Elfriede Jelinek

Winterreise

Ein Theaterstück

EINS

Was zieht da mit, was zieht da mit mir mit, was zieht da an mir? Mein Schatten kann es nicht sein, den habe ich ans Vorbei abgegeben, der war die ganze Zeit hinter mir, bin schon mehrmals an ihm vorbei, er wollte nicht mit, er wollte nicht mitziehen mit mir. Kann man ihn eigentlich vorauswerfen und dann entschlossen in ihn hineinspringen? Kann der Schatten das, was war, durchbrechen, indem er vor mir herläuft? Keine Ahnung. Ich spreche mit mir selbst, sonst spricht ja niemand mit mir. Ich stecke bis zum Hals in meinem Scheitern. Ich stecke in meiner Wanderpflicht, man nimmt mich in die Wanderpflicht, man nimmt mich dort auch noch hinein, aber man läßt mich dort nicht, ich kann dieser Pflicht ohnedies nicht genügen, das weiß man. Wer weiß, wer das weiß? Egal. Ich genüge nicht. Wem genüge ich denn nicht? Wer sagt, daß ich nicht genüge, meinem eigenen Leben nicht genüge, in der Schule des Lebens ein Nichtgenügend bekommen muß? Ich wollte recht zeitlich kommen, damit man nicht merkt, daß ich da bin, und mich nicht hinauswirft, wollte mich klein machen, aber die Zeit ist nicht meine, diese Zeitlichkeit war auch nicht meine, ich komme aus einer andren Zeitlichkeit, nicht aus dieser, habe ich mir eingebildet, aber das ging nicht. Kann man auch sagen: Zu zeitig, zu unzeitig bin ich, eine Übriggebliebene? Da ist die eine Wirklichkeit, die der Zeit, da ist die andre: ich.

 

Wollte bleiben, aber man kann sich nicht NICHT wiederholen, wie die Geschichte oder die Zeit, beide wiederholen sich nie, das ist bewundernswert, die Geschichte ist bewundernswert, die probiert es wenigstens immer wieder, die versucht, sich wie von selbst zu wiederholen, und sie scheitert immer wieder an sich selbst, das ist ja klar. Aber die Zeit bewundere ich schon auch. Sich niemals zu wiederholen, das ist schon was! Immer gehen, immer nur gehen, sogar die Uhr macht da oft schlapp, auch die kann nicht immer nur gehen, die geht manchmal ein wie ein Mensch. Ich schalte mich ebenfalls auf schnellen Vorlauf, aber immerhin, beim Vorlauf geht es auch zurück, beim Verlauf nie. Sagen Sie das mal der Zeit! Die geht nie zurück. Man glaubt zwar, man wäre zurückgegangen, aber man ist es nie. Sogar das Vorbei läuft vor, es läuft voraus, man läuft unwillkürlich mit, das Vorbei ist ansteckend, es hat ein ansteckendes Lachen, wenn man an ihm vorübergeht, an diesem Lachen glaubt man es zu erkennen, dreht sich freudig um, als würde man erwartet, so ein liebes Lachen, direkt einladend!, aber das ist dann schon nicht mehr das Vorbei, das man kennt, das man doch kennt, denn man kennt ja nur das eigene Vorbei, das Verlieren von Möglichkeiten, ein andrer hat sein eigenes Vorbei, verliert seine eigenen Möglichkeiten, verliert seine eigene Zukunft, aber meine muß ich schon selber verlieren. So ein liebes Vorbei, es hat mir gefallen, doch als ich es hatte, hab ich es nicht zu schätzen gewußt, es wird ein viel schlimmeres Vorbei kommen, es wird wie ein Mondenschatten über etwas Helles ziehen, das ich hätte sein können, wenigstens ein Mond, aber dreh dich nicht um, es ist nur das Vorbei, an dem ich vorbeikommen werde, nein, an meiner Zukunft werde ich vorbeigehen, das Vorbei, an dem bin ich immer schon vorbeigekommen, das Vorüber, ach vorüber, habe ich immer schon eingeholt, über das bin ich gleichzeitig immer schon hinaus, das Gegenteil von Achill und der Schildkröte, darüber bin ich immer schon hinaus, weil ich es immer schon eingeholt haben werde. Aber auch dieses freundliche Vorbei werde ich nicht festhalten können, ich versuche, nach vorn zu laufen, um das nächste Vorüber, den wilden Knochenmann, der unweigerlich kommen wird, noch aufzuhalten, aber ich erwische ihn nicht, knapp daneben ist auch vorbei, sehen Sie, genau! Das ist auch ein Vorbei, doch als ich es erkenne, bin ich schon weiter, und auch das Vorbei ist schon viel weiter, allerdings hinten, es ist hinter mir verschwunden, egal, ob ich es bedauere oder betrauere oder mich darüber freue, es ist verschwunden, es ist weg, das ist weg, das Heulen höre ich, aber es ist nie dort, wo ich bin, nie dort heult es, es heult immer dicht hinter oder dicht vor mir, das Vorbei heult, weil es sich angeschlagen hat, mein Vorbei ist sogar besonders angeschlagen, wird aber immer freundlicher, je weiter ich von ihm weg bin, ich kann es nur bedauern, daß es mich nicht behalten wollte, ich kann es von vorne nach hinten bedauern, doch nicht von hinten nach vorn, ich bekomme es nicht mehr zu fassen, mein Vorbei, das kommt nicht wieder, am Vorbei kommt man nicht mehr vorbei, an diesem Verlauf hat man teil, aber man wird nie Teilhaber, niemand macht einen zum Teilhaber des Verlaufs, denn man verläuft sich immer selbst im entscheidenden Moment.

 

Natürlich kann man sich bei alldem verlaufen, da haben Sie recht, man muß sich sogar verlaufen!, sonst würde einen das Vorbei ja finden, falls es sich die Mühe machte, auf die Suche nach der Zukunft zu gehen, in der man dann schon verschwunden wäre. Aber das Vorbei macht sich nie die Mühe, es weiß, das wäre sinnlos. Der schnelle Vorlauf kann auch wieder rückwärtslaufen, aber das Vorbei ist immer vorbei. Es kann anders kommen, es kann wieder kommen, man kann mit ihm mitgehen, aber vorbei ist vorbei. Im Scheitern einen Zugang zu sich gewinnen, das wäre vielleicht möglich, aber schon vorbei, es wäre möglich gewesen, aber es war nicht, ich habe noch Zeit vorzulaufen, aber das nützt mir nichts, die Zeit läuft ja immer in ihrem eigenen Tempo, egal, was ich mache. Ich grüble nach, aber es nützt mir nichts. Ich kann nicht darauf verzichten, kann nur die Türe schließen, was dahinter war, ging mich etwas an, was jetzt kommt, geht mich auch was an, doch ich kenne es nicht. Ich werde es schon noch kennenlernen, aber jetzt kenne ich es noch nicht. Ich werde noch an dich denken. Aber als du da warst und ich nicht an dich denken mußte, denn du warst ja da, da habe ich nur an das Zukünftige gedacht, an dich als meine Zukünftige, an die sinnlose, lächerliche Zeit, die ich ohne dich verbringen würde können, bis du meine Zukünftige geworden sein würdest, darauf habe ich mich gefreut, doch am Vorbei kann ich mich nicht mehr erfreuen. Man hat mich hinausgeworfen, als ich dachte, das ist es jetzt, das ist jetzt die Gegenwart, das bist du, meine Zukünftige, oje, vorbei!, ich sage nichts mit Gegenwert, obwohl es naheliegt und obwohl ich das gut sein könnte, dieser Gegenwert für die Gegenwart, obwohl ich es der Gegenwart mit gleicher Münze heimzahlen könnte, mit der sie mich verkauft hat, verraten und verkauft, aber diese Münze ist heute schon ungültig, denn es ist vorbei, und da gilt eine andre Währung, die aber auch nicht ewig währen wird, so sehr ich mir das auch wünschen mag. Ich schaue etwas an. Ich schaue. Ich sehe eine Tür, auf der mit Kreide etwas steht, das leicht wegzuwischen sein wird, etwas Flüchtiges, man sagt ja, die Zeit flieht, na, eigens vor mir wird sie nicht fliehen, sie wird vor allem fliehen, auch vor mir, sie wird eine Massenflucht einleiten, in der ich nicht weiter auffalle, die Zeit flieht ja vor allem, ohne Angst, sie flieht, ohne Eifer, ohne Furcht.

 

Alles ist fort. Ich erinnere mich schon nicht mehr, etwas an eine Tür geschrieben zu haben, denn das Vorbei kann man zwar kennen, man hat es ja erlebt, aber was geschrieben wurde, ist in der Gegenwart immer ungültig. Dafür kriege ich nichts. Da wird etwas andres geschrieben. Kreide kann man immer ganz leicht auslöschen, fast so leicht wie Menschen. Für das Gehabte gibt mir keiner was, das vorbei ist, bevor ich es wirklich hatte, denn es ist nur mein eigenes Vorbei, aus dem ich mir selbst nicht mehr vorkommen, an mir nicht mehr vorbeikommen kann in die Gegenwart, in der ich dann nicht mehr vorkommen werde. Suchen Sie sich Ihr eigenes Vorbei! An wen hab ich gedacht? An wen? Das war gestern, aber das ist vorbei. Heute denke ich auch an dich, aber das ist ebenfalls vorbei, in dem Augenblick, da ich an dich denke, ist der Augenblick schon vorbei, jener, in dem ich an dich gedacht habe, und der andre auch schon, in dem ich denke, als ob ich an dich als an jemand anderen denken würde. So, jetzt laufe ich mal ein Stück an meinem Vorbei vorbei, um mir in ihm ins Gesicht sehen zu können wie in einem Spiegel, aber das geht nicht. Vorbei ist vorbei, und ich bin bereits ein anderer. Wüßte ich, wer ich gestern war, ich weiß es ja!, ich erinnere mich, wer ich war! Aber das nützt mir jetzt nichts, denn wüßte ich, wer ich gestern war, könnte ich mich morgen, nein, morgen ist was andres, könnte ich mich schon jetzt nur noch nachmachen. Ich würde meine eigene Imitation werden. Was sollte ich denn länger weilen? Man wollte mich vielleicht als einen anderen, aber der wäre ich bestenfalls morgen oder übermorgen, im Vorbei wäre ich niemand. Niemand in einem schwarzen Loch der Zeit, die nur das Vorüber kennt, obwohl sie uns serviert, was kommt. Sie gibt uns freigiebig, was kommt, sie nimmt uns gnadenlos, was war, sie nimmt uns das Vorbei, obwohl wir ständig an allem vorbeigehen. Wüßten wir, wie wichtig es einmal werden wird, wir würden stehenbleiben und es genießen, doch das geht nicht. Wir können nicht anders. Vorbei ist vorbei. Fragen Sie die Zeit! Sie wird es Ihnen bestätigen. Vorbei. Ich kann nicht anders. Muß selbst den Weg mir weisen, aber der geht dann auch immer nur an meinem Vorbei vorbei. Jetzt bin ich zwar da. Aber nützt mir das was? Nein. Denn ich bin da und auch schon wieder weg. Ich bin jeweils weg, wann immer ich wo bin. Ich bin die Zeitweiligkeit, nein, das Jeweils, und das alles ist jetzt weg. Die Gegenwart versteht sich nie, sie versteht sich nicht als Zukünftiges, und sie versteht sich nicht als Jetzt. Und als Vergangenes will sie sich meist nicht verstehen. Ich verstehe auch nicht. Was sagten Sie? Ich verstehe Sie nicht. Sprechen Sie lauter! Die Liebe? Sprechen Sie bitte lauter! Was meinen Sie damit? Meinen Sie damit das, was vorbei ist? Also ich bin nicht an ihm vorbeigekommen, aber vielleicht ein anderer, der sie erkannt hat, die Liebe. Ich nicht.