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Alan Rusbridger

PLAY IT AGAIN

Ein Jahr zwischen Noten und Nachrichten

Für Barbara Rusbridger,
meine verstorbene Mutter,
die mich zum Üben antrieb
und mir sagte, dass Musik
Feundschaft begründet.
Sie hatte recht!

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ALAN RUSBRIDGER

:PLAY IT AGAIN:

Ein Jahr
zwischen Noten
und Nachrichten

Die Arbeit der Übersetzer am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Inhalt

Einleitung

Erster Teil

Zweiter Teil

Dritter Teil

Vierter Teil

Fünfter Teil

Sechster Teil

Siebter Teil

Achter Teil

Epilog

Notentext und Kommentare

Danksagung

Einleitung

Mit Gary hat alles angefangen.

WIR KANNTEN UNS NICHT, eine Gruppe leidenschaftlicher Amateurmusiker, die sich im südfranzösischen Lot-Tal traf, um eine Woche Klavier zu spielen. Stuart, ein ehemaliger Börsenmakler; Liz aus Manchester, der es gelang, zugleich Lehrerin, Krankenschwester und Mutter von fünf Kindern zu sein; Fiona, Psychotherapeutin; John, Ingenieur; James, mittleres Management einer Farbenfirma; Martin, ein hochrangiger Fundraiser im Kulturbereich; Wendy, Fachärztin für Physiologie. Und Gary.

Gary wirkte wie ein Außenseiter – leicht verschroben, ungewandt, zeitweise abwesend, melancholisch, gequält sogar. Es gab ein paar Hinweise auf sein Leben – eine Zeit lang Taxifahrer in Manchester; Geschichten über eine Kneipe, die ihm mal gehörte. Jetzt verteilte er Visitenkarten für sein jüngstes Projekt: eine Website, die Kleidung aus Leder und Latex anbot. (»Es gibt Leder«, sollte er eines Abends vielsagend prahlen, »und es gibt … Leder.«)

Nach ein paar Tagen brach er den Meisterkurs ab – ein überambitionierter Versuch, Liszt zu spielen –, da er sich angeblich nicht ganz wohlfühlte. Während der Vorbereitungsphase auf das Abschlusskonzert, bei dem wir neun uns gegenseitig vorspielten, zog er sich noch stärker als gewohnt zurück. Doch dann, an diesem letzten Abend, setzte er sich einfach hin und spielte Chopins Ballade Nr. 1 in g-Moll, Opus 23.

Wie erstarrt saßen wir im kahlen Raum mit dem Steinboden im Lot-Tal. Garys Finger schienen besessen zu sein. Seine sonst spürbare Zerstreutheit war vollkommener Hingabe gewichen. Er spielte eines der schwierigsten und technisch anspruchsvollsten Stücke überhaupt, spielte ohne Noten, als trage er die Musik in sich. All seine Unschlüssigkeit vom Anfang der Woche war verschwunden. Irgendetwas an dieser Musik hatte ihn vollständig verändert. Als das Stück an Tempo gewann und überging in eine orgiastische Raserei unfassbarer magischer Fingerwirbel, hielt Gary Schritt. Die meisten Töne waren da und richtig getroffen. Das finale Presto war gleichermaßen dämonisch und aufwühlend. Trotzig brachen die letzten ineinanderlaufenden Oktaven hervor. Er hatte es geschafft! Ein Amateurpianist – keinen Deut besser als wir – hatte gerade eines der angsteinflößendsten Stücke des Klavierrepertoires aus dem Ärmel geschüttelt.

Einen Augenblick lang herrschte verblüffte Stille. Gary drehte sich um und sah uns verlegen an. Dann brachen wir, die acht Zuhörer, in ungläubigen Beifall aus.

Etwa eine Woche später, ich packte gerade für unseren jährlichen Italien-Urlaub im August, sah ich mir förmlich dabei zu, wie ich in letzter Minute die Noten der Ballade in meinen Koffer gleiten ließ. Im angemieteten Bauernhaus gab es ein einfaches Klavier, und eines Tages – das Haus war leer, es bestand keine Gefahr, dass jemand mich hörte – bahnte ich mir zaghaft einen Weg durch das furchterregende Stück. Ich kannte Chopins Balladen seit dem Studium, doch wäre es mir nie in den Sinn gekommen, auch nur versuchsweise eine davon zu spielen. In der Sprache der Bergsteiger ließe sich das mit einem Mann mittleren Alters vergleichen, der sich vornimmt, das Matterhorn zu besteigen – was einige besessene und verwegene Ehrgeizlinge ja tatsächlich unternehmen, allerdings unter allergrößter Gefahr.

Ich war der archetypische Amateur, der sich im mittleren Alter wieder ans Klavier setzte. Meine musikalische Erziehung hatte im Kirchenchor begonnen, als ich sechs Jahre alt war. Mit acht lernte ich Klavierspielen. Mit zehn nahm ich noch Klarinettenunterricht und trat dann in den Domchor von Guildford ein. Die folgenden drei Jahre tauchte ich außergewöhnlich tief in die Musik ein, mit strengem Tagesplan für Klavier- und Klarinettenstunden, daneben Chorproben und liturgische Pflichten.

Mit dreizehn wechselte ich auf die Cranleigh-School in Surrey, damals noch eine ganz durchschnittliche Privatschule, wo in den folgenden fünf Jahren das Singen und Klavierspielen zugunsten einer ernsthaften Konzentration auf die Klarinette in den Hintergrund traten. Wenn, wie es derzeit der wissenschaftliche Konsens ist, 10 000 Übungsstunden bis zum Alter von achtzehn Jahren notwendig sind, um ein wirklich guter Klavierspieler zu werden, dann hatte ich diese Marke um gut 8 000 Stunden verfehlt. Ich vertändelte viel Zeit am Klavier – spielte mit Freunden Duos –, auch noch in meiner Zeit als Nachwuchsreporter bei den Cambridge Evening News. Wo immer ich gerade lebte, meldete ich mich als Klarinettist im örtlichen Laienorchester an und suchte nach Partnern für Klavierduos. In Cambridge lieh ich mir während der ersten Studentenzeit immer ein Klavier. Doch ich kann wohl mit Sicherheit sagen, dass ich während meiner drei Jahre dort kein einziges Stück ernsthaft geübt habe. Gewiss spielte ich viel, war aber im besten Fall ein Pianist, der seine seit Schulzeiten bekannten Stücke wieder und wieder runterspielte.

Als ich ungefähr neunzehn war, hatte ich eine Freundin, Ros, deren Vater ein ziemlich strenger Schuldirektor war, ein Mann wie ein schroffer Bär, der wie eine Figur aus dem 19. Jahrhundert wirkte. Bei Ros’ Eltern stand im Wohnzimmer ein Flügel mitsamt einigen Noten, darunter auch von Chopin, von dem ich mir eines Nachmittags einen Band nehmen wollte. Bis heute erinnere ich mich, wie ihr Vater mich nach meiner Meinung zu Chopin fragte. Er wollte wissen, ob auch ich die weitverbreitete Ansicht vertrat, Chopin sei ein Schwärmer.

Unter seinem kritischen Blick wurde mir auf dem Sofa ungemütlich. Natürlich verneinte ich. Chopin, ein Schwärmer? Wie lächerlich!

Doch ich war kaum der Prüfung des Direktors entkommen, da wurde mir klar, dass ich genau das dachte. Rückblickend vermute ich, dass es bloß eine Reaktion auf den Musikgeschmack meiner Eltern war. Eine leichte Reaktion, könnte man sagen, aber dennoch eine Reaktion. Eigentlich war es nicht einmal so sehr der Geschmack meiner Eltern, gegen den ich mich richtete – Chopin gehörte zu dem Zeug, das meinen Großeltern gefiel, und wie um alles in der Welt kann man sich zu so etwas hingezogen fühlen?

Philip Feeney, einer meiner engsten Freunde in Cambridge, der als Arbeiterkind ein Musikstipendium für das Winchester College erhalten hatte, sorgte schließlich dafür, dass ich mir diese anmaßende Haltung aus dem Kopf schlug. Philips Lieblingsstück von Chopin war das Nocturne Nr. 16 in Es-Dur, Opus 55, Nr. 2. Er spielte es immer wieder, und ich war wie verzaubert von seiner Interpretation der aufstrebenden Sprünge, der inwendigen Triller, der schier endlosen Melodien. Ich also hielt Chopin für »schwärmerisch«, Philip hingegen, der bald atonale Stücke schrieb, die ich nicht im Ansatz verstand, war alles andere als schwärmerisch. Ich blickte durch ein neues Prisma: Es war in Ordnung, der musikalischen Avantgarde anzugehören und trotzdem Chopin zu mögen. Philip war der unprätentiöseste Musiker, den ich kannte. Er reagierte beinahe körperlich auf die überholte, elitäre Privatschulatmosphäre, die an der Universität von Cambridge herrschte, in deren Mitte er – widerwillig, wie es manchmal schien – gelandet war. Er ließ sich einen zotteligen Bart wachsen, trug tagein, tagaus die gleichen ungewaschenen Jeans und T-Shirts, er nahm mich allabendlich mit zum Dartspielen, in der Hoffnung, mir Ecken und Kanten zu verpassen. Schätzte er Chopin, konnte ich das auch. Mein Vater – im Ruhestand, keine musikalische Ausbildung, Hobbys: Zeitunglesen und Gärtnern – verliebte sich, überraschend für mich, zur gleichen Zeit in Chopin. Er hatte den französischen Klavierveteranen Vlado Perlemuter spielen gehört, und etwas hatte seinen Nerv getroffen. Während der darauffolgenden zwanzig Jahre sollte er dessen Aufnahmen kaufen und – bis hin zu den letzten Auftritten (Perlemuter spielte noch über das achtzigste Lebensjahr hinaus) – versuchen, ihn bei jedem Konzert in England live zu erleben. Er reiste sogar nach Cambridge, um den alten Mann – der ein furchtbares Musikgedächtnis hatte – bei dessen Meisterkurs zu erleben.

Ich begann, Aufnahmen und Noten von Chopin zu kaufen. Die Etüden, die Nocturnes, die Preludes und die Klavierkonzerte. Und, während meines zweiten Jahres in Cambridge, die Balladen. Alles, was mir von deren Plattencover in Erinnerung blieb, ist, dass es himmelblau war. Sie waren eine Offenbarung – fast schon eine religiöse Erscheinung. Klavierstücke von solcher Größe, solcher Intensität, unendlich melodisch, mit so feinen Kontrasten. Das war ausgefeilte, große, elementare Musik aus dem Herzen. Was um alles in der Welt hatte ich mir da nur gedacht – schwärmerisch? Später fiel mir seine dritte Sonate in die Hände, die für mich zu einer Art Hymne wurde, als ich zum ersten Mal nach London zog, bis die Kassette schließlich vom wiederholten Abspielen auf meinem Recorder im Renault 5 ausgeleiert war. Was nicht heißt, dass ich selbst viel davon spielen konnte. Ich versuchte es mit den Stücken, die man sich am Anfang üblicherweise vornimmt. Ich war für Chopins Herausforderungen noch nicht bereit. Ich habe diese »Anfängerstücke« auch nicht ordentlich gelernt; ich schluderte nur, wie ich es dreißig Jahre lang mit meinem Klavierspiel gemacht hatte. Erst als ich in meinen Vierzigern ein mäßig schwieriges Prelude zu einem Lehrer mitbrachte, verstand ich, was wahres Notenlesen alles beinhaltet: herauszuarbeiten, wie die Töne exakt fallen müssen; wie ein Legato-Fingersatz funktioniert; wie man das Pedal einsetzt; wie man das Gehirn gewissermaßen zweiteilt, damit die Melodie auf einer tiefen Welle von wogender Harmonie dahingleiten kann.

Als ich 1979 nach London zog, um als Journalist an der Fleet Street zu arbeiten, wurde es schwierig, weiter zu musizieren. Nie konnte ich vorhersagen, wann ich Zeit für Proben oder Konzerte hatte: Reporter sind immer auf dem Sprung, dem Fluss der Nachrichten ausgeliefert. Ich zog von Mietwohnung zu Mietwohnung – und obwohl ich irgendwann ein altes Klavier gekauft hatte, blieb es schwierig, in fremden Häusern zu üben. Und schließlich zog ich in eine Wohnung, die für ein Klavier zu klein war. Erst Mitte der 1980er-Jahre kam ich dazu, mir wieder ein gebrauchtes Klavier zu kaufen. Ich hatte geheiratet, Lindsay und ich hatten zwei kleine Töchter – Isabella und Lizzie – und mein Beruf brachte Überstunden, Auslandsreisen und 1986 sechs Monate im Ausland mit sich. Meine Klarinetten setzten Staub an. Mein Klavierrepertoire schrumpfte zu einer Handvoll Kinderlieder. Dann wurde ich mit Anfang vierzig Chefredakteur des Guardian – und hatte einen dieser Jobs, die sich unendlich ausdehnen bis an die Grenze der Zeit und dann überlaufen. Ein Redakteur, erst recht in einem modernen globalen Medienunternehmen, hat niemals wirklich Feierabend. Eine Nachrichten-Website läuft Tag und Nacht, will permanent gefüttert und aktualisiert sein. E-Mails strömen rund um die Uhr herein. Korrespondenten in weit entfernten Weltgegenden geraten in Schwierigkeiten; Anwälte drohen oder reichen Klagen ein; Politiker raspeln entweder Süßholz oder fühlen sich vernachlässigt. Für ein Leben außerhalb bleibt keine Zeit, erst recht nicht für ein Hobby. Natürlich finden einige meiner Redaktionskollegen Zeit, ins Fitnessstudio zu gehen, zu joggen oder Squash zu spielen. Vielleicht schaffen sie es sogar, am Wochenende ein paar Stunden zum Golfspielen freizuschaufeln. Aber Zeit, um ernsthaft Klavier zu üben? Wann?

Dennoch, meine kreative DNA rührte sich – eine schwache Erinnerung an das blühende musikalische Innenleben, das bis in meine Mittzwanziger einer Obsession glich.

»Kreative DNA« ist natürlich kein wissenschaftlich exakter Ausdruck. Etwas, das ich einmal bei C. G. Jung gelesen habe, erfasst am besten, was sich in mir regte. Er beschrieb, wie wir, erreichen wir die Lebensmitte, zwar »sozialen« Erfolg erlangt haben können; sprich Kinder, bessere materielle Voraussetzungen, vielleicht sogar eine gewisse Stellung oder bescheidene Anerkennung in unserem Berufsfeld. Zugleich jedoch, sagte er, können wir leicht »die eine wesentliche Tatsache [übersehen], dass die Erreichung des sozialen Zieles auf Kosten der Totalität der Persönlichkeit erfolgt.« Er schrieb: »Vieles, allzu vieles Leben, das auch hätte gelebt werden können, bleibt vielleicht in den Rumpelkammern verstaubter Erinnerungen liegen.« Doch ist noch nicht alles verloren, denn manchmal sind diese Erinnerungen »glühende Kohlen unter grauer Asche.« Für Jung – und bitte, ich habe, was ihn betrifft, eher Konversationswissen und keinen Doktortitel – können das mittlere Alter und die folgenden Jahre tatsächlich unsere Chance sein, etwas mit diesen »glühenden Kohlen« anzufangen:

Der Mensch würde gewiss keine siebzig und achtzig Jahre alt, wenn diese Langlebigkeit dem Sinn seiner Spezies nicht entspräche. Deshalb muss auch sein Lebensnachmittag eigenen Sinn und Zweck besitzen und kann nicht bloß ein klägliches Anhängsel des Vormittags sein. Der Sinn des Morgens ist unzweifelhaft die Entwicklung des Individuums, seine Festsetzung und Fortpflanzung in der äußern Welt und die Sorge für die Nachkommenschaft. Das ist der offensichtliche Naturzweck. Aber […] wer solchermaßen das Gesetz des Morgens, also den Naturzweck, in den Lebensnachmittag ohne Not hinüberschleppt, muss es mit seelischen Einbußen zahlen […]. Gelderwerb, soziale Existenz, Familie, Nachkommenschaft sind noch bloße Natur, keine Kultur. Kultur liegt jenseits des Naturzweckes. Könnte also Kultur der Sinn und Zweck der zweiten Lebenshälfte sein?

Was auch immer es war – DNA, Psychologie, ein schlichtes Bedürfnis, dem Hamsterrad der Zeitungswelt für Augenblicke zu entkommen –, mit Mitte vierzig, an meinem »Nachmittag«, verspürte ich ebendiesen Instinkt, einen kleinen Teil meines Lebens für Kreativität abzuschotten, für »Kultur«. Isabella und Lizzie waren inzwischen Teenager; sie mussten nicht mehr ununterbrochen beaufsichtigt werden. Im Gegenteil, zufrieden verschliefen sie viele ihrer Tagesstunden – besonders an Wochenenden und im Urlaub. In solchen Momenten entdeckte ich jene Zeit wieder, die zu haben ich vergessen hatte. Ich schrieb zwei Kinderbücher. Ich entstaubte die Wasserfarben und verspürte – zum ersten Mal seit dem Kunstunterricht mit vierzehn Jahren – das Gefühl, wie es ist, feuchte Farben auf Papier zu bringen. Und ich spielte Klavier. Natürlich fand ich heraus, dass ich ebenso wenig malen wie wirklich Klavier spielen konnte. Ich nahm mir meist dieselben alten Stücke vor, wobei ich die Fehler genauso gut behalten hatte wie die Noten, nun aber versuchte ich gelegentlich, etwas fokussierter zu spielen. Der Gedanke kam in mir auf, dass ich etwas Neues und Herausforderndes versuchen könnte – Mozarts c-Moll-Sonate zum Beispiel. Ein Chopin-Nocturne vielleicht? Für ein paar Tage übte ich, ging dann aber zu etwas anderem über.

Immerhin entschied ich mich, Klavierunterricht zu nehmen. Es war das erste Mal seit etwa zwanzig Jahren, dass ich im eigentlichen Sinne etwas lernen wollte. Nach endlosen Prüfungsjahren hatte ich mir beim Verlassen der Universität fest vorgenommen, nie wieder etwas ernsthaft zu lernen, was ich, abgesehen von einem flüchtigen Versuch mit Stenografie, auch streng eingehalten hatte. Doch jetzt nahm ich Klavierstunden bei Michael Shak, der drei Straßen entfernt in unserem Stadtteil Kentish Town lebte. Ein gutmütiger, ernsthafter, schwuler, nervöser, warmherziger, anspruchsvoller Amerikaner, der eigene professionelle Ambitionen wegen »Bühnenproblemen« (auch Angst genannt) aufgegeben hatte.

In den ersten beiden Jahren hielt ich mich mehr oder weniger an Michaels rigide Arbeitsweise. Er legte mir kurze Tänze von Schubert vor, jeder einzelne nur ein paar Takte lang und scheinbar einfach. Aber unter Michaels Regiment war nichts einfach. Wie ein Falke hockte er nur wenige Zentimeter von meinem Ellenbogen entfernt und stürzte sich auf jeden falschen Ton. Das waren echte Übungsstunden, bei denen die Technik im Mittelpunkt stand. Trotz Michaels spürbarem Widerstand juckte es mich bald, anspruchsvollere Stücke zu spielen, ich wählte den ersten Satz aus Beethovens Opus 110. Drei Monate mühten wir uns ab, bevor ich tief verletzt aufgab. Ungefähr dieselbe Zeitdauer arbeiteten wir am letzten Satz der Schumann-Fantasie, einem Stück, an dem ich schon zu Studentenzeiten herumprobiert hatte. Als Michael mit mir fertig war, konnte ich tatsächlich alle Töne so spielen, wie sie notiert waren. Das war das erste Mal in meinem Leben, da bin ich mir sehr sicher. Und ich war fünfzig.

Klavierspielen war inzwischen zu einem entscheidenden Teil meines Tagesablaufes geworden. Man könnte es als Flucht oder als Zwangshandlung bezeichnen, in jedem Fall war es für mich eine körperliche Notwendigkeit. Wenn es mir gelang, vor der Arbeit zwanzig Minuten am Klavier zu verbringen, dann hatte ich das erhebende Gefühl, die Chemie meines Gehirns verändert zu haben. An diesen Tagen fühlte sich mein Kopf »gefestigt« an, bereit für all das, was die nächsten zwölf Stunden bringen würden. Viel später erfuhr ich, dass es nicht wirklich eine chemische Reaktion war, sondern die buchstäbliche Neuverkabelung neuronaler Schaltungen.

Dank eines ehemaligen Theaterkritikers der Londoner Times entdeckte ich dann die sommerlichen Klavierkurse im Lot-Tal. Irving Wardle, damals schon beinahe achtzig, aber immer noch aktiver Klavierspieler, hatte in dem Literaturmagazin Granta einen Artikel von mir über meine »Klimpereien« gelesen und glaubte, der Kurs könnte mir Spaß machen. Er schickte mir einen seiner eigenen Artikel, der den bedenkenswerten Sinnspruch enthielt: »Ich bin ein fantastischer Pianist. Der Haken ist nur, dass ich nicht so gut Klavier spielen kann.«

So fand ich mich jeweils im Juli der folgenden fünf Jahre im Haus von Anne Brain ein, einer Schönheitschirurgin (und zudem Amateurpianistin und -flötistin) aus Manchester, welche die großartige Idee gehabt hatte, in ihrem französischen Wohnsitz bei dem hübschen Dörfchen Prayssac jährlich einen Klavierkurs für gleichgesinnte Enthusiasten zu veranstalten. Genau dort hatte uns Gary in diesem Jahr mit der Chopin-Ballade in Erstaunen versetzt. Nun, drei Wochen später, lag ich in Italien am Pool mit der quälenden Frage: Wie in aller Welt hatte Gary das nur geschafft?

Im Ranking der Kursteilnehmer stand er irgendwo in der Mitte. Einer oder zwei von uns hätten eine Profikarriere einschlagen können, doch war es anders gekommen. Die anderen waren einfach nur unglaublich enthusiastische Hobbypianisten. Gary hatte eine ziemlich gute Technik – besser als meine – und er wählte ein anspruchsvolles Repertoire. Aber so wie bei mir gab es auch in seinem Pianistenleben eine klaffende und bei uns beiden deutlich hörbare Lücke. Er hatte eine beeindruckende Fähigkeit, Stücke auswendig zu spielen; nichts dergleichen bei mir. Ich konnte ganz anständig vom Blatt spielen; er hingegen nicht. Wir spielten ungefähr in der gleichen Liga, und doch gab es einen eklatanten Unterschied: Er spielte Chopins Ballade und ich nicht. Nicht einmal im Traum. Dieser Gedanke nagte an mir: Wenn er es konnte, musste ich es doch auch können. Dies war (so glaube und hoffe ich) kein Konkurrenzdenken, sondern vielmehr Neugier. Wie war es möglich? Wenn ich das herausfinden könnte, würde ich sehr viel besser verstehen, wie man dieses Instrument spielt, das sich mir, ehrlich gesagt, mein Leben lang entzogen hatte.

Und so beschloss ich in dieser ersten Ferienwoche, das Stück zu lernen und zur Aufführung zu bringen, und zwar innerhalb eines Jahres. Beruf hin oder her, ich würde mir die Zeit nehmen, Chopins Opus 23 bis zum bitteren Ende zu üben. Nur noch drei Monate bis zu meinem siebenundfünfzigsten Geburtstag – reichlich spät für eine Wandlung vom Saulus zum Paulus musikalischer Präzision, die ich bislang stets gemieden hatte. Waren mein Kopf und meine Finger überhaupt noch fähig, neue Tricks zu lernen? Ich würde mir eine ganze Menge Fingertechnik aneignen müssen, die ich zwar kannte, der ich aber immer ausgewichen war. Ich würde mein Hirn, das bislang nicht in der Lage war, auch nur eine einzige Note auswendig zu lernen, dazu bringen müssen, eine ungeheure Datensammlung komplexer Notationen behalten zu können. Schlechte Gewohnheiten, lebenslang gepflegt, würde ich ablegen müssen: das schlampige Vom-Blatt-Spielen; Stücke zu früh zu schnell zu spielen; das Schummeln bei kniffligen Passagen, während ich mir vormachte, später weiter daran zu üben. Kurz: Ich musste regelrecht Klavierspielen lernen.

Wenn ich gewusst hätte, was beruflich sehr bald auf mich zukam, hätte ich vielleicht einen Rückzieher gemacht. Es sollte sich herausstellen, dass ich zur selben Zeit den Guardian durch eines der dramatischsten Jahre seit seiner Gründung steuern musste: ein Jahr, das mit WikiLeaks begann – der größten Veröffentlichung von Staatsgeheimnissen in der Geschichte – und damit endete, dass vom mächtigsten Medienunternehmen der Welt nicht mehr blieb als unterwürfige Entschuldigungen und ein erbärmliches Krisenmanagement, weil es dem Guardian gelungen war, dessen groß angelegte Operation zum Abhören von Telefonen mehr oder weniger Prominenter aufzudecken – diese Story zog mich später in die Leveson Inquiry hinein, eine parlamentarische Untersuchung der britischen Presse von gigantischem Ausmaß. Hinzu kamen der Tsunami in Japan, der Arabische Frühling, die Unruhen in England, der drohende Kollaps des europäischen Finanzsystems und der Tod Osama bin Ladens. Diese Ereignisse fielen zudem in die größte kulturelle, ökonomische und technologische Veränderungsphase, die Zeitungen je erlebt haben. Die Herausforderung bestand nun darin, jeden Tag zwanzig Minuten für etwas abzuknapsen, das mit dem eben Genannten nichts zu tun hatte.

Ich beschloss, ein Tagebuch über dieses Balladen-Jahr zu führen. An den Wochenenden wollte ich Zeit finden, Pianisten, sowohl Amateure als auch Profis, zu der mir selbst gestellten Aufgabe zu befragen. In achtzehn Monaten traf ich Schauspieler, Sportler, Taxifahrer, Politiker, Lehrer und Diplomaten, die sich, sobald sie von meinem Projekt erfuhren, allesamt offen dazu äußerten, wie die schwerkraftähnliche Macht der Musik ihr Leben beeinflusste. Auch wollte ich Neurowissenschaftler bitten, mir die Wirkung von Musik auf das Gehirn zu enträtseln.

Und ich würde versuchen, das Stück zu lernen, welches, so sollte mich der berühmte Pianist Murray Perahia bald warnen, »eines der vertracktesten Stücke des Repertoires« ist.

Erster Teil

Freitag, 6. August 2010

DER JÄHRLICHE URLAUB beginnt. Es klingt wenig abenteuerlich, aber seit ein paar Jahren mieten wir immer das gleiche Haus auf dem Landgut La Foce im toskanischen Val d’Orcia. Das alte Bauernhaus mit dem neuen Pool ist perfekt für Menschen wie uns, die im Urlaub keine große Neigung haben, sich mehr als ein paar hundert Schritte von der Küche, dem Liegestuhl oder dem Schwimmbecken zu entfernen. Ringsum liegen ausgedörrte Felder, Tag für Tag pflügt ein mächtiger Traktor die Erde, die in so große Schollen aus schwerem Ton aufbricht, dass man sich fragt, was jemals darauf wachsen soll. Die anglo-amerikanische Schriftstellerin Iris Origo lebte hier während der Kriegsjahre mit ihrem Mann Antonio, einem italienischen Herzog. Sie beschreibt die von »aschgrauen Lehmbuckeln« geprägte Landschaft als »nackt und fahl wie Elefantenrücken, wie Mondgebirge«1.

In der Liste des UNESCO-Weltkulturerbes heißt es: »Val d’Orcia ist ein außerordentlich gutes Beispiel dafür, wie in der Renaissance die Landschaft umgestaltet wurde, um ein ästhetisch ansprechendes Bild zu erzeugen und eine gute Regierungsführung zu repräsentieren.« Wir begegnen der Renaissance nur auf unseren seltenen Ausflügen nach Pienza. Dieses herrliche Städtchen thront samt Kathedrale und Palästen aus dem 15. Jahrhundert hoch oben auf dem Berg, und vermutlich hat sich der Blick von dort ins Tal hinab in den vergangenen fünfhundert Jahren nur wenig geändert.

Unsere Ferienvilla hat im obersten Stock vier Schlafzimmer, der große Raum im Erdgeschoss wird früher wohl ein Stall für das Vieh gewesen sein, jetzt gibt es dort eine Tischtennisplatte und Futons für überzählige Gäste. Und – ganz unverhofft – in diesem Jahr auch ein Klavier. Offenbar haben unsere Vorgänger es bestellt, und die Verleiher sind noch nicht dazu gekommen, es wieder abzuholen. Da steht es nun in einer Ecke des Raumes: ein glänzendes Yamaha.

Samstag, 7. August

AUF DEN LÄNDEREIEN von La Foce stehen weit verstreut Häuser, versteckt an Hängen oder Waldrändern. In den meisten Fällen erfährt man nicht, wer darin wohnt: Dann und wann sieht man fernen Staub, aufgewirbelt von einem Auto auf den gewundenen weißen Straßen, oder man hört den Widerhall eines Lachens. Aber es gibt hier eine Art Buschfunk, über den man gelegentlich zu Drinks oder einem Essen eingeladen wird.

Am Abend fahren Lindsay und ich einen gewundenen, ausgefahrenen Weg hinauf, bis wir nach fünfundzwanzig Minuten ein Haus mit einem spektakulären Ausblick über das Tal erreichen. Dort unter den Gästen steht, mit einem Weinglas in der Hand, den Blick in das vulkanische Tal hinab gerichtet, kein Geringerer als Alfred Brendel. Er sieht gut aus mit seinen achtzig Jahren, viel entspannter und unbeschwerter, seit er im Dezember 2008 im Wiener Musikverein sein letztes Konzert gegeben hat – ich habe die Aufführung damals im Guardian besprochen. Bei einem Drink nach dem Abendessen sagt Brendel, er sei mit dem Leben außerhalb des Konzertbetriebs rundum zufrieden. Er habe, betont er, nie für Applaus und Anerkennung gelebt. Viele Fans mögen bei seinem Rückzug Tränen vergossen haben, er selbst keineswegs. Macht es ihm etwas aus, über das Klavierspielen zu sprechen? Schwer zu sagen, jedenfalls beantwortet er meine Fragen äußerst bereitwillig, und ich kann nur hoffen, dass sie nicht in die Kategorie fallen wie: »Wo kriegt man als Redakteur eigentlich immer all die Storys her?«

Er erzählt von seinen Anfängen – man musste sich damals zwischen der klassischen Schule (Haydn/Beethoven/Schubert) und Chopin (vielleicht auch Liszt) entscheiden. Brendel spielte nur eine einzige Chopin-Aufnahme ein – und rührte ihn danach, was er heute bedauert, für den Rest seiner Karriere nicht mehr an. Doch bevor der Chopin-Vorhang für ihn fiel, hatte er die Ballade in g-Moll gespielt. Ich frage ihn danach. Objektiv betrachtet sei die Ballade nicht die schwierigste, sagt er, doch sei sie schwer zu interpretieren. Man muss sich klarmachen, erläutert er, dass Chopin der einzige Komponist war, der ausschließlich für Klavier komponiert hat. Die Musik geht ganz von diesem Instrument aus. Bei allen anderen Komponisten spürt man auch in deren Klavierwerken einen sinfonischen Charakter oder etwas Chorisches, bei Chopin hingegen zählt nur das Klavier.

Sonntag, 8. August

HEUTE ENTSCHEIDE ICH, dass der Zeitpunkt günstig ist: Das Haus ist leer und niemand kann mich hören. Die Mädchen werden lange schlafen, Lindsay ist unten am Pool. Ich habe zwei Stunden für mich. Ich setze mich an das glänzende Yamaha und probiere zum ersten Mal, Chopins Ballade in g-Moll vom Blatt zu spielen. Ich kenne das Stück seit Studentenzeiten, doch bin ich seither nie auf den Gedanken gekommen, mich daran zu versuchen. Wie sich zeigt, habe ich es zu Recht gemieden: Für Amateure ist es einfach ein unmöglich zu bewältigendes Stück. Frustration überkommt mich, während meine Finger mühsam im Schneckentempo über die Tasten kriechen. Die technischen Anforderungen sind immens. Wie würde ich jetzt dastehen, wenn ich nicht so viel Zeit hätte verstreichen lassen, wenn ich schon mit dreißig angefangen hätte, jeden Tag zwanzig Minuten zu spielen, und nicht erst mit fünfzig? Vielleicht wäre es dann nicht ganz so unmöglich.

Chopin komponierte die erste seiner vier Balladen wahrscheinlich um 1834/35. Er war Mitte zwanzig und lebte in Paris. Warschau hatte er zur Zeit des polnischen Novemberaufstandes gegen die russische Hegemonialmacht (1830/31) verlassen, um neun unbefriedigende Monate in Wien zu verbringen. Einige Musikwissenschaftler gehen davon aus, dass diese historischen Fakten zum Verständnis des Stückes beitragen. Der Hörer, so sagen sie, sollte wissen, dass es sich um ein Exilwerk handelt. Es wurde in einer revolutionären Zeit geschrieben, als der polnische Nationalstolz die Kultur zu prägen begann – die klassische Musik nutzte die Kraft der Volkslieder, und die Literatur bediente sich folkloristischer Formen. Chopin, der nicht nach Warschau zurückkehren konnte, schrieb Mazurkas und Polonaisen. Er las die Balladen des polnischen Dichters Adam Mickiewicz und entfernte sich von der Tradition der Klassik, deren Höhepunkt meist mit dem Spätwerk Beethovens gleichgesetzt wird. Die Balladen waren in jeder Hinsicht komplexe und revolutionäre Stücke.

Die g-Moll-Ballade dauert knapp zehn Minuten – zumindest wenn ein Profi sie spielt – und sie beginnt mit einer Deklamation. Wenn sie eine Geschichte wäre, würde der Erzähler hier die Aufmerksamkeit der Zuhörer wecken. Fünf Takte bestehen nur aus Oktaven, ohne weitere Harmonie oder Färbung. In die Eigenheit der Töne mischt sich Verwirrung darüber, wohin das führen soll. Es ist noch nicht klar, in welcher Tonart das Stück steht oder wo sich das tonale Zentrum befindet. Die Einführung endet mit einem ungewöhnlichen Akkord (Takt 7), bekannt als Neapolitanischer Sextakkord. Das ist ein »instabil« klingender Akkord, der aufgelöst werden muss – nicht unbedingt sofort zur Haupttonart g-Moll, aber zur Dominante D-Dur, bevor es in Takt 9 dann in g-Moll übergeht.

Jetzt sind wir im ersten Thema – Thema A, das eindeutig in g-Moll steht. Aber es gibt in der Einführung ein kleines Motiv, das Aufmerksamkeit verdient, ein schwacher »Seufzer« in der zweiten Hälfte von Takt 3. Wir hören ihn wieder in Takt 9/10 und über Takt 13/14 hinweg – dann wiederholt und wehmütig durch das gesamte eröffnende Moderato hindurch. Thema A baut sich sanft und sehnsuchtsvoll um eine provisorische zweitaktige Phrase auf, die Chopin mehrfach aufgreift und jedes Mal in Harmonie oder Melodik fein variiert. Bis hierhin ist es nur das trällernde Fragment eines Stückes, kein echter Walzer, doch mit Anspielungen, einem Walzer-Echo. Zudem deutet der Doppelschlag der Akkorde in der linken Hand einen Herzschlag an; der jeweils erste vielleicht ein bisschen lauter als der zweite. Erst von Takt 22 an taucht man in eine längere, fließende Passage ein. Für einen Augenblick schwillt die Musik selbstbewusst an, nur um in Takt 29 wieder zögerlich zu werden.

Takt 36 markiert eine Verbindungspassage – noch einmal mit der Andeutung des Seufzer-Motivs aus der Einleitung. Zunächst bleibt die Stimmung sanft und wehmütig. Doch diese viertaktige Phrase wird agitato wiederholt, was einen aus der vormals zarten, wenn auch manchmal etwas schrägen Welt plötzlich ins Bedrohliche stößt. Die Musik wird nun schneller, perkussiver, fragmentarischer. Wie zuvor lässt sich auch hier die Andeutung eines Walzers heraushören, jedoch eines eher volkstümlichen.

Takt 48: Stimmungswechsel. Alles beschleunigt sich – vorausgesetzt, ein Profi spielt. Ein regelrechter Sturzbach aus Klängen – eindringlich hämmert die linke Hand gegen eine Kaskade synkopierter und sich überkreuzender Rhythmen in der rechten an. Wellenartige Arpeggien und donnernde Oktaven der linken Hand zeigen an, dass wir uns in der Tonart g-Moll befinden.

Es folgt eine magische Veränderung. Die eindringlichen g-Moll-Akkorde der linken Hand in Takt 56 und 60 werden in Takt 64 zu einem fernen, wie von einem Horn gespielten Ruf. Dann ein weiterer Ruf, dann noch einer. Die Musik verklingt, der Ruf entschwindet. Die Tonart wechselt. Ist das jetzt F-Dur oder doch f-Moll? Innerhalb eines Taktes verschmilzt alles stimmig zu einer neuen Melodie in Es-Dur – das ist Thema B. Auch hier wieder ein frischer Walzer-Anklang, aber innerhalb feinster, zärtlichster Liebesmusik – mit Seufzern und allem Drum und Dran. In dem gesamten Stück lässt Chopin keine der Stimmungen lange dominieren. Schon nach fünfzehn Takten wird bei Takt 82 in der rechten Hand scheinbar ein weiteres Motiv eingeführt – eine ornamentale Triole. Eigentlich ist das nur eine beschleunigte Variation von Thema A, aber so zurückhaltend, dass man die Beziehung nicht sofort erkennt.

In Takt 92 ändert sich die Stimmung wieder. Die Temperatur sinkt im Verlauf weniger Töne um mindestens zehn Grad, die Harmonien welken zu einem öden E. Das linkshändige Pochen, das beim ersten Hören von Thema A noch sanft geklungen hat, wirkt jetzt fast bedrohlich. Der Herzschlag wird schneller, während Thema A in deutlich markanterer Form zurückkehrt. Der Seufzer klingt sorgenvoll, in Takt 99 nahezu fragend.

Dann fließt es wie Sonnenlicht in das Stück. Thema B wiederholt sich in Takt 106 – jetzt nicht als Liebesgeflüster, sondern majestätisch oder triumphierend. Es sind große, ausgreifende, beinahe schwülstige Klänge über wuchtigen Fortissimo-Akkorden der linken Hand. Oder doch nicht? Pianisten sind sich an dieser Stelle nicht einmal über die Tonart einig – es sei A-Dur, sagen die einen, andere meinen: E-Dur. Manch einer warnt auch davor, sich nicht durch die vordergründige Erhabenheit verführen zu lassen. Du musst genauer hinhören: Das ist doch eindeutig ironisch gemeint, siehst du das nicht?

In Takt 119 zerstreut sich die erhabene Stimmung, sei sie nun ironisch oder nicht. Die Akkorde der Linken tönen dissonant, während die Rechte beharrlich Oktavläufe spielt, hin zu einem dramatischen Höhepunkt im Fortississimo, der nur einen einzigen Schlag andauert, bevor er zwei Takte später im Pianissimo versinkt. Das Tempo zieht an, und unter den aufreizenden Stopps der linken Hand wandelt sich die Stimmung ins Sorgenvolle. Wieder werfen die Wolken einen Schatten des Zweifels auf das Stück.

Und was passiert dann? Wie aus dem Nichts zaubert Chopin einen echten Walzer hervor (Takt 138), diesmal keinen impliziten, verdrehten oder angedeuteten. Wir sind wieder in einer Dur-Tonart, und die filigrane rechte Hand verziert den vornehmen Dreischritt der linken. Wir könnten in einem Pariser Ballsaal sein. Doch sind wir wirklich dort? Ist das nicht wieder Ironie? Kehrt hier, mit allem Schmerz und Sehnen, in der linken Hand der »Seufzer« zurück? Spielt die rechte Hand nicht eigentlich eine verzerrte Version von Thema A?

Aber noch bevor man sich über all das klar werden kann, ist der Walzer so plötzlich, wie er gekommen ist, auch schon wieder vorbei. Genau sieben Takte hat er gedauert, in deren Mitte (Takt 141) Chopin das Ganze bereits ins Kippen bringt: Er lässt die rechte Hand einen Kreuzrhythmus spielen, durch den das Ohr einen Vierertakt anstelle eines Dreiertakts wahrnimmt.

Nahezu im gesamten Stück steigt die Musik entweder an oder sie fällt ab. Jetzt, in Takt 146, geht es chromatisch aufwärts, es folgen zackige Wiederholungen, die mit einem weiteren Fortissimo- Höhepunkt auf einem einzigen Schlag enden – eine zweite Umkehrung (darum ein sehr »instabiler« Fis-Dur-Akkord) vier Takte später, in Takt 158, gefolgt von einem Sforzando-Akkord in Es-Dur ebenfalls in zweiter Umkehrung. Wieder treibt die Musik aufwärts. Und sogleich, bei Takt 162, stürzt sie kaskadenartig in die Tiefe zur Wiedereinführung des B-Themas, fortissimo, Takt 166. Wir sind jetzt in B-Dur, ganz verwandt dem ursprünglichen g-Moll. Nun plätschert die linke Hand etwa fünfundzwanzig Takte lang in Arpeggien dahin, während die rechte Hand das Thema vorträgt … Majestätisch? Gut möglich. Doch vielleicht hat der Hörer bereits gelernt, vordergründigen Stimmungen zu misstrauen. Nie ist die Musik wirklich so sanft, so süß, hochtrabend oder bezaubernd, wie es zuerst scheint. Vielleicht sollten wir unseren Deutungswillen einfach zügeln und uns von den sich auftürmenden Wellen voller Pracht überrollen lassen. In Takt 180 bemerkt das wachsame Ohr das A-Thema in doppeltem Tempo, eine Variante, die Chopin bereits inmitten der ersten Vorstellung des B-Themas eingeführt hat. Hier, in Takt 180, tritt es con forza auf – doch schmilzt schon bald dahin.

In Takt 194 ist es so weit. Genau hundert Takte zuvor war die Temperatur schon einmal auf einen einzelnen Ton der Verdammnis abgesunken. Das geschieht jetzt wieder, es geht sogar noch einen Ton tiefer. Wir sind zurück im A-Thema, mit dem Herzschlag der linken Hand. Aber niemand könnte den jetzt als sanft missverstehen. Es ist ein Herzschlag auf Adrenalin. Sorge, kaum gezügelte Panik schwingt in diesen Klängen mit. Bis zum Takt 202 wird der Seufzer der rechten Hand drei Mal wiederholt. So fröhlich, zärtlich und walzerartig Thema A anfangs geklungen hat – hier verwandelt es sich in pure Angst.

In Takt 206 sind wir auf der Dominante D, Chopin fordert eine orgelartige Pedalführung und weist den Pianisten an, leidenschaftlich und möglichst laut zu spielen. Etwas Furchtbares kündigt sich an. In Takt 207 zieht er die Feder bis zu einer kaum erträglichen Spannung auf, die sich erst mit dem g-Moll zu Beginn der Coda löst.

Die Coda ist bei fast allen Pianisten gefürchtet, ganz gleich, wie gut sie sind oder wie viele hundert Stunden sie diesem Stück geopfert haben. Hier explodiert das Stück. Presto con fuoco – extrem schnell und feurig. Die synkopierten Rhythmen haben das Zeug, Ohr, Fuß, Kopf und Finger zu verwirren. Die rechte Hand fliegt auf den Tasten hin und her wie an einem Trapez, vollkommen unabhängig von den Sprüngen der linken Hand. Etwas Teuflisches geschieht – jeder Zuhörer hört das –, ein Gefühl von Kontrollverlust, die Zerschlagung aller irdischen Ordnung. Wie aber soll man diese Tollheit aufführen, ohne technisch die Kontrolle zu verlieren?

Von Takt 230 an arbeitet sich die Musik Stück um Stück chromatisch nach oben, das schleichende Grauen. In Takt 238 fällt alles zurück zur Erde. Vier Takte später geht es wieder in die Höhe – ein weiteres chromatisches Ankämpfen der rechten Hand gegen eine Fanfare der linken. In Takt 246 kehrt sich das Ganze um – vom oberen Ende der Tastatur stürzt man hinab und endet schließlich bei einem Grabesgeläut in g-Moll. Ein kurzer Augenblick der Ruhe. Doch schon geht es wieder hinauf. Ein ruhiger, choralartiger g-Moll-Akkord, bevor Thema A in seiner manischen Form hereinbricht. Wieder Stille. Ein neuer Schwung aufwärts – vier Oktaven in g-Moll, diesmal in Dezimen. Stille. Choral. Manisches A-Thema. Und dann – das zur damaligen Zeit wohl revolutionärste Ende eines Klavierstückes? – ein schmetterndes Zusammenlaufen von Oktav-Akkorden, die an den beiden entgegengesetzten Enden der Tastatur beginnen und zunächst langsamer, dann schneller und schneller werden. Manchmal schreiend dissonant, dann wieder nicht, kommen sie über zwei Oktaven der chromatischen g-Moll-Tonleiter zum Ende – einem finalen, schicksalsschweren Glockenschlag in g-Moll.

Was also hält mich davon ab, dieses Stück zu lernen? Ich stelle eine Liste der horrenden technischen Herausforderungen auf, die mich zu jedem anderen Zeitpunkt in meinem Leben davon abgehalten hätten, auch nur einen Versuch zu wagen. Hier ist ein Dutzend einleuchtender Gründe, warum das Stück unspielbar ist … zumindest für mich.

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Was in Takt 33 aussieht wie zerquetschte Fliegen auf dem Papier, ist typisch für Chopin. In einem Moment ist alles ruhig, im nächsten muss die rechte Hand Millionen von Tönen auf jedem einzelnen Ton der linken unterbringen. Gut, nicht »Millionen«, aber genug, um die kleinen schwarzen Punkte vor den Augen verschwimmen zu lassen und Schweißperlen auf die Stirn zu treiben. Vier pro Ton bei den ersten drei Schlägen. Dann – bitte nachzählen – achtzehn auf die nächsten drei. Sechs pro Schlag, genau genommen, aber das würde allzu mechanisch klingen. Könnte man sie also im Verhältnis 6-8-4 aufteilen? Es muss ganz mühelos wirken. Das aber bedeutet langwieriges Notieren, welcher Finger genau welchen Ton zu spielen hat, und das dann auswendig zu lernen.

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Die ersten Passagen begegnen einem auf der dritten Seite. Höchst kompliziert. Die linke Hand startet mit einem Oktavgriff und fällt dann eine Oktave ab. So auch die rechte Hand, aber genau einen Takt später. Die Figur der linken Hand sieht eine unbeholfene Mischung aus Griffen des dritten und fünften Fingers vor – die ihre Sprünge ganz alleine finden müssen, weil die Augen auf die rechte Hand achten, die blitzschnell komplizierte Fingersätze, schwierige Sprünge und Verrenkungen vollführen muss. Und weil die Augen hier unmöglich den Noten folgen können, muss jeder einzelne Ton auswendig gelernt werden. Der Rhythmus ist beängstigend synkopiert. Sowohl auf dem Notenbild als auch vom Gefühl her scheint die rechte Hand in Dreiergruppen oder sogar Triolen gefasst zu sein. Doch sobald man die linke Hand hinzunimmt, empfindet man die Zweierschritte stärker.

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Eine ähnliche Passage wenig später. Fast zehn Takte gebrochener Akkorde für die Rechte, über drei Oktaven und durch drei unterschiedliche Tonarten und mit keineswegs selbstverständlichen Fingersätzen. Seit Jahrzehnten habe ich keine Arpeggien mehr geübt, sonst wüsste ich vielleicht instinktiv, wie sie gespielt werden sollten. Und um alles noch komplizierter zu machen, hat Chopin Horn-Rufe (in zwei unterschiedlichen Oktaven) auf die linke Hand gesetzt. Angenommen, die Augen sind auf das Feuerwerk der rechten Hand geheftet (noch mehr Auswendiglernen), wie soll dann die linke Hand den Weg zum richtigen Punkt für die Horn-Rufe finden?

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Das große zweite Thema – so süß und melancholisch beim ersten Auftritt – kehrt hier erhaben zurück, entweder in A-Dur oder E-Dur, je nachdem, welchen Pianisten man fragt. Wie so oft bei Chopin stellen sich für beide Hände ganz unterschiedliche Schwierigkeiten. Die linke rollt einen Akkordteppich aus – dessen Tonart mit jedem Takt, wenn nicht sogar zweimal pro Takt, wechselt, während sich der Bogen über vier Oktaven spannt und jeder Akkord in einer anderen Umkehrung erklingt. Das allein schon bedeutet eine Stunde Fingersatz und einen Monat Auswendiglernen. Die rechte Hand spielt große, ausgefüllte Oktaven und versucht, eine triumphierende Melodielinie über die linke Hand zu spielen, angereichert mit einigen kniffligen Triolen.

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Kaum hat man die Akkorde im Griff, setzt Chopin drei Oktavläufe auf die rechte Hand. Aber um was zum Himmel handelt es sich hier? Steht der erste Lauf (Takt 119) in h-Moll, aber mit einem angehängten Eis? Ist der zweite Lauf (Takt 120) in cis-Moll, abgesehen von dem Fisis? Sollte das beim dritten etwa gis-Moll sein? Selbst wenn mir die Standardversionen dieser Tonarten vertraut wären, müsste ich mich durchkämpfen, da jede Tonleiter einen Deut »danebenliegt«. Wie es scheint, muss ich jede einzeln und mit dem richtigen Fingersatz üben. Und auswendig lernen.

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Diese Stelle finde ich höchst vertrackt. Die rechte Hand spielt einen filigranen Walzer, moto perpetuo – wenn man einmal den Bogen heraushat, läuft es ganz gut –, aber die linke Hand muss große Sprünge machen (unmöglich, dabei in die Noten oder auf die rechte Hand zu schauen, der nichts anderes bleibt, als auf Autopilot zu spielen), zudem stehen da wieder diese Seufzer-Akkorde, mit denen meine Hand sich einfach nicht anfreunden will. Das Adagio ist machbar – bei schnellerer Geschwindigkeit schießen mir jedoch Schmerzen in den linken Arm.

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Passagen. Fingersatz. Noten. Auswendiglernen. Koordination.

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Ziemlich fies. Eine lange, absteigende Tonleiter beginnt in einer Tonart (möglicherweise B-Dur, aber damit es nicht zu offensichtlich ist, wird noch ein E hinzugefügt). Und dann, während ein großartiger lang gezogener Akkord in der linken für Verwirrung sorgt, verwandelt es sich in etwas anderes. Alles in allem fast sieben Oktaven.

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Einer der entmutigendsten Takte des gesamten Stückes. Ich zähle die Gründe auf:

1) Ein Triller auf dem ersten Ton der rechten Hand (ausgeführt mit den schwächsten Fingern 4 und 5), während der Daumen die Oktave greift.

2) Auf die sechs Schläge des Taktes kommen zwölf Töne in der linken Hand. Sieben Töne in der oberen Linie der rechten Hand. Sieben Töne in der unteren Linie der rechten Hand. Aber ganz anders angeordnete sieben. Mittellinie der rechten Hand: zwei Töne.

3) Also, Stift rausholen und festlegen, welche Note wann gespielt wird. Durch Linien auf dem Notenblatt anzeigen, wo genau jeder einzelne Ton der linken im Verhältnis zur rechten Hand hingehört. Da ist Mathematik gefragt, um die Positionierung einer Viertel-Quartole (vier Schläge auf die Dauer von drei) zu einer Achtel-Triole (drei halbe auf die Dauer von zwei halben Schlägen), zu drei Achteln (drei halbe Schläge), zu zwei Viertelnoten (zwei volle Schläge) auszutüfteln.

4) Sobald alles markiert ist, muss man nur noch versuchen, es zu spielen. Und bitte darauf achten, dass die Melodie (in den äußeren Fingern der rechten Hand) über der quadratischen Gleichung der Musik im unteren Bereich gut zu hören ist. Und dann bitte noch ein bisschen Rubato!

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Hier fängt der Spaß erst richtig an. Die Albtraum-Coda, von den besten Pianisten der Welt gefürchtet. Presto con fuoco – teuflisch schnell – und synkopiert gespielt. Die weiten Sprünge der linken Hand laufen dem erwarteten Rhythmus entgegen. Im Bass rechnet man mit einem »Um-Pa«, doch geschrieben steht »Pa-Um«. Keine Zeit, nachzudenken oder Atem zu holen – entweder man hat es in den Fingern oder nicht.

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Ein Albtraum für die rechte Hand; sie muss todesmutige, artistische Luftnummern am Trapez vollführen und dabei mit Schallgeschwindigkeit abheben, knapp siebzehn Zentimeter weiter links landen und dann auf dem schmalen Holzgrat der Taste den kleinen Finger durch den Daumen ersetzen. Diesem Abwärtsschwung über die Tasten folgt augenblicklich ein Schwung nach oben – wieder ein Sprung ins Ungewisse, der Daumen löst den kleinen Finger ab, dann geradewegs zurück nach unten. Die Melodie wird hauptsächlich vom Daumen gespielt, alles andere ist nur Verzierung. Doch die Daumen-Melodie umfasst eine ganze Oktave. Wieder muss man auf beide Hände achten (die linke Hand macht ihre eigenen Oktavsprünge), es ist unmöglich, gleichzeitig auf die Noten zu schauen. Noch mehr Auswendiglernen.

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Gerade hat Chopin dich ans untere Ende der Tasten geführt, da hetzt er schon wieder hinauf – und das gleich zwei Mal. Zuerst kommt eine g-Moll-Tonleiter über drei Oktaven, beide Hände laufen parallel. Zu leicht? Okay, wie wäre es dann damit: zwei Hände, vier Oktaven, je eine Dezime auseinander. Beide Hände spielen Tonleitern in g-Moll, starten jedoch mit unterschiedlichen Tönen.

Zu jedem anderen Zeitpunkt meines Lebens hätte ich die Noten ganz still zugeklappt und sie zurück ins Regal gestellt. Das ganze Vorhaben ist zudem noch von der Angst überschattet, dass ich in meinem Leben niemals auch nur eine einzige Note auswendig gelernt habe. Ich kann keine Gedichte, Termine, Telefonnummern, Film- oder Romanhandlungen behalten – und auch keine Noten. Weil aber die Hälfte des Stückes unspielbar ist, wenn die Augen nicht auf die Hände, sondern auf die Noten gerichtet sind, habe ich keine Ahnung, wie ich als Endfünfziger mein Gehirn neu konditionieren kann.

Dienstag, 10. August

UNSER ITALIENISCHES FERIENHAUS kann nicht nur mit einem Klavier aufwarten, es gibt sogar einen Klavierlehrer in der Nähe. Die Urlauber im Haus neben uns haben ihn im Städtchen Sarteano in der Nachbarschaft angeheuert. Ob ich mitmachen wolle?