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Ebook Edition

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Hannes Koch ist Mitbegründer des Pressebüros »die korrespondenten« und schreibt für zahlreiche deutsche Zeitungen.

Bernhard Pötter schreibt über Umwelt- und Energiepolitik als taz-Redakteur, freier Journalist (ZEIT, GEO, NZZ, Profil) und Buchautor.

Peter Unfried ist seit vielen Jahren bei der taz, seit 2009 als Chefreporter.

Hannes Koch
Bernhard Pötter
Peter Unfried

STROMWECHSEL

Wie Bürger und Konzerne um die
Energiewende kämpfen

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:
www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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ISBN 978-3-86489-009-3

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2012

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Umschlagabbildung: plainpicture/Siegfried Kuttig

Satz: Publikations Atelier, Dreieich

Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Printed in Germany

Inhalt

1  Einleitung – die Zeit für die Stromwende ist da

2  Das intelligente Stromnetz kommt – mit Pionieren und Problemen

3  Das ganz große Rad drehen – Windkraft und Effizienz als Hebel

4  Die neuen Energieunternehmer – von Maseratis und Elektroautos

5  Kohle gegen die Kohle – der Preis der Revolution

6  Dinosaurier sterben langsam – und bestimmen das Tempo der Energiewende

7  Vom Atomkonzern zum grünen Pionier – schafft EnBW die Wende?

8  Demokratie als Stolperstein der Stromwende – Bürger machen mobil

9  Die Suche nach dem Klimagott – warum wir Intellektuelle und Prominente brauchen

10  Der Kampf geht weiter – wie die Energiewende gelingen kann

Nachbemerkungen

Anmerkungen

1  Einleitung – die Zeit für die Stromwende ist da

Das Buch atmet den Charme einer Doktorarbeit in Energietechnik: 230 eng bedruckte Seiten voller »Endenergieträger«, »Wirbelschichttechnik« und »Zusatzkosten«, dürre Grafikdiagramme hinter einem orange-schwarzen Cover. Nirgendwo Hochglanzfotos von blitzenden Solardächern mit spielenden Kindern, Windkraftanlagen vor Sonnenuntergang oder glücklichen Biomasseproduzenten auf der Weide, wie man sie heute in jedem Sparkassenprospekt findet. Aber das Buch hat einen Titel, eine These und ein Erscheinungsdatum, die es zu einem Bestseller und zu einem deutschen Klassiker gemacht haben: Energiewende. Wachstum und Wohlstand ohne Erdöl und Uran. Von 1980.

Als das Öko-Institut in Freiburg seinen vorsichtig so genannten »Alternativbericht« von Florentin Krause, Hartmut Bossel und Karl-Friedrich Müller-Reißmann herausbringt, lebt Deutschland noch in der Energiesteinzeit. Die Ölpreisschocks haben dem Wirtschaftswunderland schmerzhaft die erste Ahnung von den Grenzen des Wachstums vermittelt. Überall werden Atomkraftwerke geplant und gebaut, die von einer betonharten Koalition aus Politik, Verwaltung und Wirtschaft ohne Rücksicht auf Verluste durchgesetzt werden. Die Kohle gilt noch nicht als Klimakiller Nummer eins, die Grüne Partei hat sich gerade gegründet, von einer Ökolobby der Umweltverbände ist wenig zu spüren. Es ist eine Welt vor Globalisierung und Wiedervereinigung, in den Tabellen zu elektrischen Haushaltsgeräten tauchen keine PCs auf. Banken geben keine Kredite für energetische Häusersanierungen, Autos könnten in der fernen Zukunft mal vier Liter verbrauchen, die USA gelten als umweltpolitisches Vorbild. Es ist die Welt vor Tschernobyl und Fukushima und vor den Berichten des UN-Klimarats IPCC, als die alternative Vision des Öko-Instituts für Deutschlands Energiezukunft so aussieht: 50 Prozent Wind, Wasser, Solar und Biomasse – und 50 Prozent »heimische Kohle«.

In den über 30 Jahren seit Erscheinen des Buches hat sich die Welt grundlegend verändert. Aber der Begriff »Energiewende« ist geblieben. Heute wird sie von einer CDU-Kanzlerin vorangetrieben, die einmal Bundesumweltministerin war, ein Posten, den sich 1980 niemand ernsthaft vorstellen konnte. Deutschland hat sich verändert. Es ist grün geworden, bis hinein in die Werbung der Autobauer und Stromkonzerne. Und es ist das erste Industrieland, das seine Energieversorgung in wenigen Jahrzehnten ohne Atomstrom und ohne Kohlekraftwerke organisieren will.

Wie genau das gehen soll, ist niemandem klar. Was genau es bedeutet – für die Energieversorgung, die Politik, die Wirtschaft und die Kultur des Landes – auch nicht. Deutschland hat sich auf den Weg gemacht: Befeuert von den Ideen der »Energiewende« von 1980, getrieben von der »German Angst« der Babyboomer im Kalten Krieg, von Wohlstandskritik und Umweltzerstörung, motiviert auch von den wirtschaftlichen Chancen, die neue Energietechniken einem Exportland wie Deutschland bieten.

Wo dieser Weg hinführen kann und was am Rande des Weges alles passiert, davon handelt dieses Buch. Wir erzählen, wie die Energiewende Realität wird, wer sie vorantreibt und wer sie hintertreibt. Wir untersuchen, wer sie finanziert und wer von ihr finanziert wird. Wir schauen genau hin, wenn die Politik agiert und die Wirtschaft reagiert – und erst recht, wenn es andersherum geht. Wir besuchen die Baustelle Energiewende und fragen, was aus den großen deutschen Stromkonzernen wird – und was aus den vielen kleinen Stromerzeugern, die mit den »großen Vier« um die Vorherrschaft in der Energiepolitik kämpfen. Wir schreiben über Pioniere und Bremser, über die nächste industrielle Revolution, über die Suche nach den Vorbildern einer neuen Klimakultur und über die Entscheidung, ob unsere Energie in Zukunft weiter aus dem Kraftwerk oder vom Nachbarn kommen wird.

Energiewende – was ist das genau?

Was aber heißt »Energiewende« eigentlich? Zunächst einmal: das Auslaufen der Atomkraft in Deutschland. Seit März 2011 sind acht der 19 deutschen Atomkraftwerke permanent vom Netz genommen. Für die restlichen Meiler gibt es seit Juli eine begrenzte Zukunft. Spätestens 2022 soll der letzte Atomreaktor in Deutschland heruntergefahren werden. Das Thema Atom ist damit aber nicht erledigt, denn der strahlende Müll, der insgesamt bis dahin angefallen ist, wird uns und unsere Nachkommen noch ein paar tausend Jahre beschäftigen. Aber die AKWs sollen dann verschrottet werden. Dafür soll der Strom aus Wind, Sonne, Wasser und Biomasse bis 2020 seinen Anteil von derzeit etwa 20 auf 35 Prozent am deutschen Strommix erhöhen, bis 2050 auf 80 Prozent. Dafür müssen neue Leitungen gebaut (die halbstaatliche Deutsche Energieagentur, dena, spricht von 3 600 Kilometern neuer Leitungen, Kritiker sehen einen deutlich geringeren Bedarf) und Speicher für Strom erweitert werden. Deutschland, so die Vision der Bundesregierung in ihrem »Energiekonzept für eine umweltschonende, zuverlässige und bezahlbare Energieversorgung«1 von 2010, soll »in Zukunft bei wettbewerbsfähigen Energiepreisen und hohem Wohlstandsniveau eine der energieeffizientesten und umweltschonendsten Volkswirtschaften der Welt werden«. Das heißt: die eierlegende Wollmilchsau in Grün.

Aber das ist nur der Anfang. Denn in Wirklichkeit bedeutet »Energiewende« viel mehr. Sie setzt klammheimlich um, was früher unter dem Begriff »ökologischer Umbau der Industriegesellschaft« vor allem von Umweltschützern propagiert wurde – und was als panische Angst vor angeblich ruinösen Ökosteuern, neuen Grenzwerten und öko-diktatorischer Gängelung des deutschen Autofahrers und Häuslebauers breiten Widerstand erzeugte. Denn unsere Industrie, unser Wohnen, unser Verkehr, unsere Landwirtschaft und unser Freizeitverhalten sind bislang auf billige und jederzeit verfügbare fossile Energie ausgelegt und angewiesen. Damit macht die Energiewende Schluss: Der Strom fließt in Zukunft nicht mehr einfach aus der Steckdose, sondern vom eigenen Dach. Er wird wertvoller sein als heute, und wir werden beim Umgang mit Energie immer mehr handeln wie im Elektronikmarkt: Geiz ist geil!

Denn ein zentraler Baustein der Energiewende, wie sie die Bundesregierung plant, ist das Energiesparen: Vor allem alte Häuser müssen saniert werden, und zwar deutlich schneller und effizienter als heute. Bis 2050 sollen wir nur noch die Hälfte des Stroms verbrauchen, den wir heute durch die Leitungen schicken. »Die Vorstellung, einfach die AKWs abzuschalten, ihre Leistung durch Windkraft zu ersetzen und ansonsten so weiterzumachen wie bisher, ist absurd«, sagt etwa Stephan Kohler, der Chef der dena.

Zur Energiewende gehört ebenfalls, dass auch die Kohle als Energieträger aus Deutschland größtenteils verschwinden soll. Schon heute sind unter den Bedingungen des Emissionshandels die Braunkohlekraftwerke trotz ihres extrem billigen Brennstoffs an der Grenze der Rentabilität. Je teurer die Emissionen werden, desto eher verschwindet die Kohle als dreckigster Energieträger vom Markt. Und die deutschen Klimaziele werden – immer nach dem Plan der Bundesregierung – weiter anziehen: Denn bis 2050 soll Deutschland seinen Ausstoß des Treibhausgases Kohlendioxid auf nur noch fünf bis zehn Prozent seines Wertes von 1990 drosseln. Rechnet man ein, dass aus der Landwirtschaft, dem Verkehr oder bestimmten Industrieprozessen zwangsläufig Treibhausgase abgegeben werden, heißt das: Null Toleranz für die Emissionen aus den Kraftwerken! Stromwechsel total!

Klingt ambitioniert. Ist es auch. Denn diese Operation am offenen Herzen eines Wohlstandslandes hat bisher noch niemand gewagt. Kein anderes Industrieland, dessen Fabriken, Krankenhäuser oder Zugverbindungen auf bezahlbare und sichere Stromversorgung angewiesen sind, hat beschlossen, sowohl auf die Nutzung von Atom als auch auf Kohle zu verzichten. Doch der deutsche Sonderweg ist nur die konsequente Umsetzung der Verpflichtung, die die Industriestaaten im Angesicht des immer schnelleren Klimawandels eingegangen sind: Der Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur sei demnach auf zwei Grad Celsius zu begrenzen. Nimmt man das ernst, bedeutet es, dass bis 2050 nur noch 750 Milliarden Tonnen CO2 weltweit emittiert werden dürfen – bei derzeit knapp 35 Milliarden Tonnen jährlich. Rechnet man diese Summe auf die Weltbevölkerung herunter und rechnet man dazu, wie viel die Industriestaaten in den vergangenen Jahrzehnten schon ausgestoßen haben, kommt man zwangsläufig zu den drastischen Reduzierungen, die wir Deutschen jetzt planen.

Die deutsche Energiewende hat noch einen anderen internationalen Aspekt: Weltweit steht das Mutterland von Siemens, Mercedes und RWE unter verschärfter Beobachtung. Vor allem Schwellenländer wie China beobachten fasziniert, ob die grünen Deutschen ihre hochgesteckten Ziele erreichen. Und auch wenn die deutschen Erfolge im Klimaschutz – minus 25 Prozent seit 1990 und auf dem Weg, minus 40 bis 2020 zu erreichen – zu großen Teilen darauf beruhen, dass die CO2-intensive Industrie der DDR nach der Wiedervereinigung zusammengebrochen ist und dass energieintensive Industriezweige verlagert wurden: Mit Deutschland steht oder fällt der Versuch, aus grüner Technik soviel Gewinn zu schlagen, dass sich die massiven Investitionen in den Umbau einer ganzen Volkswirtschaft bezahlt machen.

Deutschland steht also wieder mal vor einer Wende. Aber diesmal soll sie gelingen. Das war in der Vergangenheit nicht immer der Fall. Die »geistig-moralische Wende«, die Helmut Kohl 1983 ausrief, führte zum Abbau des Wohlfahrtsstaats, zur völligen ökonomischen Liberalisierung und zum Siegeszug des Neoliberalismus, der auch konservative Werte wie Ehrlichkeit, Verlässlichkeit, Familienglück und Bewahrung der Schöpfung spätestens in der Finanzkrise seit 2008 ruinierte. Die Wende in der DDR führte zum Ende des totalitären Sozialismus auf deutschem Boden, zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Teilstaaten und ungewollt durch den Bankrott der maroden DDR-Industrie zum effektivsten Umweltschutzprogramm in der deutschen Geschichte. Die »Agrarwende« nach dem BSE-Skandal Ende 2000 wurde nur in kleinen Ansätzen verwirklicht, weil gegen die Interessen der Landwirtschaftskonzerne nicht anzukommen war. Und die »Verkehrswende« steht nach wie vor im Stau.

Deutschland, einig Ökoland?

Die Energiewende soll anders sein, und vielleicht ist sie es auch: Selten gab es einen so großen Konsens im Land. Normalerweise sind wir Deutschen nur bei einer Fußball-WM so einig wie jetzt bei der Energiewende: Schon sehr lange gibt es in Umfragen eine stabile Mehrheit gegen die Atomkraft, auch die Mehrkosten für die Erneuerbaren werden relativ klaglos hingenommen. Das haben nun unter dem Schock von Fukushima auch die letzten Politikerinnen und Politiker registriert: Von PDS bis CSU sehen wir keine Parteien mehr, sondern nur noch selbsternannte Umweltschützer: Alle wollen inzwischen die Nutzung der Atomkraft beenden und erwarten die Zukunft von den Erneuerbaren. Anders als in anderen Staaten wie etwa Frankreich oder den USA gibt es keine gesellschaftlich relevanten Gruppen, die die Notwendigkeit des Klimaschutzes leugnen oder so eng mit der Regierung verfilzt sind, dass sie deren Energiekurs auf Atom und Kohle einschwören.

Deutschland, einig Ökoland. Schnell wird da vergessen, dass der radikale Schwenk der schwarz-gelben Regierungskoalition von 2011 tatsächlich nur die alten Zustände wieder hergestellt hat: Was jetzt als Energiewende gilt, entspricht fast genau dem rot-grünen Atomausstieg von 2000, den Schwarz-Gelb 2010 kassierte. Um Wahlversprechen einzulösen, garantierte die Regierung Merkel den deutschen Stromkonzernen milliardenschwere Zusatzgewinne. Genau auf dieses Szenario hatten die vier Atomkonzerne E.ON, RWE, Vattenfall und EnBW gesetzt, als sie (beziehungsweise ihre Vorgängerfirmen) sich mit der rot-grünen Regierung unter Kanzler Gerhard Schröder auf den »Ausstieg im Konsens« geeinigt hatten.

Merkels Plan sah vor, den Stromkonzernen zwölf zusätzliche Jahre an satten Profiten zu schenken. Offiziell hieß es, die AKWs, mit denen die Konzerne pro Meiler etwa eine Million Euro pro Betriebstag verdienen, seien die »Brücke in das Zeitalter der Erneuerbaren«. Kein halbes Jahr nach den Laufzeitverlängerungen stürzte diese Brücke am 12. März 2011 um 15:36 Uhr Ortszeit im japanischen Atomkraftwerk Fukushima Daiichi krachend zusammen. Die Explosion im Reaktorblock 1 war nur der Anfang vom Ende der deutschen Atomkraftwerke. In den Tagen darauf gerieten auch die anderen beiden Reaktoren in Fukushima außer Kontrolle, schmolzen die Sicherheitsbehälter durch und verseuchten die Umgebung weiträumig. Monate nach der Katastrophe sind die Reaktoren immer noch nicht unter Kontrolle und Schätzungen gehen davon aus, dass es dafür auch noch Jahrzehnte brauchen wird.

Den schwersten Kollateralschaden richtete die Havarie von Fukushima in Berlin an: Die Bundeskanzlerin und Physikerin Angela Merkel änderte in der Atomfrage und unter dem Druck von anstehenden Landtagswahlen ihre atomfreundliche Haltung. Ob Merkel und ihr Umweltminister Norbert Röttgen tatsächlich, wie behauptet, erst in Fukushima erkannt hatten, dass das Restrisiko der Atomkraft auch in einem Hightechland nicht tragbar sei, oder ob sie auf den Anti-Atom-Schock der Bevölkerung reagierten, ist letztlich egal. Tatsache ist: Die Sponsoren der Atomkraft verwandelten sich über Nacht zu ihren Insolvenzverwaltern.

So deutlich der Schwenk in der Atomfrage war, so wenig veränderte der neue Kurs die Zielvorgaben für den Ausbau der erneuerbaren Energien: Die Ziele für Wind, Sonne und Biomasse unter der »Energiewende« stammen noch aus dem Energiekonzept der Bundesregierung vom Herbst 2010. Neu ist vor allem eines: Die Bundesregierung nimmt ihre eigenen Ziele jetzt tatsächlich ernst.

Dass mit dem Ausstieg vom Ausstieg vom Atomausstieg der Regierung Merkel das letzte wirklich inhaltliche Hindernis für eine schwarz-grüne Regierungskoalition im Bund verschwunden ist, spielt nur eine Nebenrolle. Aber hinter all dem Theaterdonner der politischen Debatte rund um die Energiewende verschwindet fast das Wesentliche – die Kontinuität der deutschen Energiepolitik bei Erneuerbaren: Begonnen mit dem »Stromeinspeisegesetz« noch unter der schwarz-gelben Regierung von Helmut Kohl, wurde der Ausbau durch das rot-grüne »Erneuerbare Energien Gesetz« (EEG) forciert und dann weder unter der großen Koalition noch unter der christlich-liberalen Regierung von Angela Merkel gekappt. Deren Energiewende beruht auf der 20-jährigen, parteiübergreifenden Vorarbeit der Bundesregierungen und etlichen Parlamentsabgeordneten.

Tatsächlich geht der massive Zubau der erneuerbaren Energien durch das EEG zurück auf eine Art Graswurzelbewegung: Geschrieben wurde das Gesetz nicht wie üblich von Ministerien, sondern von Abgeordneten und der aufkeimenden Branche der Erneuerbaren. Ohnehin hat die Energiewende sehr viele Mütter und Väter, angefangen bei der Generation der Energiewende-Autoren vom Öko-Institut. Die Aktivisten der Anti-AKW-Bewegung protestierten nicht nur am Zaun von Brokdorf oder gegen die WAA in Wackersdorf. Sie arbeiteten an alternativen Energien, setzten sie um und tüftelten Verbesserungen aus. Sie studierten BWL, Energietechnik oder Jura, gründeten Unternehmen, produzierten Windanlagen und Solarpaneele, hatten Erfolg, gingen Pleite, wurden Millionäre oder Ministerialbeamte. Sie agitierten in Hochschulen, organisierten über Jahrzehnte den Widerstand gegen AKWs und Castortransporte. Sie ließen sich in Parlamente wählen, versammelten sich zu Lobbygruppen und machten den Stromkonzernen das Leben schwer und den Erneuerbaren den Weg frei. Jahrelang trugen sie die »Atomkraft? Nein Danke«-Buttons erst am Parka, dann am Sakko, bis sie 2010 ihre Enkel mit »Atomkraft? Nicht schon wieder«-Aufklebern auf die Demo gegen die Laufzeiten begleiteten. Alle diese Überzeugungstäter in Schulen, Firmen, Kirchen, Gewerkschaften und Stadtquartieren bereiteten über 30 Jahre den Boden für die Energiewende von 2011. Wenn die Demokratie vom Mitmachen lebt, dann die Energiedemokratie erst recht.

Diese Bürgerbewegung war über Jahrzehnte hinweg klug genug, sich Verbündete zu schaffen. Der Aufstieg der Windund Solarunternehmen aus den Garagenfirmen langhaariger Technikfreaks zu kreuzbraven mittelständischen Betrieben legte eine ökonomische Basis und schuf eine politische Lobby bis weit hinein ins bürgerliche Lager. Die Vorteile für Bauern durch Verpachtung von Land für Windräder oder Zusatzgewinne als »Energiewirte« hatten einen ähnlichen Effekt. Die finanzielle Förderung von »Grubengas« (Methan) durch das Gesetz für die erneuerbaren Energien (EEG) sicherte etwa die Unterstützung des »Kohleflügels« der SPD für ein Gesetz, das tendenziell ihren Interessen widersprach. Zum positiven Image der erneuerbaren Energien als Technik für den Umweltschutz kam auch das wirtschaftliche Element als Jobmotor, Wachstumsgarant und Exportschlager.

Nun, am Beginn der wirklichen Energiewende, treten neue Interessengegensätze auf: Nicht alles, was »erneuerbar« heißt, muss auch gefördert werden. Nicht jede Firma, die grüne Energie erzeugt, verdient sich das Image als Retter der Welt.

Ein historischer Schritt und eine Reise mit unbekanntem Ziel

Donnerstag, 30. Juni 2011, 12:18 Uhr, Deutscher Bundestag in Berlin: Mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP, SPD und Grünen beschließen die Abgeordneten die Novelle des Atomgesetzes. Nach »mindestens 30-jähriger, kontroverser, zum Teil unversöhnlicher Debatte« werde nun ein Konsens besiegelt, sagt Umweltminister Röttgen vor dem Parlament. Ein historischer Tag. Denn die allgemeine Stimmung in Deutschland ist: Wir haben die Energiewende geschafft! Thema abgehakt!

Die Erleichterung über den Friedensschluss im 30-jährigen Atomkrieg ist verständlich. Aber die Ansicht, die Energiewende sei geschafft, ist ein grandioser Irrtum. Sie hat gerade erst begonnen! Die Oligopole der Stromkonzerne sind ins Rutschen geraten, aber keiner weiß, wo die Reise hingehen wird. Die Stadtwerke und die Investoren in erneuerbare Energien werden immer stärker, aber niemand kann sagen, wohin sie sich entwickeln. Die Windräder, Solarpaneele und Biogasanlagen schießen wie Pilze aus dem Boden, doch kaum jemand kann sagen, wie daraus eine flächendeckende zukunftsfähige Stromversorgung werden soll – von der Energie für Wärme und für Verkehr ganz zu schweigen.

Diese Unsicherheit ist ungewohnt. In der deutschen Stromlandschaft waren bisher immer die Karten übersichtlich verteilt. Seit die Nazis 1935 zur »Wehrhaftmachung« der deutschen Industrie die kleinen Stromanbieter zu mächtigen Konzernen zusammenfassten, war big immer beautiful. Über Jahrzehnte herrschten die Stromunternehmen in ihrem jeweiligen Monopolgebiet als praktisch unumschränkte Herrscher über Preise und Kunden. Die Konzerne waren teilweise in Staatsbesitz und sind oft bis heute mit der Politik über Anteile der Kommunen und Aufsichtsratsposten für Bürgermeister und Minister eng verflochten. Dass ein Bundeswirtschaftsminister Werner Müller vom Energiekonzern Veba kam, um mit seinen ehemaligen Kollegen für die Bundesregierung über den Atomausstieg zu verhandeln, oder ein Experte wie Gerald Hennenhöfer erst im Bundesumweltministerium die Abteilung Reaktorsicherheit führte, dann zum Atomkonzern E.ON wechselte und schließlich unter der schwarz-gelben Regierung wieder auf seinen alten Posten im Umweltministerium zurückkehrte, ist da nur die Spitze des Eisbergs.

Auch die Liberalisierung des Strommarktes hat die Situation nicht wirklich verändert. Denn Rot-Grün verabschiedete nicht nur das EEG und züchtete damit langsam die Konkurrenz für die großen Vier heran, die jetzt E.ON, RWE, EnBW und Vattenfall heißen. Gleichzeitig setzte bisher noch jede deutsche Regierung auf die Stärkung der großen Unternehmen, die sich als »nationale Champions« auf dem EU-Binnenmarkt etwa gegen Staatskonzerne wie das französische EDF behaupten sollten. Außerdem verzichteten die Bundesregierungen lange darauf, den Wettbewerb auf dem Markt durch eine wirklich effektive Regulierungsbehörde zu sichern. Im Effekt bestreiten heute die Konzerne zusammen immer noch etwa 80 Prozent der deutschen Stromproduktion.

Die deutsche Energiewirtschaft ist also Unsicherheit und Bewegung nur eingeschränkt gewöhnt. Die aber wird es in Zukunft reichlich geben. Wenn Politik und Wirtschaft in Zeiten der Wirtschaftskrise »auf Sicht fahren«, wie es CDU-Finanzminister Wolfgang Schäuble formuliert hat, gilt das umso mehr für Politik und Investitionen in Zeiten der Energiewende. Zwar müssen Entscheidungen für Investitionen langfristig getroffen werden, aber wie genau sich die Energiepolitik in den nächsten Jahrzehnten entwickeln wird, ist offen: Setzen sich Großprojekte wie Desertec – der ehrgeizige Plan, Europa mit Solarstrom aus der Sahara zu versorgen – durch? Konzentrieren sich die Großkonzerne eher auf das Geschäft außerhalb Deutschlands? Wie koordinieren sich Stadt- und Bürgerwerke bei der Energieerzeugung? Zunehmend wird auch im Bereich der Energiepolitik zutreffen, was bislang schon in der Finanzkrise oder der Klimakrise gilt: Entscheidungen müssen in einem Umfeld der Unsicherheit getroffen werden.

Für die Energiewende ist das nicht unbedingt ein schlechtes Zeichen. Ihre Protagonisten haben sich in Jahrzehnten daran gewöhnt, flexibel zu reagieren, sie haben das Votum der Bevölkerung hinter sich und eine starke Industrie an ihrer Seite. Wie das Abenteuer »deutsche Energiewende« allerdings ausgeht, ist offen. Schließlich wissen die ältesten Experten beim Umgang mit erneuerbaren Energien – die Segler – genau: Eine Wende ist eine Drehung gegen den Wind, mit hohem Risiko und unter vollen Segeln. Dabei gibt es Turbulenzen, und das Boot kann kentern. Es kann aber auch richtig Schwung holen.

2  Das intelligente Stromnetz kommt – mit Pionieren und Problemen

Ohne die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 wäre Jörg Müllers Leben anders verlaufen. Als Auslandsstudent der DDR lernte der damals 22-Jährige in der sowjetischen Hauptstadt Atomkraftwerkstechnik. Spannend in jeder Hinsicht: »Ich war heilfroh, aus Deutschland rauszukommen. In Moskau herrschte eine Art revolutionärer Stimmung. Die Leute begannen gerade, über alles zu reden, den Stalinismus, die Lager«, sagt Müller. Gorbatschows Öffnung war im Gange, die Perestroika.

Für Juni 1986 stand auf Müllers Ausbildungsplan ein Praktikum im Kernkraftwerk Tschernobyl. Dazu kam es nicht mehr. Im April jenes Jahres havarierte die Anlage und machte ein riesiges Gebiet unbewohnbar. Aus Angst vor den Strahlen verboten Mütter und Väter in Westeuropa ihren Kindern, auf die Straße zu gehen, wenn es regnete.

Noch 25 Jahre später ist Müller die Verstörung anzumerken, die die Explosion bei ihm auslöste. »Es galt doch das Weltbild, der Mensch ist die Krone der Schöpfung, alles ist beherrschbar.« War (und ist) es aber nicht. Als Physiker und Spezialist für Atomtechnologie kann Müller bestens erklären, wie die Katastrophe ablief. Einfach gesagt: Das Atomkraftwerk war neu und in gutem Zustand. Aber die Bedienungsmannschaft hat jede Menge blöder Fehler gemacht und Sicherheitsmechanismen außer Kraft gesetzt, um mit dem Reaktor ein Experiment zu veranstalten. Früher hatte das funktioniert, diesmal aber nicht. Im Reaktorkern kam es zu einer Wasserdampfexplosion, der Graphitblock, in dem die Brennelemente steckten, fing Feuer. Der Brand verteilte das radioaktive Inventar in die Umgebung und über den Kontinent.

Heute ist Müller Unternehmer für erneuerbare Energien. »Klein-Sibirien« nennt er seinen Landstrich in der Uckermark. An diesem Dienstag Ende Oktober 2011 ist es schon erstaunlich kalt. Der Wind pfeift über das weite, flache Land. Gut für Müllers Firma Enertrag: Seine Windräder drehen sich im Akkord. Aber Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck friert. Ohne Mantel posiert er vor dem Gebäude, das die Zukunft der Energieversorgung beherbergt. Die Fotografen sollen sich beeilen. »Ein Quantensprung«, lobt Platzeck. Dann drückt er den symbolischen Anschaltknopf und eröffnet das Wind-Wasserstoff-Hybridkraftwerk, das Enertrag beim Städtchen Prenzlau, anderthalb Zugstunden nördlich von Berlin, errichtet hat.

Mit dieser Anlage sind Unternehmen und Land ziemlich weit vorne. Hybridkraftwerke gibt es bislang kaum. Das Kraftwerk produziert zwar ganz normal Ökostrom mittels Windrädern, aber der besondere Trick ist die Speicherung der Energie in Form von Wasserstoff. Mit dieser Technik können die umweltfreundlichen Energien endgültig zur Konkurrenz für den permanent verfügbaren Strom aus zentralen Atom-, Kohleund Gaskraftwerken werden.

Kein Einzelteil des Kraftwerkes ist eine neue Erfindung, aber die Kombination der verschiedenen Elemente ergibt eine innovative Anlage. Sie steht am Rande einer einspurigen Asphaltstraße, die eine leichte Erhebung überspannt. Rundum geht der Blick in die Ebene bis zum Horizont: riesige Felder und Äcker, Dutzende Windmühlen in kilometerlangen Reihen – teilweise entlang der Autobahn, die vorbei am pommerschen Pasewalk hoch zur Ostseeinsel Usedom führt. Für die Ackerfrüchte der umgebenden Industrielandwirtschaft sind die drei Silos da, jeder mit einem Durchmesser von gut 21 Metern. In ihnen vergärt beispielsweise Mais, wodurch Biogas entsteht.

Am Fuße eines kleinen Abhangs ist in einer acht Meter hohen Halle der Elektrolyseur untergebracht. Diese Maschine nutzt den Strom, den die umgebenden Windanlagen liefern, um im elektrochemischen Verfahren der Elektrolyse Wasser in Sauerstoff und Wasserstoff zu spalten. In Dutzenden durchsichtigen Leitungen zu beiden Seiten des vier Meter hohen Wunderapparates blubbert das Gas – links O2, rechts H2.

Den Wasserstoff speichert die Firma dann in drei großen weißen Tanks vor dem Gebäude. Dort wartet das energiehaltige Gas auf seine Weiterverwendung. Zum einen liefert Enertrag den Wasserstoff an den französischen Ölkonzern Total, der ihn an mehreren Tankstellen in Berlin und Brandenburg als umweltfreundlichen Treibstoff für Autos verkaufen will. Und zum anderen kann der Wasserstoff – gemischt mit Biogas aus den Silos – im Blockheizkraftwerk, das die Anlage ergänzt, verbrannt werden. Dadurch entsteht wieder Strom, gleichzeitig aber auch Wärme für Heizungen.

Gut drei der insgesamt neun Millionen Euro für das Wasserstoffkraftwerk hat Enertrag selbst finanziert. Hinzu kamen vier Millionen öffentliche Fördergelder und Beiträge von Total, vom Energiekonzern Vattenfall und der Deutschen Bahn AG. Die Konzerne klinken sich ein, weil sie den Anschluss an die Innovationen bei den erneuerbaren Energien nicht verpassen wollen. Denn Vattenfall und die anderen Energiekonzerne wissen um die revolutionäre Bedeutung des Hybridverfahrens. Dieses könnte ihren großen Kohle- und Gaskraftwerken langfristig die Existenzgrundlage entziehen.

Der entscheidende Punkt ist die Speicherung des Ökostroms. Bis heute haben die Ökoenergien einen wichtigen Nachteil: Wegen der Abhängigkeit vom Wetter steht Wind- und Solarstrom manchmal im Überfluss zur Verfügung, manchmal aber bleibt er völlig aus. »Die Diskontinuität ist eine gravierende Schwäche«, sagt Ministerpräsident Platzeck bei der Eröffnung. Bisher können solche Schwankungen nur die großen, zentralen Grundlastkraftwerke der Konzerne ausgleichen. Die laufen quasi permanent und spülen Milliarden in die Kassen der Unternehmen. Speichert man jedoch den Ökostrom, braucht man irgendwann vielleicht kaum noch Grundlastkraftwerke. Die großen Energiekonzerne wären quasi überflüssig.

Enertrag-Hauptaktionär Müller bezeichnet die Stromspeicherung als »archimedischen Punkt«, an dem man den Hebel ansetzen müsse. Auch mit erneuerbaren Energien könne man künftig »vollwertige, bedarfsgerechte Kraftwerke« betreiben, so Müller.

Von der Planwirtschaft zur Energiewende