DAVID WAGNER

WELCHE FARBE HAT BERLIN


Impressum und Copyright

Verbrecher Verlag Berlin 2013

www.verbrecherverlag.de


© Verbrecher Verlag 2011

Einbandentwurf: Sarah Lamparter

Lektorat: Doris Formanek

Satz und Ebook-Umsetzung: Christian Walter

ISBN Print 978-3-940426-96-3

eISBN EPUB: 9783943167528

eISBN Mobipocket: 9783943167535


Der Verlag dankt Laura Basten.

Bernauer Straße

Bald wird das erste neue Haus auf dem Mauerstreifen der Bernauer Straße stehen, die heute noch wie eine Schneise zwischen Mitte und Wedding liegt, überbreit, als hätte da eine Landebahn angelegt werden sollen. Links befindet sich noch die Brache, die durch den Abriß der Blockrandbebauung entstanden ist, die früher Todesstreifen und verbotene Zone war und heute Halbwildnis und Hundeauslauffläche ist, rechts, auf der anderen Seite der Straße, früher war da Westen, stehen die Neu- und Altneubauten des Weddings.

Der Posten- oder Kolonnenweg, der einst zwischen Hinterlandmauer und Sperranlagen parallel zur Bernauer verlief, ist zu einem Spazierweg durch die Brache geworden. Grenztruppen patrouillieren dort nicht mehr. Der Weg führt durch Gestrüpp, an weggeworfenen Plastiktüten, umgestürzten Plakattafeln, Bauschutt, einzelnen Damenschuhen und halbausgegrabenen Kellergewölben entlang, Ziegelmauerreste schimmern durch die Grasnarbe. An einigen Stellen sind Parzellen eingezäunt worden, so werden Besitzansprüche sichtbar gemacht. Wieviel Zeit seit 1989 vergangen ist, zeigen die Bäume, die auf dem Streifen, um den die Mauer auf DDR-Gebiet zurückgesetzt war, gewachsen sind, die Bäume bilden nun, da sie nicht mehr da ist, gleich neben dem Bürgersteig eine neue, viel freundlichere Mauer.

Hausnummern hat die Straße nur auf der nördlichen, der Weddinger Seite. Auf der Seite der Rosenthaler Vorstadt, ehemals Osten, braucht es keine. Es gibt ja keine Häuser, sondern bisher nur eine Baugrube Ecke Ruppiner Straße und ein weiteres Bauankündigungsschild. Auf dem ist der Aufriß einer Gartenwohnung mit Ausblick auf den ehemaligen Todesstreifen zu sehen.

Im Pflaster des neugebauten Bürgersteigs liegen die alten Gedenksteine, auf denen in der Grabsteinschrift der sechziger Jahre, der Typographie der Zeit, den Opfern der Mauer gedacht wird. Auf ihnen heißt die Mauer noch Schandmauer, eine von Willy Brandt geprägte Bezeichnung, die West-Berlin bis Ende der sechziger Jahre offiziell verwendete. Daß hier einmal Menschen erschossen wurden oder zu Tode stürzten – Ida Siekmann am 22.08.1961, Olga Segler am 26.09.1961, Bernd Lünser am 4.10.1961 – nur weil sie von der einen Straßenseite auf die andere wollten, erscheint heute absurd, ja unglaublich. Sie versuchten, sich an zusammengeknoteten Bettlaken oder Wäscheleinen aus dem Fenster hinunterzulassen, weil der Bürgersteig unter ihnen schon zum französischen Sektor gehörte, also im freien ­Westen lag. Einem Kind, das hier, das neue Pflaster ist so glatt, Rollschuh fährt, ist dieser Wahnsinn nur schwer zu vermitteln.

Bis vor zwei Jahren war die Bernauer noch kopfsteingepflastert, dann wurde die Straßenbahnlinie bis zum Nordbahnhof verlängert. Sie fährt nun auf eingelassenen Schienen in der Mitte der Straße, an der es keine interessanten Geschäfte gibt. Abgesehen von der Kreuzung mit der Brunnenstraße, wo über einem folienverklebten Schaufenster »Refillpatronen und Nachfülltinte« zu lesen ist, und einem vom Lazarus-Krankenhaus betriebenen Diabetes-Laden gibt es überhaupt keine Geschäfte auf der Bernauer Straße. Es gibt auch keine Cafés, nur einen Inder, ganz oben, fast noch im Mauerpark, und einen Imbißwagen, der am U-Bahn-Ausgang in der Brunnenstraße Chinapfanne anbietet. Zu Ostern eröffnet an dieser Kreuzung, das geht schon ein paar Jahre so, ein Rummel, dann stehen ein paar Buden, ein Kinderkarussell und ein Autoscooter auf dem Todesstreifen und dort, wo die Mauer war, die Wohnwagen der Schausteller.

Hinter der Kreuzung mit der Strelitzer Straße, unter der einmal ein Fluchttunnel quer unter der Bernauer hindurch gegraben wurde, fällt die Straße leicht ab. Links liegt die neu errichtete Erlöserkapelle mit hölzerner Stabfassade auf dem Grenzstreifen. Sie steht genau dort, wo sich der Chorraum der Erlöserkirche befand, von der nur die Schwelle des Portals und je zwei Torsteine der Seitenpforten geblieben sind. Über zwanzig Jahre lag die leere Kirche unzugänglich im Todesstreifen, dann wurde sie, das war 1985, gesprengt. Neben der Kapelle ist zwischen ein paar Findlingen ein kleines Roggenfeld angelegt worden. Die Halme stehen noch nicht sehr hoch. Erklärungen am Zaun bestätigen den Verdacht, daß es sich um ein Kunstprojekt handelt.

Wenige Schritte weiter befindet sich dort, wo ein Abschnitt der Grenzanlagen mit all seinen Einrichtungen und Sperrelementen – Grenzmauer, Todesstreifen, Postenweg, Peitschenlampen und Hinterlandmauer – erhalten ist, die Mauergedenkstätte. Zwei je sechs Meter hohe, von den Architekten Kohlhoff & Kohlhoff entworfene Stahlwände durchschneiden die denkmalgeschützte Grenzanlage und machen einen vierundsechzig Meter langen Mauerabschnitt zum Monument. Vierundsechzig Meter unversehrte Grenzmauer 75. Die Grenzmauer 75 ist das bekannte Modell, die Mauer der vierten Generation mit Rundkrone; hier steht sie betongrau und unbemalt, weil der Beton schon einmal bis auf die stählernen Armierungen abgeschlagen war. Durch eine Renovierung ist sie in ihren ursprünglichen Zustand zurückversetzt worden, dieser entspricht allerdings nicht dem historischen Zustand, denn natürlich stand die Mauer hier nie so unbemalt und unbeschriftet in der Stadtlandschaft. Genau vor diesem Denkmal steht seit einigen Wochen, vom Bezirksamt Mitte sehr gefühlvoll plaziert, ein neuer, solarzellenbetriebener Parkautomat.

Ein paar Meter rekonstruierte Friedhofsmauer schließen sich an, dann folgt ein weiteres Stück Grenzmauer, hier aber hängen die Armierungseisen heraus, als ob sie von riesigen, betonknabbernden Kaninchen freigenagt worden wären. Die Häuser auf der anderen Straßenseite, da, wo Westen war, ducken sich zweistöckig und balkonbewehrt hinter ihre verbuschten Vorgärten. Sieht aus, als hätten sie nie über die Mauer hinüber sehen wollen.

Touristen kommen hierher, laufen die Straße hinauf und hinunter, um die Mauer, das kurze Stück immerhin, zu sehen. Die beste Sicht auf die Grenzanlage bietet der Turm des Dokumentationszentrums der Mauergedenkstätte, von dort sind auch die ausgebauten Dachgeschosse der heute schönsanierten, an sonnigen Tagen in allen pastellfarben leuchtenden Häuser der Rosenthaler Vorstadt zu sehen.

Einmal, vor zwei oder drei Jahren, war die alte Bernauer Straße plötzlich in einer ganz anderen Ecke, am anderen Ende des Mauerparks, in der Kopenhagener Straße zu finden. Dort, wo noch unsanierte Altbauten stehen, war auf einem Straßenschild von einem auf den anderen Tag Bernauer Straße zu lesen und die Mauer stand wieder da, die frühe, improvisierte, mit Stacheldraht über Fertigelementen aus Beton. Die Häuser, die dort, Ecke Sonneburger tags zuvor noch wie immer ausgesehen hatten, trugen ihre Fensteröffnungen nun mit Ziegelsteinen vermauert – aber es waren bloß bemalte Sperrholzplatten, und die Mauer bloß Kulisse für einen Film. Sie bestand aus bemalter Pappe und Styropor. Echt genug aber, um für einen Augenblick zu erschrecken, sah sie aus.

Gebrauchtwagenhändler

Gebrauchtwagenhändler, es gibt euch noch. Und ich hatte schon gedacht, ihr wäret aus dem Stadtbild getilgt und in unzugängliche Industriegebiete verdrängt worden. Die Händler auf dem Gelände an der Bornholmer Straße, da, wo einst die Grenzkontrollen stattfanden, sind schon ein paar Jahre fort. Dort renaturiert die Stadt sich gerade selbst, bald wird da ein kleines Wäldchen oder ein Discounter sein. Der Autohändler an der unteren Schönhauser Allee ist verschwunden, ein solider Bauzaun sperrt das Grundstück ab, desgleichen in der Schwedter Straße, auch dort nun ein Bauzaun. Wo Gebrauchtwagen standen, werden bald Townhouses sein. Noch aber sind nicht alle Bau- und Bombenlücken zugebaut. Ums Eck hat sich auf einem Stück Mauerstreifen ein neuer Gebrauchtwagenhändler niedergelassen. Hat die Bäumchen, das Mauerdickicht an der Bernauer Straße gefällt, das Gelände eingezäunt, mit Kies bestreut und eine Miettoilette aufgestellt. Nur das Großlametta, die Glitzerpuschel, die sonst immer über alten Autos hängen und einen Hauch von Zirkus und Las Vegas verbreiten, fehlen noch.

Weiße Nacht

FÜR CHRISTIANE RÖSINGER

Falckensteinstraße San Remo liegt an der Spree. Wir sitzen auf Waschbetonpollern, dem San Remo gegenüber. Blaue Stunde, bester Blick, die Stadt ist eine Ansichtskarte am Wasser. Die U-Bahn, hier Hochbahn, fährt über unsere Köpfe hinweg auf die Oberbaumbrücke zu. Wir sitzen auf Waschbetonpollern, Straßenmöbeln der Mauerzeit. L. sagt, sie liebe Waschbeton, in ihrer Kindheit sei fast alles um sie herum aus Waschbeton gewesen. L. trinkt Sekt auf Eis, sie sagt, sie habe dieses Getränk, wenn schon nicht erfunden, so dann doch wenigstens in Berlin verbreitet. Ich glaube ihr. Ich mag das Getränk. Es kühlt auch die Hände.

Falckenstein-, Ecke Schlesische Straße In einem Ladenlokal, das lange leerstand, gibt es ein neues Geschäft. Es heißt Küchenstudio Tristesse. Keiner weiß, was da eigentlich verkauft wird. Traurigkeit in kleinen Tüten? Manchmal stehen da Objekte aus Plüsch – nicht notwendig zu wissen, ob sie einen Zweck erfüllen, manchmal wird hier abends auch bloß getrunken. Oder ein Low-Fi-Konzert veranstaltet. Tristesse heißt der Laden nach dem Haus von Álvaro Siza Viera, dem Bauausstellungshaus Ecke Falckensteinstraße, das mit seinem Bonjour-Tristesse-Graffito und einem halbgeöffneten Auge in der Fassade auf die Ecke herabschaut. L. erzählt von der erfolgreichsten Berliner Ich-AG. Die erfolgreichste Berliner Ich-AG stellt Früchtesenf her, Früchte- und Beerensenf. Die Berliner Ökonomie hat das Einmachglas wiederentdeckt. Vielleicht verkaufen auch wir bald Eingemachtes am Straßenrand?

Jannowitzbrücke Unter der S-Bahn, die hier auf dem Stadtbahnviadukt fährt, nicht in einem Bogen, sondern einer größeren Unterbauung, liegt das Golden Gate. Sein Eingang versteckt sich auf der Rückseite, in einem Wäldchen. L. sagt, es sei ein Wäldchen, sie übertreibt. Eigentlich ist es nur eine große, vom Grünflächenamt Mitte vernachlässigte Verkehrsinsel. Im Frühling und Sommer 2003 sitzen wir hier an der Tür, an der Kasse, später stoßen wir zu den Spitzenkräften am Analogtresen. Die Spitzenkräfte schenken erfundene Szenegetränke aus, die hauptsächlich Sekt und Eis enthalten. L. sagt, ich sei ihr Praktikant, ich sage: Ich mache eine Hospitanz. Ja, ja, sagt L., in Berlin muß man sich sein Leben eben ausdenken, sich erfinden, ein, zwei, drei, vier Projekte haben. Ich bin der Trainee an der Tür, sage ich den Bekannten, die ich begrüßen kann, ich durchlaufe das Traineeprogramm Tür. Ich halte den Stempel, einen Datumsstempel, meist auf den elften September eingestellt, meine Ausbilderin, die promovierte Musikwissenschaftlerin, kassiert. Ich sage »Heute Flittchenbar im Golden Gate« zu den Besuchern und versuche ihnen, die Besucher sind alle sehr nett, den elften September so zärtlich wie möglich auf die Hand, am liebsten auf die Maus, den gewölbten Daumenmuskel der Handinnenseite, zu stempeln.

Torstraße Wir schieben uns durch das White Trash. Wir schieben uns durch die Einrichtung eines ehemaligen China-Restaurants, an geschnitzten Stühlen und Kunstledersesseln vorbei und setzen uns auf den Rand einer aus bemaltem Styropor geformten Drachengrotte, in der kein Wasser mehr plätschert. Es ist drei Uhr früh, wir fühlen uns wie auf einer Familienfeier, die in einem bürgerlichen Restaurant außer Rand und Band geraten ist. Später, zwischen vier und halb sechs Uhr morgens, nuit blanche im White Trash, werden alle betrunken sein, und ALLE miteinander, jeder mit jedem, reden. Auch wenn sie sich gar nicht kennen. Dieser Laden baut erworbene Kommunikationshemmungen ab, sagt L. Der Erfolg des White Trash, in dem am frühen Abend auch gekocht wird, allerdings, wie auf einer Familienfeier, immer nur ein Gericht, ein Essen, ein Einheitsessen, das man essen kann oder eben nicht, der Erfolg dieses Clubs muß auch mit seinem Namen zusammenhängen. In dem, sagt L., stecke nämlich auch die Sehnsucht, allen kulturellen Ballast abzuwerfen, die Unkultur zu seiner Kultur zu machen, sich für nichts mehr interessieren zu müssen. Nichts als White Trash zu sein.

Torstraße, nochmal White Trash Einmal erhielt die Frau an der Bar – eigentlich ist sie Sängerin – einen Anruf. Eine Stimme sagte: Gleich kommt Mick Jagger vorbei. Die Frau an der Bar, die Frau, die eigentlich Sängerin ist, sagte: Ja, ja, vielen Dank. Und legte gleich wieder auf. Und dann stand er plötzlich da. Und, so ist das hier eben, sagt L., keine Sau beachtete ihn. Alle übertrafen sich in ihrem Bemühen, diesen alten Mann zu übersehen.

Borsigstraße, auf dem Weg zum Auto sagt L., das Prinzip der meisten interessanteren Clubs sei es, sich in oder mit Hinterlassenschaften und Überresten einzurichten. Das White Trash war ein Chinarestaurant, das Tristesse ein Küchenstudio, das Golden Gate eine Tischlerei. Es gab die Kachelbar, in der weiß gekachelten Küche des geschlossenen Burger King in der Rosenthaler Straße. Und es gibt oder gab Tresorräume, die Bunker, die E-Werke, die Möbel aus dem Palast der Republik. Handtaschen werden heute aus alten Lastwagenplanen und Alditütenresten hergestellt, uncool is the new cool, das Häßliche das neue Schöne. Deshalb gehen wir gerne in ein heruntergekommenes Chinarestaurant in einer Plattenbauhöhle, dessen Fenster immer verschlossen und abgedunkelt sind. Wir stehen am Auto, wir steigen ein und fahren ins Bad Kleinen.

Linien- Ecke Oranienburger Straße, im Auto Wir sind Ruinenbewohner, sagt L., wenn die meisten Ruinen mittlerweile auch ­saniert und außen renoviert sind, mit Gasetagen- oder ­Zentralheizung, Innentoilette und Bade­zimmer nachgerüstet worden sind. Vor zwölf, dreizehn, vierzehn Jahren war an so viel Luxus nicht zu denken.

Leipziger Straße Siehst du, sagt L., es gibt einen neuen Berufszweig: Arbeitslose Opernregisseure und ihre Beleuchter inszenieren Lichtspiele für leerstehende Bürohäuser. Die neuesten, erst kürzlich schlüsselfertig übergebenen Berliner Ruinen, die nur mit einer Haut aus Glas überzogenen, leerstehenden Bürogebäude in Mitte und anderswo, werden nachts aufwendig beleuchtet. Nicht angestrahlt, wie etwa die Ruine des Heidelberger Schlosses, sondern von innen mit farbig wechselnden Lichtern bespielt. Wer jetzt noch unterwegs ist, erinnert sich morgen, wenn er ein großes Büro braucht, vielleicht an dieses Haus.

Krausenstraße Hier, in einem leerstehenden, spätwilhelminischen Bürohaus, hier, im Mecklenburg-Vorpommern von Mitte, lag, das war im Frühjahr 2003, das Bad Kleinen. Samstagnacht mit Neo-Punk. Bei einem Konzert hatte ein Musiker die Aufgabe, leere, nicht besonders sorgfältig gespülte Schraubverschluß- und Senfgläser von einer Leiter herab im Takt kaputtzuwerfen. Über dem Schatten einer Weltkarte an der lange nicht mehr gestrichenen Wand stand in Westernschrift »Bad Kleinen«. Davor der Tapetentisch, der als Tresen diente, an dem nicht sehr kaltes Bier und Sekt ohne Eis hinuntergestürzt wurde. Es gab keinen Kühlschrank. Oben, sehr weit oben unter der hohen Decke, ein Fries aus pornographischen Schattenrissen. Sonst nichts. Nur die Reste im Raum, Perlen für DDR-Archäologen. Die alten Gardinen, ein sonderbarer, farblich undefinierbarer Teppichboden. Eine Telefonkabine ohne Telefon. Das war einmal, daher auch der Schatten der Weltkarte, das Auslandspostamt der DDR. Jetzt wird das Haus saniert. Oder soll saniert werden, sagt L., jedenfalls ist dieses Bad Kleinen, es war schon das zweite, geschlossen.

Rosa-Luxemburg-Platz Gleich neben der Volksbühne, vor dem Pavillon der Galerie Meerrettich, steht eine Freiluftbar. Unter einer aus Baugerüstelementen errichteten Plattform, im Schatten eines Lindenbaums. Die Bar, das Projekt und die Plattform heißen Hier entsteht. Oben auf der Plattform darf ein jeder auf- oder einbauen, was er möchte, hier, an diesem Modell, sollen partizipative Architektur und räumliche Aneignung ausprobiert werden, noch deutlicher als irgendwo sonst in der Stadt. Einer hat sich ein winziges Wohnzimmer gebaut, eine andere eine Luftdusche installiert und Rollrasen verlegt – so wie im echten Berlin, wenn eine privat finanzierte Grünanlage frist- und prospektgerecht fertiggestellt werden muß.

Wir stehen in der Freiluftbar, in der am frühen Abend Vorträge gehalten und Filme vorgeführt werden, wir trinken Sekt auf wenig Eis und haben das gute Gefühl, an einem großen Projekt beteiligt zu sein. Hier ist es Kunst, sagt L., zweihundert Meter weiter steht ein Kiosk, an dem wir uns ganz kunstfrei betrinken könnten. Wir reden über all das, was nicht entstanden ist. Über Traumruinen, gesprengte Luftschlösser, Erfindungen. Unser nächstes Projekt soll heißen: Hier entsteht nicht. – Hier entsteht nur Erinnerung, sagt L., wo wir überall gewesen sind, diesen Sommer. Das Bier kommt aus einem einzigen, altersschwachen, nicht besonders gut kühlendem Kühlschrank. Es riecht, wer es nicht mag, sagt es stinkt, nach Linde.

StadtautobahnRumfahren. Kaum noch andere Autos um sich haben. Einfach so durch den Tiergarten fahren, auf die Autobahn fahren, sich unbedingt verfahren wollen. Nachts auf der Stadtautobahn, immer im Kreis, die Nacht wird irgendwann weiß. Eine West-Berliner Tätigkeit, sagt L., dem Auto einmal Auslauf geben.

An einer Tür, ich weiß nicht mehr wo Der Mann an der Tür sagt: Gehen Sie nach Hause. Begeben Sie sich direkt dorthin. Gehen Sie in keine andere Bar, in keinen anderen Club, an keinem Geldautomaten mehr vorbei. Gehen Sie nach Hause, legen Sie sich in Ihr Bett, schließen Sie die Augen.

Monbijou

Die Wiese im Park, das ist ihr anzusehen, wird benutzt. Mancher heiße Grill hat den Rasen schwarz gestempelt. Die Mülleimer sind mit Aufklebern übersät und an sonnigen Tagen wird der Schatten unter den Bäumen zum Kinderwagenparkplatz. Und der ganze Park zum Lese- und Speisesaal.

Eingeklemmt zwischen Spree und Oranienburger Straße liegt er da, der Monbijoupark, der seinen Namen von einem Schloß hat, das dort gar nicht mehr steht. Die wenigen alten Kastanienbäume und die knorrigen Platanen haben Schloß Monbijou sicher noch gesehen. Es stand hier, eine kriegsbeschädigte Ruine, noch bis 1959. Dann beschloß der Magistrat von Ost-Berlin den Knobelsdorff-Bau, in dem sich zuletzt das Hohenzollernmuseum befunden hatte, entgegen aller Proteste abzureißen. Fortan gab es noch ein Schloß weniger in der Stadt. Und eine Freifläche mehr.*

Noch während des Krieges hatte es einen anderen Plan gegeben. Albert Speer wollte das Schmuckstück mon bijou so wie es war, nach Charlottenburg, in den dortigen Schloßpark, versetzen lassen. Um so hier, gegenüber der Museumsinsel, Fläche für noch mehr Angeberbauten zu gewinnen. Der bekannte Ausgang des Krieges verhinderte das Vorhaben. Das Schloß brannte nach Bombentreffern aus.

In den sechziger Jahren wurde in dem vom Schloß befreiten Garten das Kinderbad Monbijou erbaut, mit einem sehr flachen und einem weniger flachen Becken. Kopfsprünge vom Rand sind dort leider verboten. Es gibt keine Rutsche und keinen Sprungturm, trotzdem ist das Bad bei den entsprechenden Zielgruppen – Kindern und ihren Eltern – sehr beliebt. Die Kinder, die da planschen, planschen quasi im Rohmaterial eines expressionistischen Großstadtgedichts: Über ihnen rollen S-Bahnen und ICEs auf dem Stadtbahnviadukt, Ausflugsdampfer ziehen auf der Spree vorbei, der Fernsehturm ragt groß ins Bild und Flugzeuge zeigen sich am Himmel. Die Zäune um das Kinderbad sind seit der Wiedereröffnung nach langer Renovierung höher und sommernachts nun schwieriger zu überklettern.

Mitten im Park und sympathisch unrenoviert liegt ein Gebäude, in dem sich Ateliers der Kunsthochschule Weißensee befinden. Durch ein offenes Fenster sind Farbtöpfe zu sehen, die meisten Scheiben sind von innen milchig lasiert, um vor neugierigen, störenden Blicken zu schützen. Teile der Fassade sind, wie es scheint von Studenten selbst, rot angestrichen worden.

Auf dem Spielplatz hinter dem Bad, fast schon an der Spree, lassen sich die Veränderungen der Spielplatzbaukunst über die Systeme hinweg studieren. Aus DDR-Zeiten übrig geblieben ist ein monströser, bunkerähnlicher, mit kleinen Findlingen gespickter Beton-Höcker. Kinder können auf ihm herumklettern und auf einer Rutsche aus Zement herunterrutschen. Unter dem steinernen Kloß hindurch verläuft, nicht wirklich ein Fluchttunnelmodell, ein heute verschlossener Kriechgang. Eine Installation, die Eltern heute kaum gefallen kann. Besorgte Eltern von heute sehen ihre Kinder lieber auf dem gleich daneben stehenden, aus einer privaten Spende finanzierten, bunten, grazilen, multifunktionalen Klettergerüst mit einem Hängebrückchen zwischen zwei Türmen und einer hosenbodenschonenden Metallrutsche.

Am Fluß, genau da, wo einmal Tierversuchsbaracken der Charité standen, liegt heute die Strandbar Mitte, die eigentlich keine Strandbar mehr ist. Seit die neue, großzügige Uferpromenade angelegt wurde, ist aus der ehemaligen Strandbar, in der die Liegestühle tatsächlich auf Sand und direkt am Wasser standen, ein Café mit Marmortischchen und Oleandersträuchern in großen Kübeln geworden.

In den schon lange abgerissenen Baracken befand sich vor etwa zehn Jahren der Club Kunst und Technik, eine der improvisierten und temporären Bars, die anfangs nur mittwochs, später nur alle sechs Tage geöffnet hatte. Seither haben Landschaftsarchitekten das Gelände neu modelliert und eine breite Freitreppe angelegt, die ans Wasser hinunter führt. Ein kleiner Platz ist entstanden, der von den im Minutentakt vorbeirauschenden Ausflugsdampferrednern gut beschallt wird.

Am Rand des Parks, zur Monbijoustraße hin, stehen auf dem Dach eines ziegelverkleideten Flachbunkers zwei seltsam fremd anmutende Blockhäuser. Es handelt sich um alte, aus Polen stammende Holzbauten, die hier wieder zusammengesetzt wurden, um in ihnen Theater zu spielen und Märchen zu erzählen. Sie heißen Märchenhütten und sehen auch so aus, Hexen könnten in ihnen wohnen. Gleich daneben ist für diesen Sommer ein hölzernes Freiluft-Theater errichtet worden. Fast jeden Abend wird dort in den nächsten Wochen das für Freilufttheater geeignetste Stück überhaupt gespielt, Shakespeares unvermeidlicher Sommernachtstraum.

Hunde sollten im Park nicht frei herumlaufen. Sonst könnte sich – unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich – wiederholen, was der fünfunddreißigjährigen Grafikerin Kerstin V. hier am Abend des 8. Mai 2006 passierte. Ihr Hund Fritz fand damals, an einem Erdhaufen erst schnüffelnd, dann scharrend, eine mumifizierte Frauenleiche. Diese kam zutage, weil für die Neuanlage der Wege Erdreich bewegt worden war. Es handelte sich, wie später ermittelt wurde, um eine schon seit fünfzehn Jahren vermißte türkische Frau, die ihren Mann hatte verlassen wollen. Als hätten die Gartenarchitekten ihrer gedenken wollen, befindet sich ganz in der Nähe des Fundorts heute eine unmotiviert aus der Wiese ragende, wie ein Grabhügel anmutende kleine Erhebung. Vielleicht soll das aber auch nur ein Rodelhügel sein. Nicht weit davon plätschert ein neuer Brunnen: eine große, dunkle, Metallschale, die beständig überläuft. Schöner läßt sich Überfluß nicht darstellen.

Oderberger