Lutz Pfannenstiel

mit Christian Putsch

Unhaltbar

Meine Abenteuer als Welttorhüter

ZEITRAUM

VEREIN 

LAND

2009

Manglerud Star

Norwegen

2008

Flekkerøy IL

Norwegen

2008

Hermann Aichinger

Brasilien

2007

Vancouver Whitecaps

Kanada

2007

Bærum SK

Norwegen

2006  2007

FK Vllaznia Shkoder

Albanien

2004  2006

Otago United FC

Neuseeland

2004

Calgary Mustangs

Kanada

2003

Bærum SK

Norwegen

2003

Dunedin Technical

Neuseeland

2002  2003

Bradford PA AFC

England

2002

ASV Cham

Deutschland

2002

Dunedin Technical

Neuseeland

2001  2002

Huddersfield Town

England

2001

Bradford PA AFC

England

2001

Dunedin Technical

Neuseeland

1999  2000

Geylang United

Singapur

1998  1999

Wacker Burghausen

Deutschland

1998

Haka Valkeakoski

Finnland

1997

TPV Tampere

Finnland

1997

Sembawang Rangers

Singapur

1996

Orlando Pirates

Südafrika

1995  1996

Nottingham Forest

England

1995

Wimbledon FC

England

1994

Penang FA

Malaysia

1991  1993

1. FC Kötzting

Deutschland

PROLOG

Fast alles ist von Schwärze erfüllt. Draußen ist es hell, strahlender Sonnenschein, aber in diesem Bus gibt es keine Fenster. Kein Blick zur Außenwelt ist möglich, nicht einmal zum Fahrer. Eine schwache Glühbirne lässt die anderen Gefangenen als düstere Umrisse erscheinen, die sich in den Kurven an den Stangen festhalten, so gut es eben geht mit Handschellen.

Es stinkt bestialisch. Dicht gedrängt stehen wir beieinander, können kaum einen Schritt zur Seite tun. Zwölf Mann auf nur acht Quadratmetern. Schwüle Luft mischt sich mit Adrenalin, Angstschweiß. Einige hier haben gemordet, einige vergewaltigt. Ich hatte Fußball gespielt. Wie lange dieser Gefängnisbus schon fährt, frage ich mich. Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, mit jeder Minute entfernt sich mein altes Leben um Jahre.

Ich spüre, wie sich das Metall in meine Handgelenke bohrt, der Gerichtsaufseher hat die Handschellen mit heftigem Druck einrasten lassen. Immerhin bin ich an keine der Stangen angekettet. Nur vier Chinesen sind das, schweigend stehen sie da und starren in die Dunkelheit. Ich präge mir ihre Gesichter ein, sie scheinen hier am meisten auf dem Kerbholz zu haben. Einige rauchen, sie müssen den Tabak irgendwie in den Bus geschmuggelt haben. Neben mir steht ein junger Asiate, sein Haar ist millimeterkurz geschoren. Er fummelt an seiner Armbanduhr rum. Sie öffnet sich wie eine Taschenuhr und gibt ein bisschen weißes Pulver frei. Eine Notration Koks, die letzte für Jahre, die letzte vielleicht überhaupt. In aller Ruhe schnieft er sie.

Hier bin ich also. In einem Gefängnisbus auf dem Weg ins Queenstown Remand Prison von Singapur. Drei Monate in einem der berüchtigtsten Zuchthäuser der Welt. Sollte meine Weltreise als Fußballprofi wirklich hier enden, am Nachmittag des 7. Januar 2001? Der Sport hatte mir die halbe Welt gezeigt, hatte mich an wundervolle Plätze und zu wunderbaren Menschen geführt. Nun bringt er mich ins Gefängnis, in die Verbannung. Mir klingen die strengen Worte der Richterin von vor einer Stunde noch in den Ohren: Es sei erwiesen, dass ich an Plänen für Spielmanipulationen beteiligt gewesen sei. Ein absurder Vorwurf, aber was zählte das jetzt noch? Nichts. Ob ich jemals wieder Profifußball spielen darf? Meine Anwälte konnten mir das nicht versprechen.

Der Bus macht eine scharfe Linkskurve. Ich muss mich an einer der Stangen festhalten. Draußen laufen Menschen, die mir vor einigen Monaten noch zugejubelt und mich zum Torwart des Jahres in Singapur gewählt haben. Und die zuletzt nur noch mit dem Finger auf mich gezeigt haben. Kelong! Betrüger! Das schmerzte, fast mehr noch als die Gefängnisstrafe, die vor mir liegt. Wie könnte ich jemals etwas verraten, das ich so sehr liebe wie den Fußball? Wie würde meine Familie diese Zeit überstehen? Und Anita – würde sie wirklich zu mir stehen, wie sie es mir unter Tränen im Gerichtssaal versprochen hat?

Der Bus hält abrupt. Zwei Wärter reißen die Tür auf, das Sonnenlicht blendet. Wir sind mitten im Gefängnishof. Schäferhunde stehen schon bereit. Wer auch immer Drogen in den Gefängnisbus schmuggeln konnte, egal an welcher Körperstelle – hier würden sie entdeckt werden. «Ausziehen», schreit einer im Militärs-Ton. Ich weiß, was auf uns zukommt, ich saß hier schon in Untersuchungshaft. Die Schäferhunde laufen zwischen uns Gefangenen entlang. Dann kommt ein Wärter. «Mund öffnen.» Er zieht mit seinen Gummihandschuhen meine Zunge heraus. Keine Drogen. Er untersucht jede meiner Körperöffnungen nach illegalen Substanzen. So entwürdigt wie jetzt habe ich mich noch nie gefühlt. Nach einer halben Stunde sind zwei braune, kurze Hosen, zwei weiße T-Shirts und durchsichtige Flip-Flops alles, was ich besitze. Und der Rest von einem Traum so gerade noch am Leben. Doch der Reihe nach.

1

DER TRAUM VON RATKO SVILAR

Ich traf Ratko Svilar nie. Doch den Moment, als ich ihn das erste Mal sah, werde ich nie vergessen. Der kleine Farbfernseher in meinem Zimmer war auf Flüsterlautstärke gestellt, so wie meistens nachts, wenn Eurosport die Tore aus den kleinen Fußball-Ligen übertrug – während meine Mutter mich seit Stunden im Schlaf wähnte. Die Spieler waren auf dem winzigen Bildschirm selten besser als afrikanische Flug-Ameisen zu erkennen. Mit dem Gesicht ging ich so nah an das Gerät heran, bis ich sie nur noch verschwommen sah. Nach ein paar Minuten schmerzten mir die Augen, aber ich wollte mir keine Bewegung der Torhüter entgehen lassen, wie sie ihre Mitspieler dirigierten, fluchten und den Bällen hinterherhechteten.

«… doch wieder boxt Ratko Svilar den Ball aus der Gefahrenzone», flüsterte der Reporter in das Jugendzimmer. «Ohne seinen Torhüter würde der FC Antwerpen wohl fünf Plätze schlechter dastehen.» Ratko Svilar, was für ein Name. Ich sah den riesigen Serben mit den langen, dreckverschmierten Haaren und dem finsteren Blick in Zeitlupe einem Schuss nachspringen. In diesem Moment wusste ich, dass auch ich eines Tages ein Profi-Torwart sein würde.

«Ich mache es wie Ratko Svilar», begrüßte ich am nächsten Morgen meine Mutter am Frühstückstisch, als kenne sie diesen Svilar schon seit Jahren. Aber sie wusste längst, dass sie einen nicht gerade ganz normalen zwölfjährigen Jungen aufzog. «Der Torhüter?», fragte sie, ohne groß aufzublicken. Ich war beeindruckt, dass sie den Schlussmann des FC Antwerpen kannte. Meine Mutter lächelte. In dieser Zeit erzählte ich täglich von berühmten Torhütern – ihr war irgendwann aufgefallen, dass ich nie Mittelfeldspieler lobte. Doch das kam mir nicht in den Sinn. «Ja, wie Svilar», fuhr ich fort, «wenn ich es in der Bundesliga nicht schaffe, dann gehe ich halt in ein anderes Land und werde dort Profi. Svilar kommt ja auch aus Serbien und spielt jetzt in Belgien.» Wieder lächelte meine Mutter. «Ja, Lutz. Du musst nur noch kurz vorher zur Schule gehen. In einer Viertelstunde fängt der Unterricht an.» Sie war ganz gut darin, mich aus meinen Tagträumen zu wecken. Zwölf Minuten später brach ich auf, der Weg zur Schule dauerte drei Minuten, ich wollte keine mehr als nötig verschwenden.

Nachts hatte es geschneit in Zwiesel, meinem Heimatort im Bayerischen Wald. Als ich vor die Tür unseres Hauses trat und das viele Weiß sah, verschlechterte sich meine Laune schlagartig. Die letzten Wintersportler stapften an diesem Märztag durch den 20 Zentimeter tiefen Schnee, und mittendrin lief ein griesgrämiger Junge, den nur ein Gedanke quälte: «Das Training fällt aus.» Jeden Winter war es das gleiche Drama. Auf dem Weg zur Schule machte ich an solchen Tagen den Umweg über den Fußballplatz des SC Zwiesel, und meine Befürchtungen bestätigten sich. Der Platzwart hatte schon das verhasste Schild in den Schnee gerammt: «Betreten des Sportplatzes verboten.»

Am Nachmittag schneite es so sehr, dass die Autos nur im Schritttempo fahren konnten. Ich schloss die Haustür auf, zog meine Gummistiefel an und lief los, in der einen Hand einen Ball, in der anderen eine Schneeschaufel. Eilig sprintete ich den kleinen Berg auf der anderen Straßenseite hinunter zum Platz, kletterte über das Tor und schippte den Schnee aus dem Strafraum.

Auf dem Weg zum Platz hatte ich bereits die Spuren von Gerd Bielmeier im Schnee gesehen. Er war eigentlich immer da. Einsam lief «Bill der Indianer», wie er wegen seiner langen schwarzen Haare genannt wurde, seine Runden. Er war Schichtarbeiter in einer großen Zwieseler Glasfabrik, dem wichtigsten Arbeitgeber der Region. Morgens fing er um sechs Uhr an, ab 14 Uhr bestimmte dann der Fußball sein Leben, jeden Tag, jede Woche. Seine Gene hatten ganz offenbar den gleichen Defekt wie meine – da spielte es auch keine Rolle, dass er schon über 30 Jahre alt war. Jeden Tag lief er zwei Stunden auf dem Sportplatz, meist allein, schoss ein paar Bälle auf das leere Tor und lief weiter, immer weiter.

«Soll ich dir ein paar auf dein Tor schießen?», fragte der Indianer, als ich den gröbsten Schnee im Strafraum entfernt hatte. Ich warf die Schaufel in einen der riesigen weißen Berge und lief ins Tor. Zwei Verrückte im Schnee. Der eine schießt, der andere hält. Und beide können nichts anderes, wollen nichts anderes.

Eine Stunde später kam mein Vater direkt von der Arbeit zum Sportplatz und löste Bill den Indianer ab. Geduldig kickte nun er einen Ball nach dem anderen auf mich zu, und ich flog. Mal nach rechts, mal nach links. Er hätte mich kaum glücklicher machen können. Manchmal schaute er mich abends einfach nur kopfschüttelnd an, wenn ich am Wohnzimmerfenster stand und finster darauf wartete, dass es endlich zu regnen anfing. Ich mochte die Nässe, denn sie schwemmte den Schnee davon. Doch im Videotext stand: «Bayerischer Wald: in Höhenlagen weiter Schneefall.» 50 Zentimeter hoch lag dieser alles verlangsamende, weiße Mantel oft über der Stadt. Ich hasste es.

Trotzdem verging kein Tag ohne Fußball. Wirklich kein Tag. Auf ihn zu verzichten kam Schmerz gleich. Als ich meine Erstkommunion feierte, fragte mich der Bischof nach meinem Berufswunsch. Es gebe für mich nur die Möglichkeit, Fußballprofi zu werden, antwortete ich. Wenn ich krank war, versteckte ich das mit schauspielerischen Glanzleistungen. Als ich acht Jahre alt war, musste ich mich eine ganze Nacht lang wegen eines Magen-Darm-Virus übergeben. Am nächsten Tag war Rosenmontag. Fußball spielten wir dennoch, in der Halle, verkleidet mit Faschingskostümen. Kreidebleich stand da ein kleiner Junge mit einer Hexenmaske im Tor, der sich irgendwann umdrehte, sich hektisch die Maske vom Kopf riss und hinter das Tor kotzte. «Willst du nicht lieber aufhören?», fragte mein Vater, der damals meine Mannschaft trainierte. «Auf keinen Fall», antwortete ich und spielte durch. Als die anderen duschten, kehrte ich mit einem Eimer und Papier zurück und machte sauber.

Wenn mein Vater keine Zeit hatte oder kein Training war, sprang ich beim Spiel gegen die Jungs der Nachbarsiedlung auf der Straße herum, bis Arme und Beine mit Schürfwunden und blauen Flecken übersät waren. Mein Gemütszustand hing allein davon ab, wie viele Bälle ich an der Überquerung der Torlinie hindern konnte. Bei Flanken im Training warf ich mich manchmal so heftig zwischen Abwehr und Sturm, dass meine Freunde regelmäßig mit blutigen Nasen nach Hause gingen. So hat es Ratko Svilar früher bestimmt auch gemacht, dachte ich. «Der kleine Pfannenstiel, das ist ein Verrückter», sagten die Leute damals schon. Ich fand, das war ein Kompliment. Wahrscheinlich müssen Torhüter so sein.

Der Platzwart sah in den Wintermonaten oft, wie ich seinen Platz betrat, obwohl er das mit seinem Schild doch für alle sichtbar verboten hatte. Er hielt mich nie davon ab, genauso wenig wie mein Vater. Wie hätte er auch? In den sechziger Jahren war er der beste Torwart gewesen, den der Ort mit seinen 12 000 Einwohnern hervorgebracht hatte. In der bayerischen Jugendauswahl war er die Nummer zwei hinter einem gewissen Sepp Maier. Den einen machte das Leben zu einem guten Architekten, den anderen zum besten Torwart der Welt. Schon in der Bayernauswahl hatte meistens der Maier gespielt und der Pfannenstiel genervt auf der Bank gesessen. Mein Vater erklärte das gern mit der Lobby des FC Bayern, er witterte eine Verschwörung. Vielleicht, könnte man anmerken, war der spätere Torhüter der deutschen Weltmeister von 1974 auch einfach ein bisschen talentierter als er, wer weiß das schon. Mit diesem Argument darf man einem Pfannenstiel jedenfalls nicht kommen. Auf dem Platz war mein Vater, der als Architekt später wegen seiner Besonnenheit geschätzt wurde, ein Verrückter – einer, vor dem auch die eigenen Abwehrspieler Angst hatten.

Die älteren Leute erkannten schon bei meinem ersten offiziellen Liga-Spiel als Torwart im Nachbarort Bodenmais, dass ich genauso tickte wie mein Vater. Ich bekam damals, gerade sieben Jahre alt, kurz vor Schluss ein Gegentor. Ich hatte keine Chance gehabt, den Ball abzuwehren, aber es schmerzte, so wie es noch Hunderte Male in meinem Leben schmerzen sollte, die Gegenspieler jubeln zu sehen, den Ball aus dem Netz zu holen, während meine Mitspieler mit hängenden Schultern zum Mittelkreis schlichen. «Ihr blinden Idioten», rief ich heulend meiner Abwehr zu, «hört doch auf, Fußball zu spielen.» Nach dem Spiel lief ich auf ein nahe gelegenes Feld, wo mich keiner sehen konnte. Eine halbe Stunde lang weinte ich, bevor ich mich auf den Nachhauseweg machte.

Der Tag, an dem der Vater meines Jugendfreundes Tobias Probst ein Holztor in seinem Garten zimmerte, gehört zu den schönsten in meinem Leben. Nachdem wir lange genug auf dem matschigen Rasen herumgerutscht waren, lehnten Tobias und ich an den Pfosten, beide mit einer Limonade in der Hand, und ließen unsere Weltklasse-Aktionen Revue passieren. In der Nacht hatte Eurosport ein paar Bilder aus der brasilianischen Liga gezeigt und für ein paar Stunden meine Gedanken an Ratko Svilar verdrängt. «Tobi», sagte ich, «lass uns einen Schwur machen.» Tobi schaute auf und rückte näher. «Eines Tages», fuhr ich feierlich fort, «spielen wir beide in der ersten brasilianischen Liga bei Flamengo de Janeiro und werden steinreich.» Mein Freund fand den Plan gut, und im Alter von acht Jahren gibt es keine unerreichbaren Ziele. Wir hatten beide keine Zweifel. Feierlich hoben wir Zeige- und Mittelfinger: «Ich schwöre.» Das mit dem steinreich hat nicht ganz geklappt. Aber den Part mit Brasilien löste ich über 20 Jahre später ein.

Je besser ich wurde, desto mehr konzentrierte ich mich auf den Sport. Stundenlang stand ich im örtlichen Sportgeschäft und probierte Torwarthandschuhe an. Der Besitzer, Werner Kuhndörfer, verdrehte die Augen, wenn er mich nur in der Nähe seines Ladens sah. Als meine Mitspieler während der WM 1990 in Italien Lothar Matthäus oder Andreas Brehme wie Halbgötter verehrten, sprach ich nur davon, wie Thomas N’Kono Kamerun mit seinen Paraden ins Viertelfinale brachte. Oder wie unfassbar die Reaktionen von Costa Ricas schnauzbärtigem Torwart Conejo auf der Linie waren. Sie waren meine Stars, und ich studierte auf Video jede ihrer Bewegungen. So, wie ich alles studierte, was mich meinem Traum näherbringen konnte. In einem Sportmagazin las ich, dass es ungesund sei, bei über 40 Grad zu baden. Fortan verzichtete ich am Freitag vor dem Spiel ganz auf das Baden. Das fiel gar nicht mal unangenehm auf, weil ich am Tag vor dem Spiel ohnehin nicht wegging, um am nächsten Tag auch wirklich ausgeruht zu sein. Du musst nur alles richtig machen, sagte ich mir, dann wirst du ein echter Profi. Wie Ratko.

Nur meine Körpergröße wollte nicht so recht mitspielen. Als ich 13 Jahre alt war, galt ich technisch als der beste Torwart meines Alters in Bayern. Doch ich war nur 1,60 Meter groß und spielte für den kleinen SC Zwiesel. Ein Provinzclub, zu dem sich die Talentspäher des bayerischen Fußballverbands eher selten verirrten. Der Torhüter des FC Bayern dagegen konnte zwar kaum einen Ball fangen, war aber schon 1,80 Meter groß und wurde nominiert. Während er bei den Spielen der Auswahl an einem Ball nach dem anderen vorbeigriff, kickte ich frustriert einen alten Lederball gegen ein unschuldiges Garagentor in Zwiesel. Ich fühlte mich, als habe man alle Ungerechtigkeit dieser Welt auf meine schmalen Schultern geladen.

Ich weiß nicht, ob man schneller wächst, wenn man sich jeden Tag misst. Aber einen Test war es wert. Also stellte ich mich mit einem Maßband jeden Tag an den Türbalken zur Küche und notierte den Wert fein säuberlich in einem Heft, auf den Millimeter genau. Jede Woche, Strich für Strich. Ich will das nicht als ursächlich bezeichnen, aber in den folgenden zwei Jahren wuchs ich um fast 20 Zentimeter. Damit war die letzte Hürde genommen: Als der Anruf des Trainers der Bayernauswahl kam und ich nach einigen Spielen auch in den Kader der Jugendnationalmannschaft berufen wurde, war ich mir endgültig sicher, auf dem Weg zum Weltklassetorwart zu sein. Ob in Brasilien oder der Bundesliga, war mir egal.

Es war, als führe ein enger, steiler Tunnel immer geradeaus in Richtung Paradies. Für Blicke nach links oder rechts ließ er keinen Raum, und ich musste mich auf den Anstieg konzentrieren. Alle wussten, dass ich so denke. Inzwischen hatte ich meine erste feste Freundin, Karin. Sie war bildhübsch und witzig und öffnete mir die Augen immerhin einen Spaltbreit für die Dinge jenseits des Fußballs. Wir verbrachten eine wunderschöne Zeit miteinander. Und doch war ihr schnell klar, dass der Fußball bei mir in den kommenden 20 Jahren die Hauptrolle spielen würde.

Nach einem Spiel bei der Jugendmannschaft von 1860 München, den Löwen, fing mich der gegnerische Trainer ab. «Lutz, du bist ein Guter», sagte er, «komm zu uns ins Internat. Bessere Entwicklungschancen kriegst du nirgendwo sonst.» Mich hatte er in Sekunden überredet, die schwierigere Aufgabe war, meine Mutter zu überzeugen. Sie war eine Weltklassemutter, aber eine vorsichtige. Ihr ganzes Leben hatte sie in Zwiesel verbracht. Ein glückliches Leben, aber auch immer voller Sorge vor Neuem, Ungewissem. Ich hätte sie nie überzeugen können, mich im Alter von 16 Jahren nach München ziehen zu lassen.

Also ging ich zu meinem Vater. Während sein einstiger Rivale Sepp Maier zu einem der ersten bayerischen Fußballmillionäre geworden war, hatte er über den zweiten Bildungsweg Architektur studiert. Trotzdem: Im Herzen war er einer von denen geblieben, die sich auf dem Fußballplatz so zu Hause, so lebendig fühlen wie an keinem anderen Ort. Er hätte alles dafür getan, um mir bei der Erfüllung meines Traumes zu helfen. Und er wusste, was in mir vorging. 20 Jahre zuvor hatten ihn die gleichen Gefühle gequält.

Nachdem ich ihn tagelang bedrängt hatte, stand unser Plan fest. «Wir schauen bei den Löwen vorbei. Die spielen heute Nachmittag», sagten wir zu meiner Mutter, als wir an einem Sonntagvormittag zur Haustür hinausgingen und uns auf den Weg Richtung München machten – zum Gespräch mit dem Jugendkoordinator von 1860. «Schon recht», rief sie uns hinterher. Unser Plan stand auf wackeligen Füßen, schließlich spielten die Löwen, wie der Verein genannt wird, an diesem Tag gar nicht. Doch auch wenn meine Mutter mit den beiden wohl fußballverrücktesten Männern des Ortes unter einem Dach lebte, interessierte sie sich für diesen Sport kaum. Sie hatte von Spielplänen keine Ahnung. Wenn erst alles unterschrieben ist, dachten wir, würde sie uns schon machen lassen.

Es war bereits dunkel, als wir wieder zur Tür hereinkamen. In der Luft lag dieser herzhafte Geruch, der mich auch heute noch schlagartig zu Hause fühlen lässt, egal, aus welchem Teil der Erde ich gerade anreise. Mutter hatte Gulasch gemacht, mit Nudeln und einer Soße, die nur sie beherrscht. «Wie ist das Spiel ausgegangen?», rief sie von der Küche herüber. Als wir schwiegen, kam sie uns lächelnd entgegen. «Was ist denn los?» Wir drucksten ein wenig herum, bevor wir beichteten. Der Vertrag sei unterschrieben, ich würde in einigen Wochen nach München ziehen.

Es folgte eine zweistündige Predigt, nein, eher ein Orkan. Danach wusste ich: Ohne Abitur in der Tasche würde sie mich nicht aus dem Haus lassen. Ein Anruf in München, und der Traum vom Leben im Fußball-Internat war beendet. Letztlich unterschrieb ich beim FC Vilshofen, einem Verein, der ebenfalls in der höchsten Jugendklasse spielte. Damit erfüllte ich die Forderungen des Verbandes und meiner Mutter, denn ich konnte zu Hause wohnen bleiben. Die Rechnung für den misslungenen Plan zahlte mein Vater. Der fuhr mich jetzt fünfmal pro Woche 70 Kilometer zum Training und wieder zurück. Er lächelte den ganzen Tag, als ich dank einer Ausnahmegenehmigung schon im Alter von 17 Jahren den Führerschein bekam.

Auf der Fachoberschule hatte ich mit dem knallroten BMW, den ich mir schon zwei Wochen vor der Fahrprüfung gekauft hatte, endgültig die Grenze zum Größenwahn überschritten. Wie selbstverständlich parkte ich auf dem Lehrerparkplatz. An einem kalten Dezembertag blaffte mich mein Physiklehrer Wiesinger an, als ich zur Klassentür hereinkam: «Sehen Sie das Schild? Nur für Lehrkräfte!» Er zählte zu jenen Menschen, die alles, was mit Fußball zu tun hatte, abgrundtief hassten, und begegnete auch mir nicht gerade mit überhöhter Achtung, vermutlich wegen der Dutzende Fehltage, die ich schnell angesammelt hatte. Ich nickte lächelnd, während die Blicke meiner Mitschüler auf mich gerichtet waren. «Sind Sie eine Lehrkraft?», rief er. Ich schüttelte den Kopf. Der Lehrer nickte triumphierend, er genoss seine Macht. «Dann gehen Sie raus und schauen Sie das Schild so lange an, bis ich das Gefühl habe, dass auch Sie das kapiert haben.»

Ich jubelte innerlich und schob lächelnd meinen Stuhl zurück. Große Auftritte wie diesen habe ich schon damals geliebt. Ich ging durch den Schnee, stellte mich vor das Schild, zog mir den Pullover aus und starrte mit nacktem Oberkörper das Schild an. «Was machen Sie denn da?», rief Wiesinger vom Fenster aus herüber. «Ich werde gerade krank», schrie ich zurück, während ich mir noch eine Handvoll Schnee auf den Kopf legte, «und ich freue mich auf das Gespräch mit Ihnen und dem Rektor.» Erschrocken rief er mich zurück in die Klasse, wo meine Mitschüler sich vor Lachen kaum halten konnten. Von da an ließ er mich meistens in Ruhe.

Irgendwie habe ich das Fachabitur dann doch bekommen und konnte das Fußballerleben endlich so genießen, wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Mit dem 1. FC Bad Kötzting verpflichtete mich 1991 ein erfolgreicher Viertligist, der so gut zahlte, dass ich davon leben konnte. Ein paar Kilometer weiter hatte in der Tschechoslowakei gerade die sogenannte «samtene Revolution» stattgefunden, der Eiserne Vorhang war unblutig gefallen. Unser Nachbar hieß nun Tschechien und sorgte in der Region für Globalisierung, lange bevor viele Glasbläsereien vor der Konkurrenz chinesischer Billigimporte kapitulieren mussten. Wir hatten plötzlich sechs Tschechen in der Mannschaft, sie hatten alle Profi-Niveau. Vor einem Jahr hatten sie noch in der ersten tschechischen Liga bei Škoda Pilsen für ein Gehalt von umgerechnet rund 100 Euro gespielt. Nun spielten sie in der vierten deutschen Liga und verdienten ein Vielfaches.

Die Sonne brannte, als ich an einem Julinachmittag das erste Mal den Trainingsplatz betrat. Mir war mulmig zumute, die bisherige Nummer eins, Václav Lavicka, war demonstrativ schon ein paar Minuten vor mir auf das Feld gegangen. Früher war er einmal zweiter Torwart in der tschechoslowakischen Nationalmannschaft gewesen. Als ich in Richtung des 1,95 Meter großen Hünen ging, verbarg ich meine panische Angst hinter einem Gesicht, das jede Pokerrunde beeindruckt hätte.

Berühmte Torwartduelle hatten mich immer fasziniert. Hans Tilkowski verwüstete sein Hotelzimmer, als er nach dem Abschlusstraining vor dem ersten WM-Spiel 1962 erfuhr, dass sein Konkurrent Wolfgang Farian das Tor für Deutschland hüten würde. Gespannt hatte ich auch die Pöbeleien von Uli Stein bei der WM 1986 verfolgt, der Toni Schumacher nicht den Vortritt lassen wollte und schließlich nach Hause fliegen musste. Und selbst den chronisch lustigen Sepp Maier beschäftigte der Kampf vor der WM 1972 gegen Gladbachs Wolfgang Kleff so sehr, dass er eines Tages vor Journalisten scherzte: «Meinen Hund habe ich weggegeben. Weil der immer ‹Kleff, Kleff› gemacht hat.» Nun steckte ich plötzlich selbst in einem solchen Duell.

Auch wenn ich damals nur in der vierten Liga spielte – ich kämpfte mit den gleichen Gefühlen wie meine berühmten Vorbilder. Dort stand also Václav Lavicka mit seinem breiten Kreuz und würdigte mich keines Blickes. Die Konkurrenz zwischen Torhütern hat etwas Absolutes – wer den Kampf in der Saisonvorbereitung um den Stammplatz verliert, hat kaum eine Chance auf einen Einsatz in der Saison. Ein Innenverteidiger kann vielleicht auch auf der Außenbahn eingesetzt werden, dem Torwart bleibt nur die Bank und vielleicht die geheime Hoffnung auf eine Verletzung oder Schwäche des anderen.

Technisch war Lavicka gleichwertig, aber er war schon 35 Jahre alt. Der Tscheche hatte Erfahrung und wusste, dass er sein Training dosieren musste. Doch so logisch funktioniert die Psychologie unter Torhütern nicht. «Komm schon, alter Mann», rief ich ihm nach zwei Stunden in der Sommerhitze zu, «noch 50 Schüsse.» Schweigend schossen wir uns abwechselnd Ball für Ball zu. Immer wieder zum Ball hechten, sich auf dem staubigen Rasen abrollen und wieder hochhetzen. Die anderen Spieler hatten das Feld längst verlassen, doch keiner von uns wollte Schwäche vor dem anderen zeigen. Wir sprachen kaum ein Wort miteinander, nicht beim Essen und nicht in der Umkleide. Eigentlich war er ein ganz netter Kerl – wäre da nicht dieser Gedanke in meinem Kopf gewesen: «Wenn ich den Alten nicht packe, packe ich es nirgendwo.» Irgendwann fiel Lavicka in ein Formtief. Er hatte einfach zu viel trainiert, und so war ich es, der beim ersten Saisonspiel im Tor stand.

Die Tage glichen einander, was durchaus angenehm war. Wenn ich morgens um zehn Uhr aufstand, hatte meine Mutter mir bereits das Frühstück zubereitet – auf dem Tisch lag die Zeitung, der Sportteil aufgeschlagen. Eine Angewohnheit, die sie zum Glück auch heute noch beibehalten hat. Mittags fuhr ich die 40 Kilometer nach Kötzting und präsentierte mich erst einmal im Freibad. Keine Ahnung, ob Oliver Kahn jemals vor irgendwelchen Mädchen Saltos geschlagen hat – ich habe es jeden Tag gemacht. Am Nachmittag eine Trainingseinheit, und mein Arbeitstag war erledigt. Die Fachhochschule in Deggendorf, an der ich BWL studieren wollte, öffnete erst ein Jahr später. Ich lebte mit ruhigem Gewissen.

Doch an dem Tag, als die Universität schließlich ihre Tore öffnete, war mir rasch klar, dass ich nicht für den Hochschulbetrieb geschaffen war. Im Foyer drängelten sich die 40 Gründungsstudenten – viele waren sehr nett, es gab allerdings auch ein paar 19-Jährige mit gebügelten Hemden und Seitenscheitel, die von Karrieren in Unternehmensberatungen träumten, sich aber zu Hause die Socken von Mama bügeln ließen. Einen Tisch weiter waren drei Studenten schon von zu Hause ausgezogen. «Muss ich für eine Putzfrau mehr als acht Mark pro Stunde einplanen?», fragte der eine lässig in die Runde. «Für eine aus Tschechien nicht», antwortete ein anderer voller Arroganz. Vielleicht lag es am Ambiente, dass sich die vermeintliche Elite von morgen schon jetzt als die Top-Elite von heute aufführte. Die Fachhochschule war in der Schauffler-Villa untergebracht, einer ehemaligen Privatklinik.

Gelangweilt lehnte ich mich in der Eröffnungsvorlesung zurück, es fühlte sich ein wenig an wie auf der Ersatzbank beim Fußballspiel. Nein, viel schlimmer. Auf der Auswechselbank kann man aufspringen, wenn etwas Aufregendes passiert. In der Vorlesung kann man nicht aufspringen, und es passiert auch nichts Aufregendes. Immer weiter rutschte ich mit verschränkten Armen Richtung Stuhlkante, wie ein beleidigter Nationalspieler, der auf der Bank einfach nichts verloren hat, während vorne ein langweiliger Mann im hässlich orangefarbenen Karo-Hemd darüber redete, wie weit es die Anwesenden bereits gebracht hätten. «Jeder Einzelne, meine Damen und Herren», dozierte er mit seiner viel zu hohen Stimme, «entscheidet über die Zukunft dieses Landes.» Amen.

Frustriert blickte ich an die Decke. Neonleuchten. Dann nach links: Eine hübsche blonde Studentin hielt jedes Wort mit ihrem fest. Als ich schließlich nach rechts blickte, sah ich drei Plätze weiter den Einzigen im Saal, der genauso weit heruntergerutscht war wie ich – die Augenlider schwer, die Arme über dem ausgefransten T-Shirt verschränkt. Durchtrainiert war er und beinahe zehn Jahre älter als die anderen im Raum. Irgendwie kam er mir bekannt vor, und die nächsten zehn Minuten dachte ich ausschließlich darüber nach, woher ich ihn kannte. Es war Hans Wurzer, der zu den großen Fußballtalenten im Bayerischen Wald gehört hatte, bevor er sich einen Kreuzbandriss zuzog. Heute resultiert daraus selten mehr als ein halbes Jahr Pause, aber in den achtziger Jahren wurden Fußballer beim Klang des Wortes noch kreidebleich. Ein Kreuzbandriss bedeutete oft das Karriere-Ende. Zumindest war es das Ende für Hans’ Profiambitionen – fortan spielte er nur noch in den unteren Ligen.

«Du bist doch der Wurzer-Hans», sprach ich ihn an, nachdem der Professor endlich geendet und wir uns aus unseren Stühlen hochgequält hatten. «Ja», sagte er, «und du der Pfannenstiel, oder?» Er hatte beim Bundesgrenzschutz angeheuert und war gerade erst nach zwei Jahren aus dem Libanon zurückgekehrt – den Überblick über die bayerische Fußballszene hatte er aber auch während seiner Zeit im Ausland nie verloren. «Bist auf dem Sprung in die Bundesliga, hab ich gehört», fuhr er fort. «Schau’n mer mal», antwortete ich in bester Beckenbauer-Manier. Dass wir nicht die klassischen BWL-Studenten werden würden, war uns sofort klar. Dass ich mein Studium erst zehn Jahre später beenden würde – von Neuseeland aus –, ahnte ich damals nicht.

Schnell kristallisierte sich eine Gruppe von zehn Studenten heraus, die bei den Frauen mehr Erfolg hatte als bei Klausuren. Dabei führten wir uns in der Fachhochschule auf wie Diego Maradona in der argentinischen Nationalmannschaft – als gehöre uns der Laden. Ich kann nicht behaupten, dass ich mich dabei zurückgehalten hätte. Es macht natürlich einen Unterschied, ob einem am Wochenende 60 000 Zuschauer in der Bundesliga oder Bleistift wie mir nur 1000 in der vierten Liga zujubeln – aber man fühlt sich trotzdem wie ein Star. Wie einer, der nicht versteht, warum er trotzdem in die Informatik-Vorlesung muss.

Als ich am ersten Tag der Veranstaltung den Saal betrat, war mir klar, dass ich einen neuen Lieblingsfeind gefunden hatte. Professor Rummler war klein, humor- und frisurlos und schielte ganz schrecklich. Es sollte eine Zeitlang dauern, bis ich ihn mochte. Zunächst einmal fiel mir nur auf, dass er gern und laut schrie: «Alles Idioten. Was wollt ihr hier?», echauffierte er sich oft. «Wenn das die Elite sein soll, dann gute Nacht, Deutschland.» Ich war, wie meist in den folgenden Monaten, eine Viertelstunde zu spät gekommen. Der Dozent musterte mich abfällig, sein Blick blieb schließlich an meinen Haaren hängen. Schon damals hatte ich sie hinten zum Pferdeschwanz gebunden, dazu mit reichlich Gel nachgeholfen – die Frisur gefällt nicht jedem, aber sie ist zu meinem Markenzeichen geworden.

«Den Prozess würden Sie gewinnen», sagte er in meine Richtung. Ich blickte auf, während ich mich auf den nächstbesten Platz setzte. «Welchen?», fragte ich ihn. «Na, den gegen Ihren Friseur», stänkerte der Mann. Das ließ ich nicht auf mir sitzen. «Du würdest deinen auch gewinnen», erwiderte ich, den Dozenten wie selbstverständlich duzend, «den gegen deinen Augenarzt.» Als devotester Student in der Geschichte Deggendorfs bin ich vermutlich nicht in Erinnerung geblieben. Aber das war unsere Art zu kommunizieren, und irgendwie schafften wir es nach ein paar Monaten sogar, eine gewisse Sympathie füreinander aufzubringen, am Ende verband uns eine Art Hassliebe.

Ich war Student und Torwart in der vierten Liga, in Gedanken spielte ich aber längst in der Bundesliga. Ich hielt konstant gut, und nach ein paar Monaten ratterte ein Schreiben des VfL Bochum durch das uralte Fax-Gerät des 1. FC Kötzting. «Aufgrund seiner Leistungen in der aktuellen Saison möchten wir Ihren Spieler gern zum Probetraining einladen.» Anfang der neunziger Jahre hatte der Verein seinen Ruf als unabsteigbare Mannschaft verspielt, war aber gerade wieder in die erste Liga aufgestiegen. Ich witterte meine große Chance. Die Informatik-Vorlesung am kommenden Tag fand diesmal ohne den Studenten mit Pferdeschwanz in der letzten Reihe statt.

Dabei hätte ich mir diese Woche in Bochum eigentlich sparen können. Zweimal täglich schuftete ich mit den beiden Torhütern Ralf Zumdick und Andreas Wessels – nur um am Ende zu erfahren, dass der Verein lediglich einen Mann für die Amateurmannschaft suchte. «Nein, das kommt für mich nicht in Frage», sagte ich. Mit der gleichen Perspektive hatte mich bereits der 1. FC Nürnberg verpflichten wollen. «Entweder ihr macht mich zum Profi, oder ich komme nicht.» Trainer Jürgen Gelsdorf stand wortlos auf, gab mir kurz die Hand und ging zur Tür hinaus. Ralf Zumdick begleitete mich noch zur Tür. «Du findest schon deinen Weg», sagte er zum Abschied.

Vor der Tür lehnte ein Mann mit einem Designeranzug. Ich kannte ihn nicht. «Und?», fragte er, als würden wir uns schon Jahre kennen, «haste unterschrieben?» Jetzt fiel mir ein, dass ich ihn bei der Trainingseinheit gesehen hatte, er stand neben ein paar Rentnern am Spielfeldrand. «Nein», nuschelte ich, «die wollten mich nur als Amateur.» Der Mann bewegte seinen schmächtigen Körper einen Schritt auf mich zu. «Wenn du wirklich Profi werden willst», sagte er so eindringlich wie ein Vater, der den Sohn bei der Berufswahl berät, «dann geh nach Malaysia. Ich habe dich gesehen, du bist gut. Ruf mich an, und du lebst in zwei Wochen in einem Traumhaus am Meer mit 5000 Dollar jeden Monat in der Tasche.» Er streckte mir eine Visitenkarte entgegen. «Agentur für Fußballmanagement» stand dort, darunter kurz und knapp: «Berater». Es war mein erster Kontakt mit einem professionellen Spielervermittler. «Danke», murmelte ich und stieg in meinen BMW. Auf der Rückfahrt bekam ich den Gedanken nicht mehr aus dem Kopf. In zwei Wochen könnte ich Profi sein 

Ein paar Tage später wählte ich die Nummer. «Ich wusste, dass du anrufst», gab sich der Spieleragent vertraut, «ich habe bereits zwei Vereine, die dich sehen wollen.» «Geben Sie mir etwas Zeit», antwortete ich und legte auf. Nachts lag ich wach. Über die Amateurmannschaft eines Bundesligisten in den bezahlten Fußball zu kommen galt als der normale Weg für Talente. Sollte ich wirklich den geraden Weg verlassen für ein Abenteuer? Ich starrte minutenlang an die Decke. Aber war nicht Ratko Svilar auch eines Tages einfach von Serbien aus aufgebrochen? Und: warum eigentlich nicht?

Am nächsten Nachmittag hatte ich mein Auto kaum auf dem Vereinsgelände von Kötzting abgestellt, als mir Michael Plötz aus der Geschäftsstelle entgegengelaufen kam. Er war der sportliche Leiter des Vereins, in der Hand hielt er ein weiteres Fax. Absender: FC Bayern München e. V. Der Rekordmeister hatte tatsächlich seine Späher in die Provinz geschickt, und ich musste einen guten Tag erwischt haben. Noch eine Woche Probetraining. Malaysia musste warten.

Das prasselnde Geräusch, das Hunderte Stollen unter Fußballschuhen erzeugen, klingt beim FC Bayern anders als in anderen Kabinen. Irgendwie klarer, hallender. Vielleicht liegt es an den edlen Fliesen, vielleicht aber auch daran, dass hier weniger gesprochen wird als bei anderen Vereinen. Jeder der Profis war für sich gesehen ein mittelständisches Unternehmen mit Millionenumsatz, dementsprechend nüchtern erschien mir die Atmosphäre. Ich ging an dem legendären Einwurfschacht vorbei: Nach dem Training werfen die Spieler hier ihre pottdreckigen Schuhe rein, selber geputzt hatte hier seit Vertragsunterzeichnung niemand. Sie standen einfach am nächsten Morgen wieder glänzend am festen Kabinenplatz, zusammen mit der frischgewaschenen Trainingskleidung. Dieser Schacht hatte zum leicht großkotzigen Image des Vereins ein klein wenig beigetragen, er war ein weiteres Mosaiksteinchen in diesem Bild. Doch ich lächelte insgeheim, als ich ihn sah. Für mich war er der Inbegriff des Profitums.

Spieler wie Lothar Matthäus hatten ihren festen Sitzplatz in der Kabine. Es ist keine gute Idee, auch nur ein Handtuch in die Nähe von solchen Alphatieren zu legen. Die Zeitungen spekulieren viel über Hierarchien in Mannschaften, doch sie haben keine Ahnung. In der Umkleide – eine der letzten No-go-Areas, eine Tabuzone für Journalisten – zeigt sie sich. Bodo Illgner hatte beim 1. FC Köln unter einer Dusche ein Messingschild mit seinem Namen montiert. Solange der muskelbepackte Nationaltorhüter nicht geduscht hatte, war sie für seine Mitspieler tabu. Man tut gut daran, sich in der Kabine eines fremden Vereins erst einmal vorsichtig zu verhalten.

Meine Trainingskleidung war neben der eines grimmig dreinblickenden Spielers aufgehängt worden, der gerade vom Karlsruher SC nach München gekommen war. Oliver Kahn gab mir die Hand. «Du bist der Testmann, oder?», fragte er. «Ja», sagte ich, «mal sehen, was geht.» Kahn nickte kurz und band sich dann weiter seine Schuhe zu. Zwei Stunden trainierte ich mit ihm und Torwart-Trainer Sepp Maier und kämpfte, als hätte ich nur diese eine Chance. Und doch hatte ich Probleme, mit der Intensität Kahns mitzuhalten. Bis zu diesem Tag hielt ich mich für verbissen. Aber wenn dieses Wort noch nicht erfunden gewesen wäre, hätte es für jenen Typ erfunden werden müssen, der da neben mir seine Übungen machte. Kahn konzentrierte sich auf jeden Ball, als ginge es um die Meisterschaft. In der Mittagspause aß ich die Nudeln pur, weil ich das für gesünder hielt. Am Abend ging ich um neun Uhr ins Bett. Ich wollte alles richtig machen.

Am Ende des Probetrainings empfing mich der Leiter von Bayerns Amateurabteilung in einem kargen Besprechungsraum. Ein paar Stühle, ein Tisch, Blick auf den Parkplatz. Ich hatte meinen Anwalt Wolfram Zimmermann dazubestellt, schon allein, um professioneller zu wirken. Von Fußball hatte er mäßig Ahnung, aber das gehörte damals ohnehin nicht zu den prägenden Eigenschaften der sich entwickelnden Berufsgruppe von Spielerberatern. «Für die Profis kommst du momentan noch nicht in Frage», sagte der Manager und traf mich mit diesen Worten wie mit der Faust ins Gesicht. «Du spielst und trainierst bei den Amateuren, ab und zu kannst du bei den Profis mittrainieren.» Er sprach, als sei der Vertrag vor ihm längst unterschrieben, und damit hatte er natürlich recht: Ein Angebot der Bayern lehnt man nicht ab, auch nicht für die Amateure. Ein besseres Sprungbrett in den Profifußball gibt es nicht in Deutschland.

In meine Gehirnwindungen schaffte es aber nur die eine Botschaft: Für die Profis bist du nicht gut genug. «Ihr wollt mich also nicht für die Profis?», fragte ich. Der Manager schaute erstaunt auf. «Junge, du bist jung. Und wir haben mit Sven Scheuer einen guten Ersatzmann für Oliver Kahn. Aber deine Zeit kommt, vertrau mir.» In meinem Kopf hörte ich nur die Stimme des Fremden aus Bochum: «Innerhalb von zwei Wochen bist du Profi in Malaysia», klang es wie ein Echo, «… nur zwei Wochen … Haus am Meer.» Manager und Anwalt blickten mich fragend an – ich war so in meine Gedanken vertieft, dass ich nicht geantwortet hatte. «Nein, es tut mir leid», sagte ich schließlich und registrierte aus den Augenwinkeln, wie mein Anwalt zusammenzuckte, «das kommt für mich nicht in Frage. Ich habe ein Profiangebot vorliegen.» Ich stand auf und verabschiedete mich. «Nein, nein, setz dich, Lutz», sagte mein Anwalt. Lautstark redete er auf mich ein. Erfolglos. «Sag doch auch mal was», bat er meinen guten Freund Werner Neissendorfer, der uns begleitet hatte. «Kennst ihn doch», sagte er, «wenn er nicht will, dann will er nicht.» Als wir in das Auto einstiegen, fluchte der Anwalt noch immer.

Zurück in Zwiesel, rief ich Hans an. Er hatte in den vergangenen acht Monaten oft davon geredet, zusammen mit mir in den Libanon zu gehen. Dort gebe es auch guten Fußball, er könne dann als mein Torwart-Trainer arbeiten. «Steht dein Angebot noch?», fragte ich ihn. «Welches Angebot?» «Na, du wolltest doch mit mir ins Ausland», sagte ich. «Würdest du auch mit nach Malaysia kommen?» Hans schwieg am anderen Ende der Leitung. Ihm war die Enge des Bayerischen Waldes nach zwei Jahren längst zur Last geworden. In ein paar Sätzen erklärte ich ihm die Situation, da unterbrach er mich: «Na, dann mal los.» Er war so ziemlich der einzige Mensch in Bayern, der mich in den kommenden Wochen nicht für komplett verrückt hielt.

Die wenigen Wochen bis zur Abreise vergingen wie Sekunden. Wenn wir nicht gerade trainierten oder eine unserer zahlreichen Abschiedspartys feierten, telefonierte Hans fast ununterbrochen mit drei malaysischen Vereinen, die dem Bochumer Spielerberater blind zu vertrauen schienen und die Kosten für den Flug auslegten. Man werde sich «auf jeden Fall» einig, versprach jeder einzelne Verein, rund 5000 Dollar pro Monat wollten sie zahlen. Ihr Mann in Deutschland hatte mich etwas vollmundig als Top-Talent von Bayern München gepriesen, erfuhr ich später. Während ich mich zum ersten Mal in meinem Leben um Visum-Angelegenheiten kümmern musste – eine Disziplin, in der ich inzwischen Weltklasseformat habe –, zerrissen sich die Menschen in meiner Heimat das Maul. Warum? Immer wieder fragten sie mich: Warum ausgerechnet nach Malaysia? Ich lachte meine Kritiker aus, auch wenn mir der Abschied schwerfiel. «Der Pfannenstiel ist ein Verrückter», sagten die Leute. Ich fand erneut, wie damals als Achtjähriger, dass das gar keine so große Beleidigung war. Die meisten, die das behaupteten, waren niemals Fußballprofi geworden und würden es auch nicht mehr werden. Ich dagegen würde mir diesen Traum in nicht einmal einer Woche erfüllt haben. Profi. Wie Ratko.