeben durfte.

Oder war es sein eigener Blick gewesen, der Meir überzeugt hatte, dass er nicht aufgeben durfte?

Er spürte die Woge, die über ihn wegschwappte. Bitter zuerst, dann alles verschlingend wie ein Feuer.

»Glaubt ihr, dass Kohl Meir und das Schajetet-Team sich über die Risiken Gedanken gemacht haben, bevor sie in jener Nacht nach Beirut gekommen sind, um mich zu retten?«, fragte Dewey. Er drehte sich zu ihnen um und wirkte äußerlich ganz gelassen, als er Calibrisi und Jessica nacheinander ansah. »Sechs Israelis sind gestorben. Es waren Männer, die mich nicht einmal kannten. Ich danke euch, dass ihr euch Sorgen um mich macht, aber Kohl Meir hat mein Leben gerettet. Ich weiß, das versteht ihr.«

Er streckte die Hand nach dem Türgriff aus.

»Wohin gehst du jetzt, Dewey?«, fragte Jessica.

Er drehte noch einmal den Kopf und sah sie ein letztes Mal ausgiebig an, bevor er die Tür aufstieß und die Limousine verließ.

Im Weggehen griff er in seine Hosentasche und zog einen Zettel heraus. Darauf stand eine lange Abfolge von Ziffern. Er starrte einen Moment lang darauf und steckte das Papier zurück in die Tasche. Meirs Worte hallten in seinem Kopf.

»Falls ich nicht da bin, heißt das, dass mir etwas zugestoßen ist. Dann ruf meinen Vater an; der weiß, was zu tun ist.«

»Was zu tun ist? Weswegen?«

»Das kann ich dir nicht sagen.«

Dewey ging bis zum Anfang der Reihe geparkter Taxis und stellte sich vor einen Mann im Anzug, der mit dem Handy telefonierte.

»Hey, ich war zuerst dran«, schimpfte der andere, aber Dewey ignorierte ihn und stieg in das Taxi ein.

»Wohin soll’s gehen?«, erkundigte sich der Fahrer.

»Flughafen JFK«, wies Dewey ihn an. »Geben Sie Gas.«

10

EVIN-GEFÄNGNIS

TEHERAN, IRAN

Kohl Meir öffnete die Augen und fühlte nichts als eine tiefe Verwirrung, ein Dahintreiben, einen Verlust, so als habe er tagelang geschlafen. Seine Augen brauchten mehrere Sekunden, um sich an das Licht zu gewöhnen. Wo bin ich? Wo zur Hölle bin ich? Meir versuchte, den Arm zu bewegen, aber der war gefesselt. Seine Beine waren eng zusammengeschnürt; Riemenfesseln um seine Fußgelenke und direkt oberhalb der Knie, dazu ein Gurt, der über seinen Oberkörper verlief, so eng geschnallt, dass ihm das Atmen schwerfiel. Ein weiterer Riemen befand sich auf Halshöhe. Auch seine Arme hatte man festgebunden; einmal direkt über den Ellbogen, einmal an den Handgelenken.

Das Brennen im Arm steigerte sich plötzlich zu einem messerscharfen Stechen wie bei einem Schlangenbiss. Gegen seinen Willen stieß er einen lauten Schrei aus.

»Na, na, schon gut«, sagte eine beruhigende Stimme.

Meirs Verstand war ein wirres Durcheinander, aber in seinem vernebelten Hirn analysierte er den Akzent trotzdem unwillkürlich richtig: Persisch mit britischem Einschlag, und diese Töne, die direkt aus der Wüste kamen. Der Iran.

Sein Gehirn funktionierte offenbar noch. Immerhin etwas.

Meir drehte den Kopf nach links und blinzelte mehrmals. Er erblickte einen kleinen Mann mit grauschwarzem Haar, einem rundlichen Gesicht mit Brille und buschigem Schnurrbart. Er trug einen weißen Arztkittel. Und er stand direkt neben Meirs linkem Arm, eine Spritze in der Hand. Der Mann drückte ihm den Inhalt in die Vene.

Meir schrie erneut, als er spürte, wie sich die Flüssigkeit in den Adern ausbreitete.

»Das soll Ihnen nicht wehtun, Mr. Meir«, beruhigte ihn der Mann. »Es ist ein Gegenmittel, damit Sie aufwachen. Sie waren ruhiggestellt und sind eine ganze Weile bewusstlos gewesen. Der Schmerz hört gleich auf.«

Das Brennen ließ allmählich nach. Meir hörte auf zu schreien, als es sich nicht mehr ganz so unerträglich anfühlte und nur noch unangenehm pochte. Während er sich beruhigte, schärfte sich sein Verstand. Vor sich bemerkte er schwarz verklebte Scheiben, sodass er nicht nach draußen schauen konnte. Er befand sich in einem Krankenwagen, der mit hoher Geschwindigkeit fuhr. Die Straße war uneben; wahrscheinlich nicht asphaltiert, oder zumindest voller Schlaglöcher.

Die Mädchen auf der Treppe.

Meir erinnerte sich plötzlich an seine letzten Gedanken. Er war über den Gehsteig geschlendert, den geschäftigen Gehsteig in Brooklyn. Die Sonne hatte seine Haut gewärmt. Dann stand er vor dem richtigen Haus, hatte die Klingel gedrückt und gewartet.

»Fragen Sie sich, wo wir sind?« Der Arzt beendete die Injektion, zog die Spritze aus Meirs Arm und wischte mit einem alkoholgetränkten Wattebausch über die Einstichstelle.

Meir schwieg. Der Schmerz, das Bewusstsein, das Wiedererwachen seiner Sinne. Seine Ausbildung übernahm jetzt wieder das Kommando über sein Verhalten.

Sag nichts. Sag nicht ein einziges Wort.

Wie lange war es her? Stunden? Tage? Wochen?

»Hör mit dem Gequatsche auf«, bellte eine neue Stimme hinter seinem Kopf. Mit einem viel deutlicheren, breiten iranischen Akzent wies der Mann den gesprächigen Arzt an, den Mund zu halten. In der Stimme des Mannes konnte Meir viele Zigaretten hören, aber auch die Militärausbildung und die Autorität, die der Soldat, der Kommandant ausstrahlte. Eine befehlsgewohnte Stimme.

Er sah dem Arzt in die Augen. Dessen Reaktion verriet ihm alles, was er wissen musste.

Meir mühte sich ab, den anderen Mann zu erkennen, aber die Fesseln saßen zu eng, um den Kopf ausreichend weit zu drehen.

Seine Nase meldete ihm jetzt auch den Geruch, den die Stimme des Mannes angedeutet hatte: Zigaretten.

Meir schloss die Augen und blendete den Geruch aus, ebenso die rüttelnde Bewegung und alles andere, was ihn umgab. Er rief sich die Stimme ins Gedächtnis, die er aus der Gegensprechanlage gehört hatte. Eine weiche Frauenstimme.

»Ja, bitte?«

»Hallo, Mrs. Bohr, hier ist Kohl Meir.«

Das Summen des Drückers, das Klicken, als der Riegel zurückfuhr. Er hatte die große Tür aufgedrückt und die Eingangshalle des Backsteinbaus betreten. Er hatte die Tür hinter sich zufallen lassen. Dann war er zur Treppe gegangen, hatte es aber nicht mal bis zur ersten Stufe geschafft. Jemand war hinter ihm gewesen. Ein schmerzhafter Stromstoß in seinem Nacken folgte. Mehr wusste er nicht. Das war die letzte bewusste Erinnerung in seinem Hirn.

Hinter ihm summte leise ein Handy. Der Mann, den er nicht sehen konnte, räusperte sich.

»Ja. Vor einer Stunde. Ja.«

Meirs Gesicht verriet keinerlei Regung. Seine Sprachkenntnisse waren ein wenig eingerostet, aber er konnte die Worte verstehen.

»Wird erledigt.« Ein Klicken, als der andere das Telefon zuklappte.

Meir schlug die Augen wieder auf.

»Evin?«, fragte der Arzt.

Der Mann hinter ihm gab keine Antwort.

Evin. Das Wort schickte eine Welle des Grauens durch seinen Körper. Es war das berüchtigtste Gefängnis des Irans. Es trug viele Namen, und ›Folterkammer‹ war der erste, der ihm einfiel.

Meir schloss die Augen erneut, um diese Gedanken zu verdrängen. Die düsteren Gedanken. Damit fing es an, sagte man. Dunkle, raue, bittere Gedanken, sobald man begriffen hatte, dass man ein Gefangener war. Dass man höchstwahrscheinlich gefoltert wurde.

Er spürte die Tränen unter den Lidern und strengte sich an, sie zurückzudrängen. Er musste stark bleiben.

»Was Sie sich auch ausmalen mögen, Kommandant, es ist falsch«, verkündete der Mann hinter ihm hustend. »All Ihre Annahmen und Befürchtungen über den Ort, an den wir Sie bringen, oder darüber, was wir mit Ihnen vorhaben, sind falsch, das versichere ich Ihnen. Sie werden die Hölle erleben. Ich weiß, dass man Sie dazu ausgebildet hat, Folter zu überstehen. Medikamente. Ich weiß auch, dass Sie wissen, dass die Folter am Ende stärker ist als der besttrainierte Wille. Aber Folter ist nur ein Teil von dem, was Sie erwartet. Der Teil, den Sie noch nicht verstehen, noch nicht am eigenen Leib erfahren haben, ist das Gefühl, das Sie erwartet, wenn Sie selbst das Schwert sind, das Ihr eigenes Volk besiegt.

Genau das werden wir aus Ihnen machen, Kohl. Das Symbol für Israels Niederlage. Wie, denken Sie, werden sich Ihre israelischen Mitbürger fühlen, wenn wir Sie ihnen vorführen, in Ketten gelegt wie ein Hund?«

Meir ließ die Worte über sich hinwegbranden. Er ließ den Hass des Mannes einsinken wie eine Krankheit. Er blieb ausdruckslos. Kalt und ausdruckslos wie ein Stein. Meir war sich bewusst, dass er seine Kraft in den kommenden Stunden aus dieser Quelle des Hasses beziehen musste. Er zwang sich, den Hass willkommen zu heißen, um Energie daraus schöpfen zu können. Sollten sie ihn doch der ganzen Welt vorführen. Sollten sie ihn foltern. Wenn er es schaffte, kalt und ungerührt zu bleiben und seine Würde zu bewahren, ging er am Ende als Sieger hervor.

Meir ließ den Gedanken an Israel, seine Heimat, in seinem Verstand Gestalt annehmen. Er rief sich die Gesichter der Männer seiner Schajetet-Einheit ins Gedächtnis und dachte an die Liebe und Opferbereitschaft seiner Mitsoldaten. Er sah seinen Vater vor sich, der vom Schlachtfeld des Sechstagekriegs für immer verkrüppelt zurückgekehrt war. Er dachte an die vielen israelischen Kinder, die ihre Väter verloren hatten, an all die Mütter, die ihre Söhne vermissten. Er war hier nicht allein, schirmte sich mit der Stärke der israelischen Soldaten, die da draußen kämpften, wie mit einem stählernen Panzer ab.

Es kam ihm vor, als habe es Stunden gedauert, bis er spürte, wie der Krankenwagen langsamer wurde. Er hörte das Quietschen, mit dem sich ein Tor öffnete. Dann Stimmen. Jemand sprach mit dem Fahrer, ein weiterer lachte.

Nach dem Kontrollpunkt fuhren sie ganz langsam weiter. Schließlich hielt der Krankenwagen und die hinteren Türen wurden aufgerissen.

Meir sah auf. Mindestens ein Dutzend Soldaten bildeten einen losen Halbkreis um die Fahrzeugtüren. Zwei von ihnen griffen nach dem Stahlrahmen der Bahre und zogen daran. Zwei weitere packten mit an und schleppten ihn aus dem Wagen heraus.

Es war dunkel. Er nahm die Sterne am Himmel wahr, zu seiner Rechten die schmale gelbe Sichel des Mondes. Die Soldaten starrten ihn an wie Fischer, die einen großen Thunfisch bewunderten, der auf dem Dock am Haken hing. Von hinten trat ein kleiner Mann durch die Gruppe der Soldaten. Er trug ein Jackett, aber keine Krawatte, und das Lächeln in seinem Gesicht war das eines Wahnsinnigen. Meir erkannte ihn sofort. Der Mann kam näher und das breite Grinsen schien auf seinen Lippen festgewachsen zu sein. Fotos wurden ihm kaum gerecht, denn er war im wahren Leben noch viel hässlicher. Meir konnte es kaum fassen.

»Das musste ich mit eigenen Augen sehen«, rief Mahmoud Nava, der iranische Präsident. »Kaum zu glauben. Willkommen im Iran, mein Sohn.«

Meir schwieg.

»Möchtest du irgendwas?«, fragte Nava. »Wasser vielleicht? Etwas zu essen. Ja, genau, als Erstes bekommst du etwas zu essen. Du hattest einen langen Flug. Wäre das gut?«

Meir schwieg.

Nava nickte, lächelte und wandte sich zu den versammelten Soldaten um.

»Aha, ich sehe schon«, meinte Nava grinsend. »Harter Bursche. Nun, das ist ja auch gut so. Es geht nicht um Sie persönlich, Kohl. Es geht um Ihr Land. Wir werden uns bemühen, Sie so gut zu behandeln, wie Sie es verdienen, solange Sie tun, was wir sagen. Wir haben es gar nicht darauf abgesehen, Ihnen wehzutun. Aber wir sind entschlossen, Ihren Landsleuten wehzutun. Verstehen Sie? Ach ja, Sie werden es schon bald verstehen.«

Nava drehte sich um und lief durch den Halbkreis der Soldaten zu der wartenden schwarzen Limousine zurück.

Sie banden Meir von der Bahre los. Er sackte sofort zusammen, weil man ihm die Beine so lange ruhiggestellt hatte, dass sie sich völlig taub anfühlten. Zwei Soldaten fingen ihn auf, bevor er auf dem Boden aufschlug. Sie hoben ihn an den Armen hoch und fesselten diese eng hinter seinem Rücken. Die Riemen um seine Fußknöchel wurden ebenfalls nicht gelockert.

»Komm«, forderte ihn einer der Soldaten auf und wies auf einen Betonbau.

Meir bewegte sich in winzigen Schritten vorwärts. Die Fußfesseln ließen ihm so wenig Raum, dass er sich nur zentimeterweise fortbewegte. Zwei Soldaten hielten ihn an den Oberarmen fest und führten ihn auf eine Tür zu.

Er betrat einen Flur. Neonlichter an der Decke ließen ihn zum ersten Mal die Blutspuren auf Hemd und Hose sehen. Er schlurfte langsam weiter und wurde in einen großen, fensterlosen Raum geführt. Ein rechteckiger Holztisch stand mit zwei Stühlen, einer auf jeder Seite, in der Mitte.

Die Soldaten schoben ihn auf einen der Stühle und ketteten ihn mit einem Hüftgurt daran fest.

Meir saß mehr als eine Stunde lang schweigend auf dem Stuhl. Über ihm leuchtete grelles Neonlicht. Irgendwann kam ein junger Soldat herein und brachte ihm eine Flasche Wasser. Er hielt Meir die Flasche an die Lippen. Gierig trank er den gesamten Inhalt in wenigen Sekunden aus. Dann ließ der Soldat ihn wieder allein.

Kurz darauf öffnete sich die Tür erneut. Ein großer, bulliger Mann mit Glatze und dünnem Schnurrbart. Zum kurzärmligen Hemd trug er eine dunkle Hose. Er ging einmal um Meir herum und taxierte ihn ausgiebig, als sei er ein Zootier im Käfig. Anschließend nahm er auf dem freien Stuhl gegenüber Platz.

»Hallo, Mr. Meir«, begrüßte ihn der Mann auf Englisch. Meir entdeckte Spuren eines britischen Akzents. »Mein Name ist Moammar Achabar. Ich bin Ihr Pflichtverteidiger.«

Meir starrte Achabar ausdruckslos an und schwieg.

»Machen wir uns nichts vor. Wir wissen beide, wie das enden wird, und ich freue mich ehrlich gesagt jetzt schon auf den Tag, an dem man Sie für schuldig befindet. Also sehen Sie in mir keinen Freund oder auch nur Ihren Anwalt. Ich bin ein Schauspieler und das hier ist ein Theaterstück. Sie sind der Star.«

Meir schwieg weiterhin. Achabar zog eine Zigarettenschachtel aus der Brusttasche. Er zündete sich eine Kippe an.

»Ach ja«, fügte er hinzu, als sei es ihm gerade erst eingefallen, »falls Sie sich diese Frage gestellt haben: Eine Komödie wird es nicht. Wir haben es eindeutig mit einer Tragödie zu tun, jedenfalls für Sie und Ihr Land. Man wird Sie für eine Weile in Evin behalten. Ich weiß nicht, wie lange. Man wird Sie eines oder mehrerer Verbrechen bezichtigen. Ich habe gehört, dass es um Mord gehen wird. Sie sind an Operationen in der Straße von Hormus beteiligt gewesen, nicht wahr? Ja, natürlich waren Sie das. Nun, damit wird es etwas zu tun haben.«

Achabar zog ein paarmal an seiner Zigarette und hielt sie dann in der Hand, während er zusah, wie die orangefarbene Glut sich bis zum Filter durchfraß. Kurz darauf drückte er sie auf der Tischplatte aus und zündete sich eine neue an.

»Was auch immer es ist, das sie Ihnen vorwerfen, es ist dazu gedacht, ein Exempel an Ihnen zu statuieren. Sie werden Sie für schuldig befinden. Ob man Sie exekutiert? Das kommt ganz auf die Stimmung an. Ich bin der Meinung, dass es Ihrem Land viel mehr wehtut, wenn Sie bis an Ihr Lebensende in irgendeinem Gefängnis schmoren, also werde ich dafür plädieren. Komisch, nicht wahr? Ich will, dass Sie leiden, aber man wird sagen, dass ich Ihr Freund bin. Dass ich mich für Sie eingesetzt habe, obwohl ich in Wirklichkeit dafür sorge, dass Sie härter bestraft werden. Das wird für Sie viel schlimmer, als von einem Hinrichtungskommando niedergestreckt zu werden.«

Meir beobachtete Achabar von seinem unbequemen Stahlrohrstuhl aus. Da kam ihm etwas in den Sinn, das seine Urgroßmutter Golda kurz vor ihrem Tod geschrieben hatte. Einen ihrer letzten Briefe schickte sie an einen Mann namens Farger, der sich darum sorgte, was nach ihrem Tod aus Israel wurde.

Machen Sie sich keine Sorgen, denn es ist nicht das Ende. Es ist noch nicht einmal der Anfang vom Ende. Es ist lediglich das Ende eines neuen Anfangs.

Die glasklare, brutale Realität der Lage, in der er sich befand, traf Meir mit der Wucht eines Faustschlags ins Gesicht. Aber das ließ er sich nicht anmerken. Stattdessen sah er seinem Pflichtverteidiger geduldig und ausdruckslos zu, wie dieser eine dritte und vierte Zigarette rauchte.

Achabar schmauchte sich schweigend durch die beiden letzten Glimmstängel, entspannt zurückgelehnt und mit einem Bein auf dem Holztisch. Dabei trug er ein wissendes Grinsen zur Schau.

»Hätten Sie gerne etwas zu essen?«, fragte Achabar schließlich. Er zog das Bein vom Tisch und stand auf. »Sie müssen Hunger haben. Warten Sie.«

Er winkte zu dem Einwegspiegel an der Seitenwand hinüber. Kurz darauf ging die hintere Tür auf. Einer der Soldaten trug ein Edelstahltablett. Er kam zum Tisch herüber und stellte es ab. Auf dem Tablett lagen zwei Äpfel, ein großes Stück Brot und eine kleine Schale mit Nüssen, dazu eine Flasche Wasser.

Der zweite Soldat trat hinter Meir. Er schloss die Fessel an Meirs linkem Handgelenk auf, zog seinen Arm nach vorne und verschloss die Fesseln vorne wieder, sodass seine Handgelenke vor seiner Brust aneinanderstießen. Die Soldaten zogen den Stuhl näher an den Tisch heran, bevor sie sich umdrehten und die Zelle verließen.

Meir starrte das Essen minutenlang nur an. Er rührte sich nicht.

»Ich werde Sie jetzt verlassen, Kohl«, sagte Achabar schließlich. »Essen Sie. Sie werden eine ganze Weile hier sein.«

Er drehte sich um und ging. Meir starrte das Tablett noch eine Zeit lang an. Dann streckte er die Hand aus und griff nach einem Apfel. Er fühlte sich ausgehungert und vertilgte den Apfel mit wenigen Bissen, nahm sich kaum die Zeit, um zu kauen. Ebenso verfuhr er mit dem Brot, den Nüssen und dem zweiten Apfel. Er war überrascht, wie gut ihm das Essen schmeckte, selbst der iranische Gefängnisfraß, nachdem er so lange nichts in den Magen bekommen hatte.

Er streckte erneut die Hände aus, um nach der Wasserflasche zu greifen. Es fiel ihm schwer, die breite Flasche festzuhalten und den Plastikdeckel abzuschrauben. Er kämpfte mit dem Verschluss. Schließlich glitt ihm die Flasche aus den gefesselten Händen. Er ließ sie fallen. Sie knallte auf den Boden und zerplatzte. Wasser lief über den Fußboden.

Nach ein paar Minuten ging die Tür auf. Erneut die Soldaten. Einer der beiden nahm das Tablett und wollte den Raum gerade wieder verlassen, als der andere sich bückte, um die heruntergefallene Wasserflasche aufzuheben. Beim Aufrichten befand sich sein Kopf kurz auf der Höhe von Meirs Taille.

Meir stürzte sich ungelenk auf den jungen Soldaten. Er packte den Kragen des Mannes mit den gefesselten Händen und zog ihn nach unten.

Der Soldat schrie überrumpelt auf. Er wollte Meir von sich wegstoßen, aber der krallte sich unnachgiebig am Hemdkragen des anderen fest. Der zweite Soldat stieß einen Schrei aus und eilte seinem Kameraden zu Hilfe.

Meir streckte seine Finger, um den Hals des Soldaten zu erreichen. Sein Gegner wehrte sich nach Kräften, doch der israelische Elitesoldat war stärker. Meir hielt den Kragen nach wie vor fest und versenkte seine Fingernägel in der Haut am Hals, strengte sich an, den Kehlkopf des Mannes zu erreichen.

Meir hörte die Schritte von hinten und fühlte einen harten Tritt in die linke Seite. Der zweite Soldat hatte ihn mit seinem stahlkappenbewehrten Stiefel getreten.

Meir zog den ersten näher zu sich heran. Sein Griff wurde zunehmend fester. Die Finger schabten an der empfindlichen Haut am Hals des Mannes. Der Iraner reagierte panisch und versuchte verzweifelt, sich den kräftigen Händen zu entziehen, die seinen Kragen packten und ihm den Hals eng werden ließen.

Aber wie Spinnenbeine krabbelten Meirs Finger höher am Hals und schlossen sich so weit darum, wie die Fesseln an den Handgelenken es ihnen erlaubten.

Jetzt kamen weitere Soldaten in den Raum gestürmt. Alle schrien durcheinander, forderten Meir auf, den Mann loszulassen. Der erste Soldat trat immer noch auf Meir ein. Sein harter Stiefel traf unablässig Rippen und Wirbelsäule. Meir fing die Tritte ab, wie er es gelernt hatte. Indem er den Schmerz in eine Ecke seines Verstandes verbannte, war er in der Lage, sich auf das zu konzentrieren, was er tun musste. Ein weiterer Soldat ragte über ihm auf. Ohne Vorwarnung kassierte Meir einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf. Ein Gewehrkolben.

Aber er ließ nicht los.

»Hören Sie auf, Meir!«, schrie jemand, und er erkannte die Stimme seines Anwalts Achabar. »Aufhören! Sie bringen ihn noch um!«

Meir wurde von einer Phalanx von Männern umringt, bevor ihn jemand angriff. Der Stahlrohrstuhl kippte um, als sich mindestens vier Männer auf ihn stürzten und ihn zu Boden rangen. Sie zogen an seinem Kopf, rissen an seinen Händen, wollten ihm die Finger brechen, die sich wie ein Schraubstock um den Hals des jungen Soldaten geschlossen hatten.

Aber es war bereits zu spät. Als Meir zu Boden ging, riss er den Soldaten mit sich. Sie landeten gemeinsam zuunterst im Gedränge der anderen Männer. Im gleichen Moment drehte Meir seine kräftigen Hände gegen den Uhrzeigersinn. Eine abrupte, brutale Bewegung. Das Genick des Soldaten brach. Der Mann erschlaffte und blieb tot auf dem harten, nassen Gefängnisboden liegen.

11

EITANIM GROVE

SAVYON, ISRAEL

Dewey trug nach wie vor den marineblauen Brooks-Brothers-Anzug, der nach dem Nachtflug von New York inzwischen ziemlich zerknittert wirkte. Das Taxi brachte ihn in eine ruhige, wohlhabende Wohngegend von Tel Aviv, die ihn an Beverly Hills erinnerte.

Dewey sah sich in alle Richtungen um, bevor er den mit Bäumen gesäumten Gehweg überquerte und ein großes eisernes Zauntor aufdrückte. Die Zufahrt dahinter war etwa 30 Meter lang und mit Feldsteinen gepflastert. Zur Linken erstreckte sich ein schlichtes, aber großzügiges einstöckiges Gebäude, während sich rechts ein weitläufiger Garten ausbreitete. An der Eingangstür des Hauses wartete eine kleine Frau mittleren Alters im grünen Sommerkleid auf ihn. Das glatte graue Haar trug sie ordentlich nach hinten gekämmt. Sie lächelte Dewey entgegen.

»Mrs. Meir?«, fragte er und gab ihr die Hand. »Ich bin Dewey Andreas.«

»Nennen Sie mich doch bitte Vered.«

Dewey überragte Kohl Meirs Mutter deutlich. Sie hielt seine Hand lange fest.

»Wie war Ihr Flug?«

»Gut, danke.«

»Möchten Sie etwas zu trinken? Kaffee? Oder eine Kleinigkeit zu essen?«

»Nein danke«, lehnte Dewey höflich ab. »Ich habe nach der Landung schon ein Sandwich gegessen.«

»Er erwartet Sie bereits«, erklärte sie und nickte nach hinten. »Diese Tür.«

Dewey ging den Flur entlang und durch das Wohnzimmer. An dessen Ende befand sich eine geschlossene Tür. Er klopfte.

»Herein«, erklang eine Stimme von drinnen.

Dewey betrat den kleinen, mit Bücherregalen vollgestopften Raum. Zwei Fenster überblickten einen Rosengarten hinter dem Haus. In der Mitte des Zimmers saß ein großer Mann in einem Rollstuhl. Er war älter als 60, hatte dichtes grauschwarzes Haar und wie in Stein gemeißelte Gesichtszüge. Eine scharfe Nase, dazu eine breite Stirn, braun gebrannte, vom Wind gerötete Haut. Sein zerfurchtes Gesicht wirkte, als sei es während eines langen Lebens in der Natur von der Witterung geformt worden.

»Hallo, Dewey«, begrüßte ihn Tobias Meir. Seine Stimme klang tief und rau. »Bitte setzen Sie sich.«

»Schön, Sie kennenzulernen.« Dewey nahm auf dem Sessel neben Meir Platz.

Meir starrte ihn schweigend an.

»Hat Ihnen jemand erklärt, was mit Kohl passiert ist?«

»Menachem Dayan hat angerufen.«

»Es tut mir leid.«

»So etwas passiert. Sie waren doch selbst Soldat, oder nicht? So dürfen Sie nicht denken.«

Dewey nickte.

»Ich muss wissen, warum er sich mit mir treffen wollte.«

Meir starrte ihn sekundenlang nur an.

»Glauben Sie, dass es gute Iraner gibt?«, fragte Meir. »Vielleicht einen Aufseher im Gefängnis, der verhindert, dass Kohl gefoltert wird?«

»Ich weiß nicht«, sagte Dewey. »Aber ich bezweifle es.«

»Sie haben Chameneis Bruder ermordet. Das war 1988 in Bali.«

Dewey nickte langsam. »Woher wissen Sie das?«

»Wir haben uns beim Geheimdienst damit befasst. Warum haben Sie ihn getötet?«

»Es war Teil einer Operation. Ich hatte den Befehl, ihn aus dem Verkehr zu ziehen. Ich habe nicht einmal nach den Gründen gefragt.«

»Aber warum Chameneis Bruder?«

»Er war dafür zuständig, verschiedene Gruppen finanziell zu unterstützen, die damals wie Pilze aus dem Boden schossen. Also überbrachten wir ihm eine Botschaft. Ein ›Fuck you‹ an Teheran und die Mullahs. Unsere Art, ihnen mitzuteilen, dass Amerika nachtragend ist. Ein anderer hat seine Aufgaben übernommen, aber wir werteten es als Erfolg, dass dieser Jemand nicht länger Chamenei hieß.«

»Ein Meisterstück«, befand Meir.

»Nein, ganz und gar kein Meisterstück«, widersprach Dewey. »Die Mission war erfolgreich, mehr kann man nicht sagen. Ich habe grottenschlechte Pläne gesehen, mit denen sich das Ziel einer Mission am Ende doch erreichen ließ, aber genauso oft brillante Ideen, deren Umsetzung gründlich schiefging, und zwar rasant den Bach runter.«

Tobias Meir schob seinen Rollstuhl über den Orientteppich des Lesezimmers zu einem dunklen Mahagoni-Sekretär, der in der Ecke stand. Er öffnete die oberste Schublade und nahm einen Briefumschlag heraus. Damit rollte er rückwärts zu Dewey.

»Wenn ich Ihnen etwas anvertraue, sind Sie dann verpflichtet, es Ihrer Regierung mitzuteilen?«

»Nein.«

»Auch nicht der CIA?«, fragte Meir.

»Ich arbeite nicht für die CIA.«

»Also kann ich Ihnen vertrauen?«

»Ja. Sie können mir vertrauen.«

»Ich werde Ihnen zeigen, warum Kohl Sie besuchen wollte«, sagte Meir.

Er hielt den großen weißen Umschlag noch immer in der rechten Hand, die inzwischen leicht zitterte. Dann reichte er Dewey den Umschlag. Der nahm ihn entgegen, machte ihn aber nicht auf.

»Der iranische Präsident, Mahmoud Nava, hat geschworen, Israel zu zerstören.«

»Ich weiß.«

»Es heißt, dass er eine Atombombe bauen will.«

Dewey öffnete die Klappe des Umschlags und zog eine Fotografie heraus. Darauf war ein langes, rundliches Objekt zu sehen, das auf der Ladefläche eines Sattelschleppers lag. Es handelte sich um ein lang gezogenes, silbriges Oval, mit glänzender Stahlspitze. Eine Rakete, eine Lenkwaffe. An der Seite prangten persische Schriftzeichen in Grün.

»Ist das …«, hob Dewey an.

»Die erste iranische Atombombe«, fiel Meir ihm ins Wort.

»Woher haben Sie das?«

»Von einem Iraner aus der Führungsriege von Präsident Nava. Er hat das Foto gestohlen und Kohl zugespielt.«

»Wer ist er?«

»Er arbeitet direkt für Mahmoud Nava. Sie sehen also, dass es gute Iraner gibt, Dewey.«

»Das mag sein. Oder es war eine Falle. Wem haben Sie sonst noch davon erzählt?«

»Niemandem.«

»Warum nicht?«

»Der Iraner hat gesagt, dass sie einen Maulwurf im Mossad haben«, erklärte Meir. »Nava werde die Bombe sofort zünden, wenn er erfährt, dass wir von ihrer Existenz wissen. Und zwar bevor wir Zeit haben, eine Operation zu planen und auszuführen, um sie zu zerstören.«

»Eine Operation?«, wiederholte Dewey. »Was für eine Operation? Wenn Israel oder die Vereinigten Staaten dieses Foto zu Gesicht bekommen, werden sie das Teil augenblicklich in die Luft jagen.«

»Und wie soll das gehen, wenn sie nicht wissen, wo sich das Teil befindet?«

»Natanz? Qum?«

»Die Bombe ist weder in Natanz noch in Qum stationiert«, erklärte Meir gelassen. »Sie haben sie versteckt. Nava allein weiß, wo. Er und ein paar wenige führende Köpfe der Revolutionsgarde und des VEVAK. Und natürlich ihr psychotischer Herrscher Suleiman.«

Dewey starrte das Foto an und dachte nach.

»Wie hat der Informant diese Aufnahme Kohl zukommen lassen?«, fragte er.

»Über eine Frau. Eine Reporterin von Al Jazeera, die nach Tel Aviv kam und Kohl aufsuchte.«

»Sie spielen mit dem Feuer«, stellte Dewey besorgt fest. »Sie müssen es jemandem sagen. Dayan. Dem Mossad. Oder erlauben Sie mir, die CIA zu informieren.«

»Nein!«, brüllte Tobias Meir. »Nein. Wenn Sie es jemandem sagen, dann zünden die Kerle die Bombe, bevor wir reagieren können. Er hat Kohl explizit davor gewarnt. Sie müssen versprechen, dass Sie es niemandem anvertrauen.«

»Wie sah denn Ihr Plan aus? Wenn ich Sie nicht angerufen hätte, was hätten Sie getan?«

Dewey sah in Tobias Meirs Augen, die dunkelrot gerändert waren. Zweifellos lagen zu viele schlaflose Nächte hinter diesem Mann.

»Ich kenne die Antwort auf diese Frage nicht«, gab Meir zu.

»Was steht da auf der Seite der Bombe?«

»Da steht: ›Auf Wiedersehen, Tel Aviv!‹«

Dewey schloss für einen Moment die Augen und schluckte hart. Er griff unwillkürlich in seine Hosentasche und suchte nach Zigaretten. Auf dem Flug nach Tel Aviv hatte er darüber nachgedacht, dass es quasi unmöglich war, Kohl Meir aus einem iranischen Gefängnis zu befreien. Nun kam es ihm im Vergleich zu der neuen Aufgabe, die auf ihn wartete, fast wie ein Kinderspiel vor.

Er ertastete die harte Ecke der Schachtel und zog eine Zigarette heraus. Ohne Meir um Erlaubnis zu fragen, zündete er sie an.

»Wissen Sie, wie man diesen Mann erreichen kann?«, fragte Dewey.

»Er heißt Qassou. Ich weiß, wie wir ihm eine Nachricht übermitteln können: durch die Frau.«

Dewey hielt das Foto der Atombombe immer noch in der Hand.

»Ich muss ihn treffen.« Er inhalierte tief. »Sofort.«