Epub cover

Dietmar Dath

KLEINE POLIZEI
IM SCHNEE

Erzählungen


Auftrag

Patience, patience, Patience dans l’azur!
Paul Valéry

Farczády klopfte an die Tür, er hatte Manieren.

Doro öffnete ihm zögernd, er sah so rabenartig aus, in seinem schwarzen Mantel, mit der strahlenden Schneelast auf Schultern und Kragen.

»Ich wollte mich bedanken«, sagte er, den sie sofort erkannte, beim Eintreten »für das Gemälde.«

»Ich weiß schon«, sie ging ihm voraus ins Atelier und drehte sich nicht um, »Sie sind der Käufer, und jetzt das Modell. Ist das Kind tot?«

Farczády lachte nicht uncharmant. »Was Ihr immer von mir denkt. Wieso sollte ich sowas tun? Im Gegenteil! Oh, Ihre Aussicht ist wunderbar. Ganz Berlin.«

»Nur der Teil, den ich mag.«

Viele Dächer sah man gar nicht, so verwegen tanzten die weißen, wehenden Schals aus Flocken und Licht.

»Sie haben diese Killerin geschickt, oder nicht?«, kam Doro auf ihre Vorwürfe zurück und zündete sich eine Camel an.

»Ich habe Christa Bischof geschickt, zur Adlerinsel, damit sie die Angreifer, die sich selber missverstehen, von ihr fernhält, und von dem Haus, in dem sie überwintern wird, mit dem schwarzen Lehrer, dem Soldaten und dem Vater. Tote liegen überall im Sand, gut vergraben, und tief im Wasser, von Steinen beschwert, während wir hier reden, Wütende und Irre, die Christa aus dem Gebüsch, oder von ihrem Boot aus, abgeschossen hat, bevor sie dem Mädchen zu nahe kommen konnten.«

»Sie trauen also Gunter Rudolf nicht, dass der sie alleine beschützt?«

»Ach, ich dachte mir«, es war ein Singen, fröhlich, sehr einnehmend, »vier Augen sehen mehr als zwei. Wenn der Winter rum ist, wird Christa sich zu erkennen geben. Dann sollten wir uns treffen, die kleine Polizei und ich. Es gibt so vieles zu bereden, zu entscheiden. Wir kriegen das schon hin, wir Pinguine.«

Fünf Minuten schwiegen beide – Doro, weil sie Malmaterialen zusammensuchte und zurechtlegte, Farczády, weil der das bisschen Mitteleuropa durch die große schräge Glasdachwand betrachtete, das eben noch möglich war, und sich unser aller Gedanken dazu machte.

Dann setzte er sich artig in den Stuhl, den sie ihm wies.

»Irgendwas besonderes, was ich beachten muss?« fragte sie, bevor sie daran ging, den Auftrag auszuführen, sein Porträt zu malen.

»Machen Sie’s freundlich«, bat Farczády.

Impressum und Copyright


Erste Auflage

Verbrecher Verlag Berlin 2013

www.verbrecherverlag.de
© Verbrecher Verlag 2012
Satz und E-Book-Umsetzung: Christian Walter

ISBN Print: 978-3-943167-08-5

eISBN Epub: 9783943167269
eISBN Mobipocket:  9783943167375


Printed in Germany


Der Verlag dankt Elisabeth Göske und Rebecca Hürter.




The unraveling of a riddle is the purest and
most basic act of the human mind.

Vladimir Nabokov

Kammonikutain

Wir haben gelernt, wie man mit den Folgen der Katastrophe lebt. Der haarfeine Riss gehört jetzt zum Alltag, das »laterale Licht« (wie die Physiker aus Princeton sagen, weil sie nicht wissen, wo der Schimmer herkommt und wieso er leuchtet), das von der Naht in unsere Welt gestreut wird, gehört für diejenigen, die in der Nähe des Schnitts leben, inzwischen zum Alltag.

Man kann sich mittlerweile minutenlang durch die Kanäle zappen, ohne Aufnahmen der Naht zu begegnen; ich habe drei internationale Tageszeitungen neben meinem Keyboard liegen, in denen auf den ersten Seiten vom Unfall keine Rede mehr ist, in keinem Artikel.

Vor drei Jahren war das undenkbar.

Selbst das Wort »Kammonikutain«, jetzt weltweit in allen Sprachen als Begriff für die unmittelbaren, die guten und die schlechten Folgen der Katastrophe, und sogar für die zeitlichen Echos, die sie in ihre Vorzeit geschickt hat, all die Verständigungsschwierigkeiten, komplett durchgesetzt, wenn auch in Schreibungsvarianten und Spielarten der Aussprache, ist ja ein Normalisierungszeichen, verglichen mit der Rede vom »Weltuntergang« (BILD damals – eine echte Sternstunde für das Blatt, in jedem Sinne des Wortes).

Erinnerst du dich noch an die Laufbandlosung auf CNN? »Breakdown of our Physical World«, meine Güte. Wir kommen klar.

Dabei weiß man nicht mehr, als was die Fachleute schon kurz nach dem Ereignis wussten: Was zuerst die Bergspitzen Nepals, dann ein paar schwindelhohe Wolkenkratzer in Arabien, dann Flugzeuge, die Wipfel einiger nordamerikanischer Mammutbäume und schließlich Wohnhäuser, Eisklötze, sogar Korallenriffbänke sauber zerteilte, aber sonst intakt ließ, ist anscheinend eine Art Rest des Urknalls.

Inzwischen erzählt dir jedes Kind, wie die Energiedichte des Universums genau zehn hoch minus fünfunddreißig Sekunden nach dem Anfang in einer »superdünnen Röhre« (die Physiker aus Paris) eingefangen wurde, deren Durchmesser zehn hoch minus vierzehn Mal so klein ist wie der eines Atomkerns. Das ist die böse Schnur. Sie »kann keine Enden haben« (Physiker aus Berlin), weil sonst die Energie rauslaufen müsste, ist also eine Art Schleife, von der »ein Stück, das nur einen Meter lang ist, so viel wiegt wie die Erde« (Physiker aus Tokio).

Wie lang die böse Schnur genau ist, darüber wird noch spekuliert (es hängt, sagen Physiker aus Moskau, davon vieles ab, zum Beispiel, ob die böse Schnur auch die Sonne durchschnitten hat. Physiker aus Tel Aviv behaupten, sie hätten etwas beobachtet, was darauf hindeutet). Warum die Raumzeit von der Passage der bösen Schnur durch unsere Welt nicht verzerrt wurde, warum die Naht stabil bleibt, weiß niemand (die Berechnungen der Physiker aus Genf, die behaupten, sie wüssten es, versteht kein Mensch).

Aber eins weiß ich, auch wenn du mich dafür, wie so oft, als »Optimisten« beschimpfen wirst: dass wir seit dem Unfall so viele unserer Probleme in den Griff gekriegt haben, dass es keinen Nahostkonflikt mehr gibt, und die Linksradikalen sich in Mitteleuropa über andere Sachen spalten müssen, dass die Lohnarbeit rasant verschwindet und die Umweltverbrechen immer öfter schiefgehen, das hängt, davon bin ich überzeugt, mit dem Schreck zusammen, den die böse Schnur uns eingejagt hat. Ganz verstehe ich noch nicht, was die Physiker aus Rio erklären, nämlich dass wir Kammonikutain und die Schnur bald nicht einmal mehr wahrnehmen werden, dass die Wahrnehmung beider dann aus unserem Gedächtnis verschwinden wird, dass, wie Galen Strawson mir brieflich geschrieben hat, »der Prozess sich selbst resorbiert«. Aber sehen kann ich: Die Welt ist nicht auseinandergebrochen, damit wir nicht runterfallen. Sie mag uns. Das macht mir Hoffnung, dir nicht?

Caveat

Einige der Sätze, die dieses Buch ausmachen, hat der Verfasser in anderen Zusammenhängen bereits veröffentlichen lassen. Ihre enge Verflechtung mit dem Rätsel, um das es geht, ließ sich damit jedoch nicht auf­lösen.

Zum Zweck der Wiederherstellung des Gesamtproblems sind sie daher in dessen nachfolgende Darstellung am jeweils angemessenen Ort eingefügt worden.

Lieber Regen

Dies alles geschah, als mitteleuropäische Städte noch möglich waren.

Es roch in Berlin schon hier und da nach Eisenspänen, in der Bahn sogar nach Fledermäusen, als Dorothee Coppe eines Nachts genug hatte und am Hackeschen Markt, direkt gegenüber von Muji, eine aus Tschechien angereiste Prostituierte ansprach.

Die hatte eine Federboa um den Hals und sah aus wie eine schöne, verwunschene Eule, sagte zu Doro aber leider: »Sowas mach ich nicht«.

Deshalb ging Doro am Spreeufer entlang, bis sie eine Spießerkneipe fand, wo sie einen Whisky bestellte.

Doro war ziemlich müde.

Man hatte sie reingelegt: Die Oper, deren Bühnenbild sie hatte entwerfen sollen, würde nicht stattfinden, es war das alles bloß ein Batzen Flausen im Kopf des elektronisch vernetzten Komponisten gewesen, das Rundfunkfestival, die Beteiligung des ZKM Karlsruhe, lauter Märchen. Wenn sie daran dachte, dass sie mit dem Zug mehrfach hingefahren war! Vom eigenen Geld! Intercity-Express: Greuliche Human-Einheiten in schlecht sitzenden Anzügen, Geschöpfe mit internormalen Kommunikasmus-Applikaturen und Gesäßfehlhaftungen, die in ihre Headset-Knochen-Geschwulst-Hornhelme brüllten, damit die Gattin daheim den Puter korrekt röstete.

Info-Elite.

Kreative Klasse. Blödsinn.

Die Inderin hatte ganz recht gehabt, wie hieß sie noch? Radhika ­Desai.

Spießerkneipe also, mit ein paar gescheiten Studentinnen als Bedienungen.

Doro hätte sogar noch Würstchen bestellen können, nach Mitternacht.

Man servierte ihr einen Glenfiddich. Die gescheiten Studentinnen in Berlin dachten nämlich, wenn ein Whisky in einem Hacksgedicht vorkommt, wird’s schon ein guter Whisky sein.

»Seid ihr bescheuert?« fragte Doro, die es nicht länger leiden wollte.

In diesem Augenblick ging es ihr weder besser noch schlechter als Dir und mir. Sie glaubte längst nicht mehr, was im Internet stand.

»Glenfiddich? Was soll das sein? Wie schmeckt denn der? Meint ihr, ich will Früchtetee, wenn ich Whisky sage? Habt ihr nicht mal was aus Port Charlotte, oder einen Lagavulin? Wisst ihr was? Ihr wisst nichts!« rief sie.

Ein paar Hipster von der Stange, die eben vom White Trash hergekommen waren, um mal in einem Raum zu sitzen und zu trinken, wo statt erlaubter Musik eher Foreigner lief, hörten schlagartig auf, cool zu gucken.

»Es reicht!« erklärte Doro und ohrfeigte mit Verve einen Dicken, der an Hitler glaubte, weil als Kind niemand mit ihm gespielt hatte, und der sie lüstern ansah, seit die Ader auf ihrer Stirn pochte wie der Takt der Wahrheit.

Doro fuhr fort, denn sie war gerade gut dabei: »Diese Leute! Diese anderen Leute immer! Unfassbar. Sie haben mir in der Schule schon Unsinn erzählt, und sie kommen sich gescheit vor, wenn sie immer weiter lügen und sich selber glauben, aus nichts als Angst, die sich aber als Arroganz verkleidet, und dann haben sie mir mein Geld weggenommen und meine Freundin umgebracht und meinen Kung-Fu-Meister in einen bodenlosen Schacht geworfen und indolente Filmkritiken in der taz geschrieben und liberalextremistische Buchkritiken in der Frankfurter Rundschau und völlig bescheuerte Plattenkritiken zu irgendsoeiner Death-Metal-Scheiße in der FAZ, und dann musste ich meinen Vater begraben, danach haben sich abstoßende Dämonen in meinen Kopf eingenistet, deswegen habe ich meine eigenen Kinder, meine Zwillinge, erwürgt, weil ich außerdem hypnotisiert war, von meinem Handy, aber zusätzlich haben sie mir das Gesicht abgeschnitten und es hat Monate gedauert, bis mir ein neues gewachsen ist, und plötzlich hieß es, eine Frau hat keinen Schwanz zu haben, Führerbefehl, europäischer Gerichtshof, und Zack war das Ding ab, und jetzt soll zum Schluss auch noch Gottschalk neben Bohlen sitzen. Nein, Freunde, so geht das nicht!«

Sie spuckte auf den Boden wie ein Viehdieb, trat einen Stuhl um und stampfte nachhause.

Dort trank sie alles, was sie fand.

Am nächsten Morgen entdeckte sie unterm Bett eine schräg blausilbern gestreifte Krawatte. Die band sie sich sorgfältig um den Hals. Sie wusste nicht, wem die gehörte, aber sie fand beim Blick in den Spiegel, sie gehörte ab jetzt dringend ihr.

Zwei Tage lang lief sie, nur mit der Krawatte bekleidet, größtenteils nackt durch die Wohnung, malte im leergeräumten Wohnzimmer, aß auf, was noch da war, trank Leitungswasser, betete und fluchte gut.

Dann fing es draußen ganz gewaltig an zu regnen, zu donnern und zu blitzen.

Doro öffnete beide Fenster. Der Wind trieb den Regen ins Studio, spritzte die farbfeuchten Bilder nass, das Wasser klatschte auf Doros Bauch, Schultern, auf ihr Gesicht, und sie lachte und liebte den Regen und war geheilt.

Mondphasen

Jakob lebte seit sechsunddreißig Jahren.

Seit einem Lustrum wohnte er unglücklich verheiratet mit einer in Geldangelegenheiten sehr anspruchsvollen Theaterschauspielerin in einer mittelgroßen Stadt in Bayern, kinderlos. Jakob rackerte als Software-Entwickler und Mitinhaber eines Vier-Personen-Kleinunternehmens, nur eine einzige Frau arbeitete da, zuständig für die Bilanzen und das Steuerliche.

»Ich will mehr inhaltliche Arbeit machen«, beschwerte sich Franziska, Jakobs Gattin.

Er verstand nicht, was sie meinte.

Lieber, als zu verstehen, was sie meinte, wollte er nach Lanzarote, wo sie einander kennengelernt hatten, in den fünftausend Jahre alten, von Vulkanen geschaffenen Höhlen. Es ging Jakob gar nicht gut. Tagsüber fror er selbst im Sommer. Nachts machte ihm der grünliche Mond Kopfweh, auch wenn der hinterm rolladenhalber blickdichten Fenster gar nicht zu sehen war.

Ein Mann namens Klaus, Theaterschriftsteller, war anstrengend fleißig hinter Franziska her. Er versprach ihr die gewünschte inhaltliche Arbeit, aber dazu, behauptete er, sei es nötig, dass sie ihm Jakob vorstellte.

Ihn von so einer Idee abzubringen, war im Allgemeinen unmöglich. Für einen Erfolg bei der Kritik oder an der Kasse hätte Klaus zur Not Leichen aus Bürgerkriegen in Afrika gegessen.

Jakob ließ sich also von Franziska breitquengeln und verbrachte einen langen Abend beim Fernsehen mit Klaus. Sie aßen viele Erdnüsse und tranken vor Wochen gestorbenes Bier. Der Dichter stellte Fragen über Jakobs Arbeit. Sein neuester Einfall war nämlich, über Staatstrojaner, betriebliche IT-Sicherheit und dergleichen ein ganz großartiges Stück zu schreiben, »eigentlich mehr eine Textfläche«.

Franziska sollte Jakob spielen, diese Idee machte, so meinte Klaus, der weder schwul, noch bisexuell, noch transgendered, noch auch nur nett war, ein queeres Projekt aus dem Gesamtvorhaben.

Jakob erzählte Klaus von Scannern, welche die Web-Verletzlichkeit von Rechnersystemen prüfen konnten, vom Spurenverwischen mittels ProxyHunter, und dass es oft genügte, den Klienten einzuschärfen, dass keine ungepatchten Programme auf dem Webserver laufen durften und man überhaupt immer schön sauber programmieren sowie passwortgeschütztes Arbeiten ernstnehmen sollte.

Klaus schrieb das Monodrama »Keylogger« in drei Wochen.

Franziska lernte, wie man Jakob war.

Seinen Kinnbart malte sie sich mit einem schwarzen Kosmetikstift auf, seine Frisur war leicht mit Gel zu kopieren. Zweimal schliefen Jakob und Franziska miteinander, während Franziska als Jakob verkleidet war, weil sie darauf bestand, das auszuprobieren. Sie trug sogar eins von seinen Hemden dabei, und es kam den beiden vor, als könnte das ihre Lust aneinander, sonst ein Auslaufmodell, noch einmal neu zünden.

Das war eine Selbsttäuschung; sie verflog noch vor der Premiere.

»Keylogger« machte einen respektablen Erfolg.

Andere Theater, andere Schauspielerinnen übernahmen das Werk; es gab auch ein Hörspiel beim SWR. Klaus zog Franziska ins Bett, mit ihm dauerhaft leben wollte sie aber nicht. Die an der Affäre haftende Gelegenheit zur lärmenden, hässlichen Trennung von Jakob wurde freilich wahrgenommen. Auch Jakob war, als sie auszog, sehr erleichtert.

Zum Sichscheidenlassen waren beide zu faul, auch zu schlecht unterrichtet über mögliche finanzielle Chancen und Gefahren.

SPIEGEL ONLINE brachte einen Artikel über das Stück. Klaus pumpte sich im dazugehörigen Interview mächtig damit auf, wie gut er seinen Texflächenkleister recherchiert hatte, und erzählte die bombig queere Geschichte von Franziska in der Rolle ihres Mannes. Die Frau vom SPIEGEL kam nicht drauf, nachzufragen, was daran bitte queer sein sollte. Sie war vielmehr vom Recherche-Ethos des Dramatikers dermaßen hingerissen, dass sie, als »Keylogger« überraschenderweise den Mülheimer Dramatikerpreis gewann, für einen Nachfolge-Artikel den armen Jakob ausfindig machte und ausführlich interviewte.

Es war ein ausgesprochen unangenehmes Gespräch. Die Frau sagte die ganze Zeit immer wieder »wie fühlt sich das denn an, wenn«, und dann kamen jedes mal Sachen, bei denen Jakob leider überhaupt nichts fühlte.

Franziska verließ die Stadt in Bayern.

Ein Angebot aus Hannover lockte sie weg.

»Keylogger« wurde in einem kleinen Theater in Rheinland-Pfalz aufgeführt.

Jakob erhielt per E-Mail eine Einladung zu einer Diskussion nach der Premiere.

Seine Firma machte gerade Pleite, seinen Bart hatte er sich abrasiert.

Er fragte beim rheinland-pfälzischen Dramaturgen nach, ob Klaus auch zu dem Diskussionsabend käme.

Klaus, versicherte der Rheinland-Pfälzer, der wohl irgendwie den Braten roch, käme ganz sicher nicht. Jakob reiste also zur Premiere, und diskutierte mit, plötzlich befreit: »Es ist ganz komisch, das alles zu sehen. Diese Schauspielerin hier, die spielt meine Frau, die ich ewig nicht mehr gesehen habe, und sie spielt sie … weil sie spielt, wie sie mich spielt, und es ist wirklich komisch – ich meine nicht: seltsam, ich meine: lustig. Irgendwie eine riesige Erleichterung – als ob diese Geschichte lauter Firewalls zwischen mir und meinem Leben installiert, damit das nicht mehr so dicht aufeinanderhängt oder … ich kann es nicht beschreiben, doch das ergibt alles so Schichten … Schichten und Schichten von Distanz: Es bin ja nicht ich, aber es ist auch nicht das, was dieser Klaus aus mir gemacht hat, oder das, was Franziska aus dem gemacht hat, was dieser Klaus aus mir gemacht hat, oder das, was du«, er redete den Rheinland-Pfälzer damit direkt an, »aus dem gemacht hast, was Franziska aus dem gemacht hat, was dieser Klaus aus mir gemacht hat. Es ist einfach das, was diese Schauspielerin …«

»Bettina Marek«, half der Dramaturg.

»Ja«, sagte Jakob, »also was Bettina Marik ähm oder Marek heute Abend mal hat spielen wollen und dann ja auch gespielt hat, mit diesem witzigen Tonfall, der aber nicht so krampfig rumwitzt wie die Comedy immer im Fernsehen.«

Bettina Marek, die eine sehr attraktive, sehr kluge, jedoch auch sehr eitle Frau war, verliebte sich für dieses Lob sofort in Jakob.

Noch am selben Abend, in dem leicht muffigen Hotel, das ihm das Theater besorgt hatte, unter einem eher rötlichen Mond, äußerst betrunken, stieß sie ihn lachend aufs Bett. Zuerst hatte er Erektionsprobleme, dann, als er begriff, dass diese verblüffend schöne Dame ihn wirklich sehr wollte, machten sie einander richtig gut kaputt.

In den Pausen greinte er ein bisschen über sein Leben.

Als sie seinen Schwanz in den Mund nehmen wollte, entdeckte sie bei seinem feinen, aber wollig krausen Schamhaar eine winzige dunkelrote Zecke. Er hatte keine Pinzette dabei. Weil Bettina Marek praktisch veranlagt war, holte sie eine bei der Rezeption und drehte ihm das Viech aus der Haut.

Auf einmal war das Verhältnis in ein neues Stadium eingetreten: Man amüsierte sich über die Zecke und über die Hirnhautentzündungsgefahr, zog sich an, ging mitten in der Nacht spazieren, zwischen niedlichem Altstadtgemäuer.

Jakob war sehr verliebt.

Sie kam nochmal mit aufs Hotelzimmer. Die vierte Runde war die schönste, voller Hingabe und Glück. Sie schlief dann ein, er nicht.

Jakob hatte seit Jahren nicht geschlafen, warum hätte er jetzt damit anfangen sollen?

Anderthalb Monate später besuchte sie ihn in Bayern. Er hatte in seiner stickigen Stadt eine Festanstellung gefunden. Sie kam schon morgens, er hatte eigentlich frei, musste dann aber wegen einer kleinen Krise in den Laden.

Als er wiederkam, hatte sie gebadet.

Noch einmal fand er in ihre Arme, sie kuschelte sich später sehr in seine. Die Liebe hielt allerdings nicht, er hatte sich entschieden, sein restliches Leben lang ab und zu stillvergnügt daran zu denken, wie sie ausgesehen hatte, schlafend, im Hotel, nach der Nacht mit der Zecke. Er ließ sie daher kalt auflaufen, als sie, die einen festen Freund hatte, ihm andeutungsweise verriet, sie hätte nichts dagegen, ihn ab und zu wiederzusehen.

Jakob verhielt sich wurstig und zweideutig.

Er wollte nicht noch einmal scheitern, er wollte das Bild bewahren.

Ihr Gesicht. Den Glanz ihrer Haare, den goldenen, schwebenden Staub.

Alle bekamen, was sie brauchten.

Niemand musste sich je geschädigt fühlen.

Der Mond wurde schließlich pechschwarz und fiel auf die Erde.

Er war fast komplett aus Stein.

Mutilationsskepsis

Von Ines erfuhr ich, dass man Erkältungen mit Wodka und schwarzem Pfeffer behandeln kann. Baumwolle, in kochenden Wodka getunkt, heilt Ohrenschmerzen. Pflaumen und Wodka: gut gegen Kopfqual. Zu vorgerückter Stunde und nach drei, vier Wodka erzählte Ines, die für Zeitungen in Kriege fuhr, mir dann, dass abgeschlagene Köpfe nie echt aussahen. »Egal, wie nah man rangeht. Selbst, wenn man den Mann oder die Frau oder den Jungen oder das Mädchen am Tag vorher, oder … ich hatte den Fall mal … zwei Tage vorher noch gesehen hat, auf einem Wochenmarkt. Und man sich die Köpfe also ganz genau anschaut, so dass man wirklich sieht: Alles da. Die Augenbrauen. Die kleinen Narben oder Muttermale. Die Nasenhaare. Absolut authentisch, und trotzdem nicht echt. Also schon echt. Aber: sieht nicht so aus. Sondern wächsern, gummihaft, gepudert, mit Konservierungsmittel überzogen, staubig. Falsch.«

Ich riet, dass das vielleicht vom Fernsehen und Kino kam – man hatte so viele Verstümmelte gesehen, die nicht wahr sind, dass man, wenn man wirkliche Verstümmelte sah, automatisch dachte: Nicht wahr.

Sie war unschlüssig und wandte ein: »Naja, aber der Geruch. Man müsste es schon glauben. Aber man glaubt es nicht.«

Ich sagte, dass das bei Gott kein hoffnungsstiftendes Indiz für den aufklärerischen Wert des eingebetteten Kriegsjournalismus im Tross unserer bundesrepublikanischen Nicht-mehr-Wehrpflichtigen-Armee war, wenn die Leute, die dabei mittaten, schon nicht mehr glauben konnten, was sie sahen.

»Hauptsache,« sagte Ines, »die Maschinen zweifeln nicht auch noch. Gewehre, Panzer, Drohnen.«

Ich vermutete, die zweifelten auch.

Karin gab mir recht: »Stimmt. Müssen sie sogar. Sonst würden sie ja viel zu schnell verrückt, und dann geht es richtig los da unten.«

Verliebte Scheu

Vor der Villa sangen kostbare Vögel, es hätten kleine, unbezahlbare Automaten sein können.

Gegen Ende ihres dritten Lebensjahrzehnts lebte die junge Künstlerin Dorothee Coppe eine Weile in einem sehr schönen Zürcher Haus, weil die schwer reiche, aschblonde Sammlerin P. sie dorthin eingeladen hatte, als ihr erzählt worden war, dass Doro sich dringend regenerieren und eine Weile von allem abwenden sowie zurückziehen musste, um nicht in tödliche Schwermut zu versinken.

Die Villa der Sammlerin P. war fast leer; ein großes Gemälde von Doros ewiger, etwas älterer Konkurrentin Johanna Rauch hatte man anderswohin verbracht, um den Hausgast nicht zu kränken.

Es gab einen Nordflügel, in dessen oberem Stockwerk Doro wohnte sowie eine alte Frau, die man niemals zu sehen bekam, und einen Südflügel, in dessen oberem Stock ein leicht verwirrter, schwuler Betriebsonkel hauste, der das Vermögen – oder das Glück oder sonst etwas Wichtiges – der Sammlerin verwaltete. Beide Flügel hatten ein gemeinsames Erdgeschoss unter sich, wo gelegentlich Feste stattfanden, für welche die Sammlerin aus der südeuropäischen Hauptstadt, in der sie residierte, manchmal persönlich angeflogen kam.

Einmal verbrachte Doro einen schrecklichen Abend beim Essen mit der Sammlerin, dem verwirrten Betriebsonkel und dem Bruder der Sammlerin, der zu spät zum Nobelitaliener kam, sämtliche Gänge dort verklemmt benagte und sich am Ende dafür entschuldigte, er sei »heute so zerfahren, aber wisst ihr, ich habe drei Klaviere getestet für deine neue Residenz in Wien«, vielsagend zwinkerte er seiner Schwester zu; »und es war einfach schrecklich, die hatten alle keinen Klang, keinen … Bauch, wie sagt man, keinen Klangkörper, es hat mir wehgetan, wirklich in den Ohren im, im … Im Gemüt hat’s mich gezwiebelt, ganz fürchterlich.«

Im Bett, nach diesem Essen, dachte Doro, sie wollte nie wieder Klaviermusik hören, nicht mal eine Tonleiter, kein Stück, kein Schneeflöckchen von einer einzelnen Klaviernote mehr, nicht Chopin noch Beethoven noch Liszt noch Schönberg noch Rzewski noch Wolff, Feierabend.

Um den Garten und die Instandhaltung der Villa, das Catering bei den Festen, die Alarmanlage und Angelegenheiten wie Bettwäsche kümmerte sich eine junge Frau namens Betty, in die sich Doro schlimm verliebt hätte, wenn Betty nicht immer wieder Bemerkungen von ungeheurer Unschuld gemacht hätte, die etwa Doros Aussehen lobten – »da ist die schöne Frau ja wieder, schon zurück aus dem Schwimmbad?« – Bemerkungen, an denen Doro leicht ablesen konnte, dass Betty nicht die leiseste Ahnung hegte, wie nah daran Doro oft war, sie einfach im Treppenhaus am Geländer zu überfallen, um sie kurz und klein zu knutschen.

Betty brachte Doro häufig Orangensaft mit, oder trat überflüssigen Sekt ab, nach den Festen.

Einmal aber, als Betty zwei Wochen Urlaub hatte, verirrte sich Doro im Erdgeschoss auf der Suche nach etwas zum Trinken – sie arbeitete endlich viel, zeichnete Berge von Concept Drawings für Installationen und bekam davon großen Durst – auf die Treppe zum Südflügel.

Da lagen sehr hässliche, teure Männerhemden.

Sie fotografierte die mit dem Handy und fragte ein paar Tage später, als Betty wieder da war, die hübsche Hausbesorgerin: »Was ist das? Wem … zu wem gehört das?«

»Die sind vom Verwalter«, erwiderte Betty mit einer Unschuld, die Doro auf die Palme brachte.

»Was macht er damit, wegschmeißen?« staunte die Künstlerin.

»Nein. Die soll ich waschen.«

»Und dazu schmeißt er sie einfach auf die Treppe?«

»Klar«, schweizerdeutsch: chlár.

Dieses eine kurze Wort verriet Doro, was es mit Bettys scheinbarer Unschuld in Wirklichkeit auf sich hatte, und binnen kurzem wurde ihre Liebe zu dem listigen Mädchen so riesengroß und unerträglich, dass sie ausziehen musste, weil sie die irrsinnige Sehnsucht nach einer Frau, die sie niemals deswegen hätte ansprechen wollen, dann doch sehr beim Arbeiten gehindert hätte.

Bei ihrer, von der Kritik äußerst wohlwollend aufgenommenen, kleinen Ausstellung im Frankfurter Portikus (unten eine Berühmtheit, oben Doro) zeigte Doro zwei Jahre später ein Video mit brennenden, teuren Männerhemden an einer Drahtleine.

Das Werk hieß »Treppensex (chlár)« und wurde völlig falsch ver­standen.

Tröstliche Begegnung

Das Jahr Zweitausenddreißig wird ruhiger als die fünf Jahre vorher. Am Vormittag meines sechzigsten Geburtstags gebe ich im Klima- und Zivilrechtsturm am Frankfurter Hauptbahnhof zwei Identitäten ab, die ich nicht mehr brauchen kann, weil es einen Mann in meinem Alter dann doch langsam schlaucht, alle vierzehn Monate Mutter zu werden und sich gleichzeitig um drei vegane Gaststätten im Westend zu kümmern, die sich nicht entscheiden können, ob sie Kunstwerke oder politische Treffpunkte sein wollen.

Der Klimaturm, das ist dieser riesige, fast ganz von strom- und gravitationsnetzgittererzeugenden Pflanzen aus edelschwarzem Rechengummi zugewachsene Laden, in dem früher die europäische Zentralbank den Deutschen andere Länder nach dem schönen Prinzip unterworfen hat »Ich leih dir was, damit du mir was kaufen kannst, das ich dir per Richtlinienänderung dann zurücküberschreibe und gleichzeitig abkaufe, damit du es bei mir mietest, bis dich die Zinsen für die Leihgebüren in eine Abhängigkeit von mir gestoßen haben, über die ich mich bei dir dann auf dem Amtsweg beschweren muss, weil ich den Anblick deines verlotterten Zustandes nicht ertragen kann«.

Identitäten, das sind heutzutage kleine dielektrische Fingernagelplättchen für die Verrechnung von Zeitinvestitionen in andere Leute, bei mir höchstens zehn – es war zu meiner Zeit, als das Wort noch einen metaphysischen Sinn hatte, ja üblich, dass die Leute nicht mehr als zehn Finger besaßen, und gleich viele an jeder Hand. Wenn man Identitäten abgibt, das wissen alle, kann man sich entweder andere holen, oder man lässt welche unbesetzt – ich bin inzwischen ja legal Sohn, Ehegatte oder Tochter von achtzehn Personen allein in Europa und selber wiederum sowohl rechtlich wie biologisch Vater beziehungsweise Mutter von sechsundzwanzig weiteren, die meisten übrigens mit seit Jahren mehr oder weniger stabilen Geschlechtern, meine Familien sind halt altmodisch und ein bisschen verklemmt, aber wir mögen einander fast alle. In letzter Zeit, so seit 2027, ist allerdings ein neues Identitätskonzept aufgekommen, das ich nicht mehr verstehe, von der Schweiz herübergeweht in diesen lustigen Wolken aus winzigen Atemtierchen voller Ideen, die unmittelbar an den Schnittstellen der Kopftransceiver neue Wahrnehmungen anmelden (und bei Annahme freischalten), mit denen die Weltgesundheitsfrauengruppe nach ihrem Umzug aufs offene Meer vor Indien Anfang der zwanziger Jahre die bis dahin bekannten Drogen überflüssig gemacht hat. Nein, ich versteh’s nicht, was die jungen Leute sind, aber egal, man muss ja nicht mehr lernen, um sich von irgend­jemandem Zensuren, Jobs oder Zugang zum Nötigen bis Schönen zu verschaffen. Im Tauschkreis im siebten Stock des Klimaturms, wo ich meine überzähligen Ichplättchen anbiete, komme ich per Diametralpunktgeschnatter mit einer Elfjährigen ins Gespräch, die irgendwo aufgeschnappt hat, früher hätte es »Berufe« gegeben.

»Was warst du? Was hast du gemacht, beruflich?«, hänselt mich ihr ein bisschen nach frischen warmen Brezeln duftendes Textleuchten.

»Ich hab hauptsächlich gelogen«, blinke ich ihr schließlich rüber, um mich ein bisschen interessanter zu machen.

»Was gelogen?«

»Na, so Geschichten. Konnte man früher kaufen, für Kredite in Arbeitszeit, ziemlich anstrengend war das. Es gab Lügen, die man annehmen musste – das hieß Nachrichten und Information – und andere, die man mehrdeutiger behandeln konnte, das hieß dann Literatur.«

Sie antwortet mit einer langen Perlenschnur von salzigen Nullpunkten, das soll natürlich heißen: Glaub ich nicht.

»Doch«, sage ich, das heißt, ich spreche es tatsächlich laut aus, so, dass sich die Weltmembranen mehrerer Anwesender irritiert kräuseln. »Das ist wirklich wahr, das ist die historische Zeit, die ich noch erlebt habe.«

Sie steht von ihrem kleinen Boot auf, geht durchs flache silberne Wasser und umarmt mich mitleidig: »He, nicht ärgern. Nicht aufregen. Die Geschichte, an die du dich erinnern wirst, wenn wir uns hier nach dem nächsten Klimawechsel wiedertreffen, in hundert Jahren, wird weniger langweilig sein.«

»Versprochen?«

»Versprochen!« sagt sie, und nimmt meine rechte Hand beruhigend in zwei von ihren linken.

Planet ohne Hörbücher

Eine blinde Millionenerbin in Basel liebte Science Fiction und beschäftigte in ihren beiden letzten Lebensjahren gleich zwei Bediente, die ihr vorlasen: Einen Kroaten und eine Äthiopierin. Vorgelesen wurde auf Englisch, auch wenn man im großen, kühlen Haus der Millionärin sonst deutsch sprach.

Beide Lesehilfen hatten Anglistik studiert und gegen das harte Regiment, das bei der blinden Frau vorherrschte, nichts einzuwenden, weil es ihnen erlaubte, ihr bezahltes Leben mit einer Sorte Literatur zu verbringen, die sie schätzten.

Zum harten Regiment gehörte allerdings, dass beide keine Kontakte mehr zu ihren Familien und Lieben, ja überhaupt keine, nicht aus Lebens­erhaltungsgründen wie Einkauf oder Ämterangelegenheiten notwendigen, Beziehungen pflegen durften, außerdem ihre Namen ablegen mussten – sie hießen nur mehr »sie« und »er«, die Millionenerbin dagegen, auf eigenen Wunsch, »es« – und mit dem Ausgeben des vielen Geldes, das sie bei der Millionenerbin verdienten, bis zu deren absehbarem Tod warten sollten.

Es litt an einer Krebserkrankung, die sich nicht mehr mit Aussicht auf ernstzunehmend umfangreiche Lebensverlängerung therapieren ließ.

Die Geschmäcker im kühlen, dunklen Haus variierten: Er mochte Theodore Sturgeon, vor allem die Geschichten, in denen die sehnsüchtig von allen Festlegungen wegstrebende Sexualität des Dichters vom Text aufgesogen schien wie LSD vom Zuckerwürfel. Sie war gänzlich eingenommen von Joanna Russ, vor allem den langen Eröffnungsszenen von »And Chaos Died«, also den ersten Begegnungen Jai Vedhs mit den Gedankenleserinnen, doch auch von den Abenteuern der tapferen Alyx und dem tief unheimlichen Menschheitsrequiem »We Who Are About To«.

Es hingegen schätzte am meisten Heinlein, insbesondere das sonst überall verachtete Spätwerk »Time Enough for Love«, mit seinen niedlichen häuslichen Abschweifungen und dem frechen ödipalen Schluß, »The Cat Who Walked Through Walls«, mild gepfeffert mit dem Geschmack unaufdringlicher Lebensweisheit – »So mag ich die Schriftsteller, schön in der Nähe des Todes«, sagte es melancholisch, »dabei von tadelloser Haltung, ohne sich groß drum mühen zu müssen.«

Sie und er bewunderten es für solche Aussprüche, und waren sich außerdem einig, dass sie ihm viel zu verdanken hatten: »Es erlaubt uns, was sich viele Menschen wünschen – den Rückzug in eine eigene Welt aus Wörtern und Vorstellungskraft und Möglichkeitssinn, mit einem ganz eigenen Zugang zur Wirklichkeit, eben dem dieser Literatur«, sagte er, und sie stimmte ihm zu, mit den ebenfalls leicht gekünstelten, aber ganz aufrichtig empfundenen Worten: »Und das Ganze ist eine Art, das Leben zu empfinden, die sich draußen, in der Welt der Nichtblinden, Nichtreichen, vor allem aber nicht in Science Fiction vernarrten Menschen niemals durchsetzen wird. Ich meine, dort geht es nur ums pragmatische, um das schlechte Besondere also, oder, in Sonntagsreden, um völlig blasse Abstraktionen, das schlechte Allgemeine. Wir haben etwas anderes: Die Welterfahrung, die sich draußen, in der Welt, nie durchsetzen wird. Wer sieht denn schon die Erde als tatsächlichen Planeten, als große blaue Schwerkraftmulde in der vierdimensionalen Raumzeit, statt immer nur als Boden unter den Füßen oder Schauplatz von Markterschließung oder Schlachtfeld?«

Hörbücher verachtete es.