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HEINZ EMMENEGGER
MESSER SIEBEN

ROMAN

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Für Delia, Vera und Louisa

Messer Sieben fehlt. Schwegler bemerkt es morgens um sechs vor neun, kurz vor dem Aufschließen. Messer Sieben ist Schweglers meistbenutztes Messer. Mit Messer Sieben filetiert er. Mit Messer Sieben schneidet er Stücke. Messer Sieben ist Schweglers dritte Hand. Messer Sieben fehlt und Schwegler ahnt Schlimmes. Messer Sieben ist immer ordentlich aufgehängt gewesen zwischen Messer Sechs und Messer Acht. Nie hätte Schwegler Messer Sieben verlegt. Messer Sieben ist entwendet worden, heimlich, nächtens, böswillig, unheilig. Messer Sieben ist vom Unheil befallen worden, ist wankelmütig gemacht worden, ist Schwegler entwendet worden, hat sich von Schwegler abgewendet. Es wird sich vielleicht nie weisen, was Schein daran ist. Niemand ist unschuldig, auch Messer Sieben nicht, schon gar nicht Messer Sieben, auch wenn es nie getötet hat, nur filetiert und Stücke geschnitten. Es hat genug Schuld auf sich geladen, um sich das Blut auf seiner Haut jeden Abend von Schwegler wegmachen zu lassen und dann zu den anderen Messern gehängt zu werden, wo es hing, die ganze Nacht hindurch.

Messer Sieben ist auf Abwegen. Messer Sieben entdeckt seine wahre und tiefste Schuld, seine Schneidigkeit, seine Entschlusskraft, seine Gabe, messerscharf zu analysieren. Messer Sieben wird sich in einen Fall verwickeln.

Schwegler weiß das sofort und sein eigenes Blut sackt ihm ab vor Schreck. »Messer Sieben«, denkt er, »Messer Sieben«, spricht er, »was hast du vor?« Schwegler sieht im Geiste Frau Meier in ihrem Blute liegen, Messer Sieben daneben. Ausgerechnet Frau Meier, seine treueste Kundin, nicht seine beste, aber seine treueste, seine PR-Frau.

Schwegler wagt es nicht, auch Pfister, ebendiesen besten Kunden, in dessen Blut liegen zu sehen, Messer Sieben daneben. Nein, das kann er sich nicht vorstellen. Warum bloß? »Warum bloß stelle ich mir Frau Meier in ihrem Blut vor?«, fragt er sich und schämt sich derart, dass er hochschauen muss und sein Blick auf der Straße der noch lebenden Frau Meier gewahr wird, die treu und pünktlich um neun ihre kleine Portion tägliches Frischfleisch abzuholen gedenkt. Schweglers Blut schießt wieder hoch bis in den seit Generationen vererbten Metzgerkopf. Da oben peinigt es ihn, in guter Absicht zwar, in erleichternder Absicht über Frau Meiers fesches Witwenleben, aber Schweglers Schädel hält es auf und Schweglers gesundes Gewicht ihn selbst nieder.

»Morgen, Herr Schwegler, frisch sehen Sie aus.«

Schwegler lächelt, die Tür ist offen gewesen, Frau Meier eingetreten. Wer nur hat die Tür aufgeschlossen? Wohl der Dieb von Messer Sieben, der Verführer von Messer Sieben?

»Morgen, Frau Meier. Hab heut wieder mal kalt geduscht. Etwas schlecht geschlafen, morgens eine kalte Dusche und sofort ist man hellwach. Was darf’s denn sein?«

»Heute hab ich Besuch, mein Sohn kommt mit Familie vorbei. Ich hab an einen Kalbsbraten gedacht.«

»Drei Jungen hat er?«

»Ja.«

»Na, eineinhalb, dann gibt’s für Sie morgen noch was.«

»Ja ja.«

»Eigentlich wär die Kalbsbratenaktion ja für morgen gedacht. Aber ich ziehe das für Sie etwas vor und geb’s Ihnen heut schon günstiger.«

»Aber Herr Schwegler.«

»Das ist richtig so. Gute Kundschaft mag der Metzger.«

Schwegler nimmt Messer Acht zur Hand und schneidet den Braten derart, dass in etwa noch das richtige Stück für Herrn Berchtold übrig bleibt, der um zehn sein wöchentliches Stück Kalbsbraten zum Alleinessen abholen wird, und denkt dabei, dass Herr Berchtold und Frau Meier hervorragend zusammenpassen würden, wenn sie sich nur erst kennenlernen könnten, hier bei Schwegler, was durch Herrn Berchtolds und Frau Meiers sturen Einkaufsplan bis jetzt nie zustande gekommen ist. Vor allem aber denkt Schwegler an Messer Sieben, das einfach ideal ist für alle Arbeiten. Schwegler würde am liebsten alles mit Messer Sieben machen, sogar das Ausbeinen, auch wenn Messer Vier da um einiges praktischer ist. Messer Sieben liegt ihm am Herzen, denkt er und muss schmunzeln.

»Sie schmunzeln so, Herr Schwegler, das tut Ihnen wirklich gut, diese kalte Dusche. Und dann geben Sie mir noch ein Herz für den Hund.«

»Kennen Sie eigentlich den Herrn Berchtold?«, muss Schwegler fragen.

»Den Herrn Berchtold? … Also, nein.«

»Der Herr Berchtold kommt immer genau eine Stunde nach Ihnen zu mir. Das ist mir jetzt grad wieder mal aufgefallen.«

»Ah ja, so.«

»Also meine Uhr könnte ich zumindest vormittags verschenken. Kommt Frau Meier, muss der Laden offen sein. Kommt Herr Berchtold, ist schon ein Viertel um, dann um Mittag kommen die Mittagskunden, die noch rasch was haben müssen und lange überlegen, was es denn sein soll. Gegen eins wird’s ruhig und der Laden schließt sich beinahe von alleine.«

»Schon schön, so eine Metzgerei, Herr Schwegler. Und ich muss Ihnen doch wieder mal ein Kompliment machen. Wie Sie alles so hübsch herrichten. Gute Ware haben Sie sowieso. Das weiß offenbar nicht nur ich zu schätzen, zumindest Herr Berchtold scheint da gleicher Ansicht zu sein. Den werd ich also nie sehen. Da würd ich Ihren morgendlichen Fahrplan ja ganz durcheinanderbringen. Sie laden mir da richtig Verantwortung auf.«

»So war das natürlich nicht gemeint. Nein, nein. Kommen Sie ruhig mal um zehn. Genau, kommen Sie morgen um zehn vorbei. Neugierig sind Sie doch.«

»Also Herr Schwegler, Sie sind mir einer. Aber es stimmt schon, bin schon neugierig.«

Frau Meier rötet sich. Schwegler lächelt etwas süßsäuerlich, das ist nun doch ein bisschen gewagt gewesen, der Kundschaft gegenüber. Frau Meier aber hat es geschluckt und Schwegler inzwischen Braten für Frauchen und Herz für den Hund schön eingepackt.

»Wissen Sie, Frau Meier, manchmal überlege ich mir, eine kleine Apéro-Bar einzurichten. Da drüben hätte es noch Platz.«

Wieder errötet Frau Meier. »Ja also, Sie sprühen ja vor Ideen, Herr Schwegler, da müsst ich denn doch meine Einkaufspläne etwas revidieren.«

»Sind nur Ideen. Aber Sie fänden es eine gute Idee?«

»Doch doch, aber grad um fünf ist doch gar viel los. So eine Apéro-Bar öffnet doch um fünf?«

»Genau, aber so würde es sich vielleicht rentieren, eine Hilfe einzustellen, die mir hinter der Theke zur Hand geht und die Weißweine serviert.«

»Ah ja, stimmt eigentlich.«

»Wissen Sie, Frau Meier, das wär nichts Großes. Etwas Weißen, etwas Rohschinken, etwas Tartar, so in der Art.«

»Schön, ja.«

»Sechsundzwanzigvierzig.«

»Hier bitte.«

»Danke.«

»Hin und wieder muss man etwas Abwechslung ins Leben bringen, siebenundzwanzig, dreißig, fünfzig.«

»Das wird toll, Herr Schwegler. Dann morgen mal um zehn.«

»Ich wünsch Ihnen einen schönen Tag, Frau Meier.«

»Danke, ich Ihnen auch.«

Frau Meier entschwindet aufgewühlt und ohne zurückzuschauen. Schwegler hält die Tür lange offen und denkt sich: »Eigentlich noch gut erhalten, zwar einiges älter als ich, aber gut erhalten.« Schwegler erinnert sich an das Gartenfest in Pfisters Garten, als Frau Meier kurz rüberkam und fantastisch tanzte. »Eigentlich eine tolle Frau.« Und Schwegler stellt sich vor, wie sie Herrn Berchtold küsst, diesen etwas dürren und verschmitzten Mann, der nun immer älter wird und sicher froh wäre um etwas Hilfe von Frau Meier, die noch fesch genug ist, um auch Schwegler einiges zu bieten, wenn er sich wieder etwas optimistischer selbst betrachten darf, und eigentlich darf er das, schon im Vergleich mit den anderen Waschlappen in seinem Alter, außer Pfister, ein toller Kerl, etwas jünger, aber ruhig, irgendwie angenehm ruhig und eine zufriedene Frau zu Hause, im Gegensatz zu ihm, Schwegler, dessen Frau hat flüchten müssen, die er in die Flucht geschlagen hat, einfach unerträglich gefunden hat. Aber jetzt wär er vielleicht langsam wieder reif für so eine Frau, so eine mit etwas Pepp. Eine, die ein Messer führen kann, dass es schön ist, zuzuschauen. So was hatte seine Exfrau nie gekonnt, daran hatte er sich als Erstes und Letztes gestoßen, geschnitten eigentlich, dieses unschöne Führen des Messers hatte Schweglers Schönheitssinn arg verletzt, immer wieder, das war es gewesen, nicht zuletzt darum hatte er sie verstoßen, grauenhaft. Messer Sieben, hat etwa Marie-Louise, seine Exfrau, Messer Sieben entführt?

Messer Sieben denkt sich auch seinen Teil. Es liegt da, blutbesudelt, und fühlt sich stumpf und matt, auch etwas schwerer als geputzt und aufgehängt neben Messer Sechs und Acht. Messer Sieben ist es nicht gewohnt, so lange ungeputzt und ungenutzt im Blut herumzuliegen. Messer Sieben bereut. Es bereut etwas, das ihm noch nicht so ganz klar erscheinen will, nicht verwunderlich in dem blutverschmierten, herumliegenden Zustand. Die Ungewissheit über das Ende ebendieses Zustandes ist Messer Sieben nicht gut bekommen. Es ist es gewohnt, blutbeschmiert herumzuliegen, aber Schwegler regelt immer wieder alles, reinigt Messer Sieben für die nächste Kundschaft oder dann fürs gesellige Hängen über Nacht. Nun aber ist nichts gewiss. Im übelsten Fall würde Messer Sieben über Jahre blutbesudelt, später von eisenhaltigen Blutkrusten maseriert, hier herumliegen. Die anderen Fälle waren auch nicht eben erfreulich, und Messer Sieben will nicht daran denken oder kann es nicht, weil es zu wenig Erfahrung außerhalb der schweglerschen Welt hat oder schlicht etwas beschränkt ist, das darf man hier sicher gefahrlos sagen, wo kämen wir hin, würde so ein Messer uns verstehen, aber bleiben wir trotzdem vorsichtig und schließen nichts aus. Also, Augen auf.

Solche offenen Augen hat zum Beispiel Herr Kummer. Herr Kummer bewohnt ein zwei Zimmer großes Appartement, von dessen Wohnzimmer aus er rechter Hand Schweglers Metzgerei sieht, die er noch nie betreten hat, da Vegetarier seit seinem fünfundzwanzigsten Geburtstag vor dreiundvierzig Jahren, und linker Hand die Vierzimmerwohnung von Herrn Berchtold, mit dem er hin und wieder ein paar Worte wechselt, zum Beispiel beim Gang zum Gemüsemarkt, wo Herr Berchtold ihm auf dessen eigenem Gang zu Schwegler um zehn Uhr begegnet.

Dass Herr Berchtold jeden Tag zu Schwegler läuft, hat Herrn Kummer immer schon bedrückt, aber mit diesem Bedrücken lebt er nun seit seinem fünfundzwanzigsten Geburtstag, wenn nicht schon seit Geburt. Auch ist der Metzger Schwegler Herrn Kummer nicht etwa zuwider. Herr Kummer hat sogar schon die Bekanntschaft mit dem Metzger Schwegler gemacht, als dieser auf der Straße mit Herrn Berchtold zusammen geschwatzt hat. Herr Kummer wurde sodann dem Metzger Schwegler vorgestellt, wobei sogar zur Sprache kam, weshalb Herr Kummer nie den Laden des Herrn Schwegler aufsuche, der ihm so nahe wäre, wo doch hingegen der Gemüsemarkt zwanzig Minuten Gehzeit bedeute, was Herr Kummer, rank und schlank, natürlich nur als willkommenen Dienst an seiner Gesundheit auffasst. Herr Berchtold dagegen, obwohl ebenfalls von noch guter Konstitution, fährt immer mal gerne mit seinem in Ordnung gehaltenen Ford Granada Cabrio aus, hat Herrn Kummer sogar einmal aufgeladen, als dieser mit einem Rucksack voller Gemüse auf dem Heimweg war, was Herr Kummer immer noch etwas bereut, andererseits als Abwechslung empfunden hat, die man sich durchaus mal gönnen darf, und vor allem als Entgegenkommen gegenüber der Schwäche eines Mitmenschen.

Herr Kummer beobachtet auch immer Frau Meier um neun Uhr, da er sich zu dieser Zeit einen Tee auf dem kleinen Balkon genehmigt, falls das Wetter es erlaubt. Herr Kummer kennt auch Pfister aus dem Quartierturnverein, dem Pfister seit Neuestem angehört und in den er durch Herrn Berchtold eingeführt worden ist. Der Junge hat Herrn Kummer einen guten Eindruck gemacht, auch wenn man ihm den Fleischfresser sofort ansah.

Und Herr Kummer hat, das sei nun gesagt, wirklich Kummer. Die Welt ist ihm nicht hold, nicht gefügig, ist es immer weniger, seit verlorener jugendlicher Elan und verlorenes Engagement, überhaupt etwas verlorene Libido ihn nicht mehr unter Gleichgesinnte tragen im Kampf gegen Tierfabriken oder für Freikörperkultur und derartige Dinge.

Herr Kummer bemerkt an sich eine gewisse Isolation von der Welt, die andere mit dem Quartiermetzger besser kaschieren als Herr Kummer mit dem Gemüsehändler, der nicht im Quartier wohnt, herumfährt oder gar turnt, sondern auf dem Land lebt und Herrn Kummer leider noch nie zu sich nach Hause eingeladen hat. Herr Kummer sieht sich manchmal sogar als Opfer oder letzter Soldat in diesem ausgesprochenen Fleischfresserquartier, das im Sommer enorme Schwaden an giftiger Grillluft produziert, denen er nur ausweichen kann durch gelegentliches Campieren auf südlichen Nudistencamps, auf denen Grillen wegen akuter Waldbrandgefahr verboten ist. Oder er muss warten, bis die reinigenden Sommergewitter die Schwaden wieder aus der Luft auswaschen, bedauerlicherweise in Böden hinein, die Herrn Kummers Nahrungsbasis bilden. So muss Herr Kummer allerlei ertragen und erträgt es auch, so gut er kann.

Herr Berchtold klemmt sich die Einkaufstüte mit der lustigen Werbung des Supermarkts unter den Arm und tritt aus seinem, ihm gehörenden Mehrfamilienhaus, das vier ihm Miete zahlende Familien beherbergt. Oben rechts wohnt der Besitzer, Herr Berchtold selbst, dessen Mutter schon bei der Mutter von Metzger Schwegler ihr Fleisch einkaufte, während Schweglers Vater noch eigenhändig hinten im Schlachtraum, wo nun Schweglers Modelleisenbahn steht, Kälber, Kühe, Schweine und Schafe um deren Leben brachte. Auch Herr Berchtold holte sich als Nochjunggeselle sein Fleisch bei Schweglers Mutter ab und akzeptierte die fuglose Übernahme durch den Sohn, der doch einiges jünger war als Herr Berchtold.

Herr Berchtold schickte vorübergehend auch seine Frau zum Metzger. Nun, sie nahm es aus ihrer Sicht natürlich selber in die Hand oder wies jeweils einer ihrer zwei Töchter diese Aufgabe zu, die beide nun in einer anderen Stadt glücklich verheiratet sind und je drei Kinder aufziehen.

So kann es kommen, dass Herr Berchtold mit einem Enkelkind, vor allem mit Tobias, hin und wieder zu Metzger Schwegler geht und dessen Modellbahn betrachten darf, was ein Privileg und eigentlich fast niemandem bekannt ist, dass nämlich der Metzger Schwegler eine solche Modellbahn führt. »Sagen Sie es nicht weiter«, hat Herr Schwegler zu Herrn Berchtold gesagt, und daran hat er sich gehalten, der Herr Berchtold, der im Übrigen ein netter Vermieter ist und nun auf dem Weg zu Schwegler zum Vegetarier Kummer hochschaut, der gerade seinen Tee bei hübschem Wetter auf den kleinen Balkon trägt und da auf dem sehr kleinen Holztisch abstellt. Herr Berchtold nickt ihm zu, in der Annahme, dass Herr Kummer, da er nun die Tasse hält, die andere Hand nicht zum Gruß heben möchte, und lässt das Gestikulieren, hat er das doch viele Male schon gemacht und wird es hoffentlich noch weitere viele Male machen. Nach dem Gruß senkt er etwas beschämt den Kopf, da er nun schließlich bald da eintritt, wo Herrn Kummers Zölibat es diesem nicht zulässt, ebenfalls einzutreten, in Schweglers Metzgerei.

Als Erstes bemerkt Herr Berchtold bei diesem Eintritt in Schweglers Laden, dass Messer Sieben fehlt, und ist darob selber sehr verwundert, denn Messer Sieben hängt ja sowieso nie bei den anderen Messern, sondern liegt hinter der Theke, wo es gar noch nicht ersichtlich ist für Herrn Berchtold. Doch der Gebrauch von Messer Sechs und auch Acht anstatt Sieben und deren Liegen hinter der Theke anstatt Hängen bei den anderen Messern interpretiert Herr Berchtold so, dass Messer Sieben fehlt.

Etwas stimmt einfach nicht, so reflektiert jedenfalls Herr Berchtold und schaut erst jetzt Schwegler an, bei dem vielleicht etwas abzulesen wäre, und tatsächlich ist da eine Unruhe, versteckt und nur für einen Kenner wie Herrn Berchtold zu bemerken, eine Unruhe, die das gewöhnliche Maß an Unruhe in Schwegler drin übersteigt oder gar etwa eine neue Art von Unruhe aufzeigt, wenn man denn von Arten von Unruhen reden kann und nicht etwa nur von Arten von Objekten, die ein gewisses Maß an Unruhe zeigen, aber solches hat Herr Berchtold keine Zeit zu denken, obwohl er sich in seiner Jugend hin und wieder solches gedacht hat, im Alter aber nun doch weniger Zeit dafür findet, was ihn wiederum öfter beschäftigt, dass er nun im Alter weniger Zeit findet zu Substanz-Modus- oder Subjekt-Prädikat-Betrachtungen und dergleichen. Aber auch dieser Gedanke des Alterns beschäftigt ihn momentan kaum, das Fehlen von Messer Sieben oder zumindest der Eindruck, dass es fehle, füllt seinen Kopf ziemlich aus, und als er zwischen Realität und Einbildung des Fehlens von Messer Sieben hin- und herschwankt und deshalb gerade am Hingleiten zur Reflexion über das Obige ist, da begrüßt ihn Schwegler, den er schon so lange kennt, mit »Herr Berchtold« und zieht alle Aufmerksamkeit auf die eigentliche Sache, die Fleischschau und den anschließenden Kauf. Herr Berchtold nämlich muss das Fleisch immer lange betrachten, weiß nie im Voraus, was er zu kaufen und zu essen gedenkt, lässt sich einfach inspirieren, steht immer erst vor Schweglers Theke, lässt auch mal anderen Kunden den Vortritt, um in Ruhe die Auslage zu betrachten, die Schwegler fünf Minuten vor zehn immer besonders hübsch und interessant zurechtmacht, zum Beispiel mit einem frisch angeschnittenen, richtig appetitlichen großen Stück Entrecote oder einem Messer, normalerweise Messer Sieben, das in die entsprechende Richtung weist, heute eben in Richtung des von Schwegler vorgesehenen Kalbsbratens, wenn es denn da wäre. Herr Berchtold weiß das irgendwie und kommt immer um zehn, kommt aber auch um zehn, weil er um neun das Gefühl hat, dass erst die Kunden bedient werden müssen, denen es eilt, die tatsächlich zum Mittagessen einen niedrig gegarten Braten essen möchten, und um elf wiederum jene, die sich bald beeilen müssen, um auch schnellere Mittagsgerichte herzustellen, so kommt Herr Berchtold um zehn, denn niedrig gegarten Braten isst er sowieso nur zum Abendessen.

Herr Berchtold ist irritiert, sagt rasch: »Morgen«, und schaut sofort in die Auslage, »muss erst etwas schauen.«

Schwegler sagt: »Schauen Sie nur, komme gleich wieder.«

Zwar gibt das Herrn Berchtold ein wenig Zeit, bestärkt ihn aber in der Vermutung, dass etwas nicht stimmt mit Messer Sieben. Schwegler hat ihn vor der Auslage noch nie alleine gelassen.

So entwickeln sich in Herrn Berchtold drinnen schlimme Erinnerungen an sein Erlebnis mit einem Messer Sieben vor über vierzig Jahren, ein anderes Messer Sieben zwar, aber ein Messer Sieben aus französischer Produktion, aufgehängt in einem französischen Legionärszelt. In diesem Legionärszelt in Afrika hatte Herr Berchtold vorübergehend Dienst als Küchenhilfe zu leisten, nachdem er sich auf einer Patrouille mit anderen Legionären den Knöchel verstaucht hatte, als das Geknatter eines Maschinengewehrs die Legionäre hektisch Deckung suchen ließ, eines Maschinengewehrs, das ein anderer Legionär drei Kilometer weit weg in Gang setzte, nachdem er fremde Tuschellaute in einem Busch vernommen hatte und diesen Busch beschoss, aus großer Angst und weil er mit der schweren Waffe nicht flüchten konnte und durfte, der Busch aber gerade mal zehn Meter vor ihm emporwuchs und vielleicht jeden Moment eine Handgranate aus sich herausschleudern würde. Papageien schreckten auf, der Busch ließ die meisten Geschosse passieren, wedelte etwas und ließ auch die nachfolgende Inspektion durch einen hinbefohlenen Legionär stoisch über sich ergehen.

Was der Legionär da fand, nahm der Trupp mit ins Lager, wo auch Herr Berchtold mit seinem lädierten Knöchel schon eingetroffen und nach kurzer sanitarischer Befundung in die Küche erst zum Kühlen mit Eis und später zum Schneiden von Yams befohlen worden war. Der Fund wurde unter Gejohle angeliefert. Der Koch, ein geschundenes belgisches Waisenkind, lächelte gierig. Herr Berchtold, ein abgewiesener, noch sentimentaler Verehrer von Marta Borer aus der Himmelblaustraße, wurde bleich und fiel in Ohnmacht, dem Koch vor die Füße. Der stupste ihn mit einem Messer Sieben, das er in Bälde zu gebrauchen gedachte, derart, dass Herr Berchtold eine richtige kleine Stichwunde davontrug, ohne aber deshalb aus seiner Ohnmacht zu erwachen. Er wurde hinausgetragen, und das tote Affenpaar, das sich hinter dem Busch verlustiert hatte, aufgehängt, um vom geschundenen Koch und versierten Metzger verarbeitet zu werden.

Herr Berchtold war beileibe nicht der Einzige gewesen, dem dieses etwas kannibalische Essen nicht mundete, der schlicht nichts davon zu sich nahm. Beim ersten und letzten Veteranentreffen, das Herr Berchtold zehn Jahre später, vor seiner Frau verheimlicht, aufsuchte, traf er von den Affenessern keinen mehr, es hatte ihnen nicht gutgetan.

Herr Berchtold hätte das Zeug zum Vegetarier gehabt. Aber die Ablehnung des Fleischessens würde ihn zu stark an ebendieses Erlebnis erinnern. Herr Berchtold wollte vergessen und deshalb aß er jeden Tag Fleisch. Er wollte normal sein und er war es auch, immerhin hatte er keine verliebten Affen massakriert noch gegessen, er war selber nur ein Opfer gewesen mit kaputtem Knöchel und einer Stichwunde durch ein Messer Sieben.

Das Fehlen von Messer Sieben ängstigt Herrn Berchtold. Ein Messer Sieben hat ihn und das Affenpaar geschnitten. Messer Sieben ist in der Obhut Schweglers erträglich gewesen. Herr Berchtold vertraut Schwegler. Nun aber ist es weg, nicht aufgehängt, nicht auf dem Schneidebrett, nicht in Schweglers Hand, aber vielleicht hinten in der ehemaligen Schlachterei auf der grünen Wiese der Modellbahn, daneben, aufgehängt und bluttropfend, ein Affenpaar.

Herr Berchtold muss hochschauen, aus dem Laden heraus die Straße betrachten. Das tut gut, der Himmel blau, von wenigen kleinen Wolken behangen, das Geblätt noch frühlingsfrisch, Hausfrauen in feschem Schritt.

»So, Herr Berchtold, musste rasch nach hinten, dies hier holen, frisches Entrecote.«

»Ja, dann nehm ich doch gleich ein großes Stück, oder besser drei kleine vom Anschnitt.«

Schwegler nimmt Messer Sechs zur Hand. Herrn Berchtold schaudert es, aber er schaut sich die Kräuterbutter neben der Kasse an, während Schwegler schneidet, und sagt zu seiner Ablenkung: »Schöner Tag heute, so klar und frisch.«

»Bin heute wohl deshalb in Verzug, musste morgens noch einen kleinen Spaziergang machen.«

»Ja, ja, man weiß manchmal gar nicht recht der Freude Ausdruck zu geben an so einem schönen Tag.«

»Sie sagen’s, Herr Berchtold, unverschämt schön, so ein frischer, klarer Frühlingsmorgen. So. Darf’s noch was sein?«

»Von der Kräuterbutter da, der selbst gemachten.«

»Von Pfisters Kräuterbutter? Gern.«

»Ist das unser Pfister aus dem Quartier?«

»Genau der, Fredi heißt er.«

»Ist im Turnverein. Und der macht das privat, im Kleinen?«

»Ja, ich hab ihn angefragt, als ich mal zum Grillen da war und seine Kräuterbutter degustiert habe.«

»Ah ja, schön.«

»Achtzehnfünfzig.«

»Ja.«

»Morgen um zehn?«

»Aber sicher, ja ja.«

»Also dann, guten Appetit, Herr Berchtold.«

»Danke.«

Der vorgesehene Kalbsbraten für Herrn Berchtold, der geht vergessen, vergessen von Schwegler, vergessen von Herrn Berchtold.