Cover

Über dieses Buch:

Ein Orkan peitscht das Land. Immer verheerendere Stürme ziehen auf. Doch der Computerspezialist Dirk Gallwynd hat ganz andere Sorgen: Seine Tochter Akuyi ist verschwunden. Eine Spur führt nach Afrika. Am Ufer des Ogowe-Flusses begegnet Dirk einem alten Stamm, der hier Zuflucht gefunden hat – und einem Mann, der in der Lage ist, die älteste Macht der Welt zu entfesseln. Während ein Hurrikan aufzieht, wie ihn die Menschheit noch nie erlebt hat, muss Dirk alles geben, um nicht nur seine Tochter zu retten, sondern die ganze Welt …

Das dramatische Finale – denn wenn FLUT und FEUER toben, wird auch ein STURM aufbrausen: Der dritte Roman der ELEMENTIS-Trilogie.

Über die Autoren:

Wolfgang Hohlbein, 1953 in Weimar geboren, ist Deutschlands erfolgreichster Fantasy-Autor. Der Durchbruch gelang ihm 1983 mit dem preisgekrönten Jugendbuch Märchenmond. Inzwischen hat er 150 Bestseller mit einer Gesamtauflage von über 40 Millionen Büchern verfasst. 2012 erhielt er den internationalen Literaturpreis NUX. Zeitgleich startete der in Neuss lebende Autor ein innovatives Hohlbein-TV-Projekt. Der Autor im Internet: www.hohlbein.de

Dieter Winkler, geboren 1956 in Berlin, stand bereits mit fünf Jahren im Rosenkavalier auf der Bühne, hat als Jugendlicher in verschiedenen Bands gespielt und erste Kurzgeschichten veröffentlicht. Nach langen Jahren als Chefredakteur hat sich der Phantastik-Preisträger mit international erfolgreichen Buch-Reihen (Enwor, Netsurfer) und verschiedenen Hörspiel- und Theaterprojekten einen Namen gemacht.

Bei dotbooks veröffentlichen Wolfgang Hohlbein und Dieter Winkler gemeinsam die ELEMENTIS-Trilogie mit den Einzelbänden FLUT, FEUER und STURM.

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Neuausgabe Oktober 2013

Copyright © der Originalausgabe 2007 bei Knaur Verlag. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2013 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Tanja Winkler, Weichs

ISBN 978-3-95520-395-5

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Wolfgang Hohlbein

mit Dieter Winkler

STURM

Die ELEMENTIS-Trilogie

Dritter Roman

dotbooks.

PROLOG

Akuyi. Da war sie. Auf dem gegenüberliegenden Hügel, für einen Lidschlag erhellt durch den Blitz, der irgendwo hinter ihr einschlug. Kaum mehr als ein Schemen, unendlich zierlich und zerbrechlich wirkend und vollkommen schutzlos den Gewalten ausgeliefert, die sie umtobten und an ihr zerrten, als wollten sie sie mit sich herabreißen und zerschmettern. Ihr Gesicht war ihm zugewandt, so als habe sie seine Nähe genauso gespürt wie er kurz zuvor die ihre und als sähe nun auch sie ihn in diesem kurzen Moment, in dem der Blitz die Dunkelheit zerriss und die Nacht in gleißendes Licht tauchte.

Dirk starrte in die Richtung, in der er sie zu sehen geglaubt hatte, unfähig, sich zu rühren, zu atmen oder einen klaren Gedanken zu fassen. Die Dunkelheit lag wie ein erstickendes Tuch über ihm, und der Regen peitschte in sein Gesicht. Wenn er seine Augen traf, tat es weh, sodass er ununterbrochen blinzeln musste und Tränen seinen Blick verschleierten.

Akuyi lebte! Aber sie war in Lebensgefahr, wenn nicht schon vorher, dann spätestens jetzt. Nichts und niemand konnte bei diesem Unwetter hier draußen bestehen, nichts den Wassermassen trotzen, die sich unaufhörlich auf die Erde ergossen. Er musste zu ihr, sofort, er musste sie irgendwohin bringen, wo es trocken und warm war, vielleicht in eine der Höhlen, die seit dem Anbeginn der Zeit unterhalb der Berge Tieren und Menschen Schutz vor Unwettern und Kälte boten.

Dirk hetzte los, so ungestüm, dass seine Füße auf den ersten Metern kaum den Boden zu berühren schienen, bis er die Stelle erreichte, an der das Plateau in den steil abfallenden Hang überging, den er zuvor mühsam hinaufgeklettert war. Er glitt aus, fing sich wieder, schlitterte ein Stück weiter, machte zwei, drei Sätze hinein in die Dunkelheit, versuchte sich irgendwo festzuhalten, einen Zweig, einen Ast, einen Überhang zu erwischen, irgendetwas, das seine unkontrollierte Bewegung aufhalten konnte. Zweige peitschen ihm ins Gesicht, als er ein Stück weiterschlitterte, über Morast, glatte Steine und regennasses Holz. Er prallte gegen einen schmalen, durch die Hitze der letzten Wochen ausgedörrten Baum, umschlang ihn mit beiden Armen wie eine Geliebte, drehte sich halb um seine eigene Achse und rutschte weiter. Mit wild rudernden Armen tauchte er unter einem dicken Ast hinweg und unter Geäst, das durch sein Haar fuhr und auf seiner Wange einen blutigen Striemen hinterließ.

Er merkte es nicht einmal. Sein Herz hämmerte wie wild. Das Schicksal konnte nicht so grausam sein. Seit Wochen war er auf der Suche nach Akuyi, hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um einen Hinweis auf ihren Aufenthaltsort zu finden. Nur um sie hier, inmitten eines fürchterlichen Unwetters, in diesem düsteren Land der Tausend Hügel wie ein Gespenst aus der Dunkelheit auftauchen zu sehen – und sie dann wieder zu verlieren?

Das durfte nicht sein.

Er erreichte die Talsohle. Sein rechter Fuß versank bis weit über den Knöchel im Schlamm, und er musste ihn mit Gewalt herausreißen. Der kaltnasse Matsch drang in seinen Schuh, ein ekelhaftes Gefühl, das tausendmal schlimmer war als die triefend nasse Kleidung, die an seinem Körper klebte. Er legte den Kopf in den Nacken und starrte nach oben, in die Richtung, in der er kurz zuvor Akuyi gesehen hatte. Den dunklen Schatten des Hügels, der sich über ihm erhob, als wolle er ihn erdrücken, erahnte er mehr, als dass er ihn wirklich sah.

Aber darauf kam es auch nicht an. Wenn er wissen wollte, wo Akuyi abgeblieben war, dann musste er nach dort oben. Und das so schnell wie möglich.

Er versuchte loszusprinten, leichtfüßig, um die Talsohle so schnell wie möglich hinter sich zu lassen. Aber er hatte die Rechnung ohne den trügerischen Untergrund gemacht, dem er sich leichtsinnigerweise anvertraut hatte. Sein erster, hastiger Schritt endete fast in einer Katastrophe. Es war keine, Pfütze, sondern ein regelrechtes Sumpfloch, in das sein Fuß geriet, und es hätte wohl nur noch etwas mehr Schwung bedurft, um ihn das Gleichgewicht verlieren und kopfüber in die Schlammkuhle stürzen zu lassen, die hier geradezu bösartig auf ihn gelauert hatte. Mit einem verzweifelten Aufschrei warf er sich zurück. Seine Füße fanden festen Untergrund, und er schlitterte ein Stück weiter, bevor er schmerzhaft von einem Felsvorsprung gestoppt wurde und zitternd und keuchend innehielt.

Er kniff die Augen zusammen und senkte den Blick. Auf dem Boden wurde an einigen Stellen das spärliche Licht reflektiert, vermutlich von jenen Steinen, wie sie auch den Hügel bedeckten, Schuppen eines riesigen Drachen gleich, überraschend gleichmäßig geformt und allesamt von der Größe von zwei bis drei Handspannen. Sie waren seine einzige Chance, den Morast zu überwinden und auf die andere Seite zu kommen.

Und dass er dorthin kommen musste, und das so schnell wie möglich, stand für ihn außer Frage. Seine Hände zitterten nicht nur wegen der nassen Kälte und des peitschenden Regens, sondern viel mehr noch wegen der Angst, Akuyi nicht mehr wiederzufinden, wenn er erst dort oben war. Immer wieder hatte er sich ausgemalt, wie er sie in den Armen hielt und sie sich an ihn schmiegte wie ein kleines Kind, das sie nicht mehr war, obwohl sie noch immer seinen Schutz brauchte.

Er legte abermals den Kopf in den Nacken und sah nach oben, in die Richtung, in der er seine Tochter vermutete.

Er konnte auf dem Hügel keine Bewegung mehr ausmachen, aber es drängte ihn trotzdem weiter. So gut es ging, visierte er die nächste Stelle an, die er für einen Stein hielt, machte einen großen Schritt und setzte den Fuß darauf. Der Untergrund fühlte sich überraschend tragfähig an. Doch schon bei der nächsten reflektierenden Stelle wurde er eines Besseren belehrt – das, was er für soliden Untergrund gehalten hatte, tauchte unter ihm in den Morast ein, und er konnte sich nur mit einem hastigen Schritt auf die nächste halbwegs sicher erscheinende Stelle davor retten, in dem sumpfigen Boden einzusacken und vom feuchten Schoß der Mutter Erde aufgesogen zu werden.

Er kam nicht weiter.

Der nächste Blitz zuckte mit vernichtender Wucht herab, schlug krachend und die Erde zum Erbeben bringend in den Hügel ein, auf dem Akuyi eben noch gestanden hatte – schlimmer noch, genau in die Stelle, an der er sie gesehen hatte und zischte als bösartiges, tausendfach zerfasertes Energiegewitter den Hügel hinab, setzte feuchtes Gebüsch in Brand, als sei es pulvertrocken, brachte Pfützen und Wassermulden zum Kochen …

Dirk hatte nicht einmal die Zeit, einen Schrei auszustoßen. Er sah den zerfaserten Blitz auf sich zusausen, und er sah in seinem Licht kleine, schwarze Gestalten mit weißen Masken, sah sie aus ihren Verstecken hervorbrechen, hörte sie triumphierend aufheulen, sah sie Speere in den Händen wiegen, sah Keulen, Steinmesser, Blasrohre und Wurfgeschosse, vernahm ihren wild kreischenden Kriegsgesang …

BUCH I

Wer Wind sät, wird Sturm ernten.

Hosea 8, 7

Ein großer Sturm kam über den Berg,

der die Felsen zerriss;

aber der Herr war nicht im Sturm.

1. Könige 19, 1 15

Kapitel 1

Dirk stieß einen Schrei aus und fuhr hoch. Ein Blitzgewitter fuhr über die Wand, über die afrikanischen Masken, die dort hingen, seit Kinah bei ihm eingezogen war, und hauchte ihnen scheinbar Leben ein – ein Verziehen von Augenbrauen, ein Vorstülpen wulstiger Lippen, ein vorwurfsvolles Stirnrunzeln. Dirk hatte die Masken von Anfang an nicht gemocht und es gehasst, dass sie ihm bei allem zusahen, was er mit Kinah im Bett trieb. Es kam ihm vor, als hätte sie ihre Ahnen aus ihrer afrikanischen Heimat mitgebracht, damit sie an den intimsten Details ihres Lebens teilnahmen und es überwachten –als müssten sie sich davon überzeugen, dass der weiße Mann gut genug für die Tochter des mächtigen Schamanen war. Vor allem aber mochte Dirk es nicht, dass die Masken ihn beobachteten, wenn er am Abend in den Schlaf hinüberdämmerte oder sich am Morgen, von Kinah sanft oder leidenschaftlich geweckt, hin und her rekelte oder seinen rituellen Kampf mit den zwei Weckern ausfocht, die im Wechsel klingelten, ohne ihn wirklich aus dem Schlaf reißen zu können.

Jetzt, da ihn auch die Maske mit den breiten Augenschlitzen wieder anfunkelte, erinnerte er sich daran, wie er sie eines Morgens abgenommen hatte, nicht nur probeweise, sondern mit der ernsthaften Absicht, sie in irgendeinem Winkel ihres Hauses verschwinden zu lassen. Just in diesem Moment war Kinah aus dem Badezimmer gekommen, und er hatte sich ertappt gefühlt wie ein kleines Kind, das seiner Mutter zum ersten Mal Süßigkeiten klaute. Und Kinah hatte ihn auch genau so behandelt. Er hatte sie noch nie schreien gehört, bis zu jenem Morgen, dann aber dafür umso lauter. Seinen früheren Freundinnen war er selten eine Antwort schuldig geblieben, aber Kinah gegenüber hatte er kaum ein Wort herausgebracht, so betroffen hatte ihn ihre Fassungslosigkeit gemacht. Schließlich hatte sie sich neben ihn auf das Bett gesetzt, ihn umarmt – auch das eher wie eine Mutter und nicht wie eine Geliebte – und ihm uralte Geschichten erzählt von Ritualen und Ahnenkult und natürlich von den Masken. »Sie wachen über deinen Schlaf«, hatte sie schließlich behauptet. »Solange sie da sind, kann dir nichts Böses zustoßen. Deswegen darfst du sie nie abhängen. Hörst du? Niemals und unter keinen Umständen!«

Aus dem Mund einer anderen Frau hätte es wie ein Spruch geklungen, mit dem man kleine Kinder beruhigt. Doch Kinahs wunderschöne Augen hatten dabei geblitzt, temperamentvoll und voller Nachdruck und Ernsthaftigkeit, und Dirk hatte sich ihrem Zauber nicht entziehen können – wieder einmal nicht. Sie hatten sich geliebt danach, und es war …

Schluss!

Dirk verscheuchte die Erinnerung an Kinah und war mit einem Satz aus dem Bett – oder zumindest wollte er mit einem Satz aus dem Bett, aber sein Kreislauf machte ihm einen Strich durch die Rechnung und zwang ihn, in gebückter Haltung auf der Kante seines Bettes hocken zu bleiben und zu versuchen, das Flirren vor seinen Augen wegzublinzeln und seinen Atem zu beruhigen, der auf einmal unangenehme Ähnlichkeit mit einer bergan fahrenden Dampflokomotive hatte. Er bewegte probehalber die Beine und irgendetwas fiel klirrend um. Dann war ein gluckerndes Geräusch zu hören – Whiskey oder Wodka? Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, was er gestern bis an die Grenze zur Bewusstlosigkeit in sich hineingeschüttet hatte. Er wollte sich vorbeugen und die Flasche aufrichten.

Er kam nicht einmal ein paar Zentimeter weit. Sein Kopf, der sich bisher nur dumpf und taub angefühlt hatte, schien plötzlich zu explodieren. Er keuchte und erstarrte mit vorgestreckter Hand zu vollkommener Bewegungslosigkeit. Scheißsauferei! Er hatte zeit seines Lebens einen großen Bogen um jedes übertriebene Besäufnis gemacht, vor allem um das, was als Kampftrinken darauf hinauslief, sich auf einen Schlag Zehntausende von Gehirnzellen aus dem Kopf zu blasen. Denn mit siebzehn hatte er einmal einen Filmriss gehabt, und alles, woran er sich noch hatte erinnern können, war ein matschiger Graben gewesen, in dem er neben seiner gedrosselten 125er gelegen hatte, deren Hinterrad sich wild drehte, während aus der gerissenen Tankleitung Benzin über den heißen Motor lief. Seine Aprilia hatte kein Feuer gefangen und war auch nicht hochgegangen, aber es hatte wohl nicht viel daran gefehlt.

Jedenfalls war ihm das ein Denkzettel gewesen, den er sein Leben lang nicht vergessen hatte.

Bis Kinah ihn verlassen hatte. Und danach auch noch ihre gemeinsame Tochter Akuyi verschwunden war.

Ganz langsam und vorsichtig richtete er sich auf und legte den Kopf in den Nacken, darum bemüht, nur nicht in Richtung der Masken zu blicken. Aspirin, das brauchte er jetzt, zwei, drei oder besser gleich vier Tabletten. Wahrscheinlich halfen sie nicht die Bohne, aber dann hatte er wenigstens das Gefühl, etwas gegen seinen dicken Kopf getan zu haben. Denn egal, wie mies es ihm ging und wie gerne er sich in seinem Selbstmitleid badete: Er hatte etwas zu tun. Das Gleiche wie jeden Tag seit sechs Wochen. Sich hinter seinen PC klemmen, als gebe es in den Weiten des Internets eine Spur, die ihn zu Akuyi führen konnte, zu seinem Lieblingsbullen fahren, der ihn über den Rand seiner schmalen Brille hinweg mitfühlend angucken würde, bevor er in seine Wurststulle biss und schmatzend sagte: »Leider nein, noch keine Spur. Aber ich kann nur immer wieder betonen, dass Sie die Hoffnung nicht aufgeben dürfen. Irgendwann werden wir Ihre Tochter finden. Da bin ich mir sicher.«

Dirk war sich da gar nicht sicher. Mister Superbulle hatte durchblicken lassen, dass es in Deutschland je nach Schätzung drei- bis siebentausend Jugendliche gab, die ausgerissen waren und auf der Straße lebten – und nur ganz wenige Fälle pro Jahr, in denen Jugendliche einem Gewaltverbrechen zum Opfer fielen.

Damit hatte er Dirk wohl Hoffnung machen wollen, aber natürlich nur das Gegenteil erreicht. Die meisten der wenigen bedauernswerten Opfer, die einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen waren, waren Mädchen, und die wenigsten von ihnen waren hässlich. Und Akuyi war bildhübsch, was ihr auch schon früher das eine oder andere Mal neben den üblichen dämlichen Anmachersprüchen großen Ärger eingebracht hatte. Außerdem kannte Dirk seine Tochter. Sie hatte es genauso schwer wie er selbst verkraftet, dass ihre Mutter ohne ein Wort der Erklärung ihre kleine Familie verlassen hatte, und nie die Tendenz gezeigt, einen ähnlich gearteten Unsinn zu machen. Ganz im Gegenteil; sie hatte sich wie eine Ertrinkende an einen Ast an den Rest Normalität geklammert, den Dirk ihr zu bieten versucht hatte.

Oder, um es anders ausdrücken: Sie beide hatten sich wie zwei Ertrinkende aneinandergeklammert.

Nicht, dass das gesund für eine Sechzehnjährige gewesen wäre; ganz im Gegenteil. Akuyi war zwar weiterhin recht gut in der Schule gewesen, aber sie hatte sich von allem abgewandt, was Jugendliche in ihrem Alter normalerweise beschäftigte. Mode, Disco, Jungs, Abhängen – all das interessierte sie nicht mehr, wie sie Dirk gestanden hatte. Dafür hatte sie sich intensiv mit ihren schwarzafrikanischen Wurzeln auseinandergesetzt, was Dirk vom ersten Moment an mit mehr Unruhe erfüllt hatte, als wenn sie sich auf irgendwelchen Kifferpartys herumgetrieben hätte. Afrika war ihm fremd geblieben, so viel ihm Kinah auch zu vermitteln versucht hatte, ja, es war ihm sogar zunehmend fremder geworden, je mehr Einzelheiten er über die alten Kulturen erfahren hatte, die Kinah – und damit teilweise auch Akuyi – geprägt hatten.

Aber all das spielte keine Rolle, jetzt, da Akuyi spurlos verschwunden war. Nun war nur noch wichtig, dass er sie nicht im Stich ließ und jede noch so ungewisse Spur verfolgte.

Dirk stieß sich ab, kam torkelnd hoch und machte zwei, drei unsichere Schritte. Sein rechter Fuß streifte eine Flasche, die ebenfalls klirrend umfiel, ohne dass diesmal etwas auslief, und sein linker Fuß schlurfte durch die kalte Lache aus der ersten Flasche, die er gestern nicht mehr geschafft hatte. Heute würde er keinen Schluck trinken, das schwor er sich. Morgen auch nicht. Den ganzen Rest der Woche nicht.

Der Traum, der ihn erschrocken hatte hochfahren lassen, war noch immer in ihm, und er trieb ihn voran. Er hatte von Kinah viel über Traumdeutung gelernt – nicht über die westliche Art, die ihn sowieso nicht interessierte, sondern über einen ganz anderen Ansatz, der viel umfassender war und Träume lediglich als eine andere Form von Realität definierte, und das mit einer Selbstverständlichkeit, die Dirk nie wirklich hatte nachempfinden können.

Bis heute Morgen …

Es war ihm klar, dass der Traum ihn irgendwohin nach Afrika geführt hatte, in eine Gegend, die er aus Kinahs Erzählungen und von ihren Bildern kannte. Das Land der Tausend Hügel … Er konnte sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, was es damit auf sich hatte. Vielleicht lag es nur an seinem Kater, der jeden Gedanken zur Qual werden ließ, vielleicht hatte er sich auch zu viele Gehirnzellen weggesoffen, um noch eine detailgetreue Erinnerung heraufbeschwören zu können. Doch darauf kam es nicht an. Der Traum war ein Lebenszeichen von Akuyi, das ihm auf eine für ihn kaum verständliche Weise übermittelt worden war. Ein verzweifelter Hilferuf, der zeigte, wie schlecht es ihr ging und dass sie von Gewalten zerschmettert zu werden drohte, denen sie nichts entgegensetzen konnte und gegen die auch er kaum ankam. Der Traum hatte mit ihren afrikanischen Wurzeln zu tun, mit dem, was sie nicht verleugnen konnte, wollte sie ein ganzer Mensch sein, aber damit auch mit dem, was Dirk schon immer mehr Angst gemacht hatte, als er sich eingestehen wollte.

Er musste zu ihr.

Der Gedanke war so lächerlich, dass er beinahe laut aufgelacht hätte. Natürlich musste er zu ihr. Das wusste er schon die ganze Zeit. Doch jetzt fühlte er es auch, nicht nur als Vater, sondern mit jenem Teil seiner Seele, den Kinah immer zu erwecken versucht hatte. »Alle Menschen stammen aus Afrika«, hatte sie immer wieder gesagt, »und in unserer aller Seelen sind all die alten Bilder und Sehnsüchte gespeichert, die uns seit Menschengedenken vorangetrieben haben. Du musst sie nur finden in dir, und dann musst du bereit sein, sie anzunehmen.«

Dirk erreichte den Schreibtisch, auf dem sein Notebook dank der zur Zeit schnellsten verfügbaren DSL-Verbindung ständig mit dem Internet verbunden war und sein ganz eigenes Leben führte. Gestern hatte er sich, bereits leicht alkoholumnebelt, mit einem der widerlichsten Themen beschäftigt, auf die er bei seiner verzweifelten Suche nach seiner Tochter gestoßen war: mit Kinder- und Menschenhandel. Mario, sein ältester und bester Freund, hatte ihn auf diese Spur gebracht, er hatte irgendwelche abstrusen Theorien entwickelt, was dazu geführt hatte, dass sie sich in den Tagen nach Akuyis Verschwinden so kräftig in die Haare geraten waren, dass Dirk Mario schließlich achtkantig rausgeschmissen hatte (was er mittlerweile ebenso sehr bedauerte wie die Tatsache, dass er den Kontakt zu jedem anderen Menschen abgewürgt hatte, der ihm seine Hilfe angeboten hatte).

So verworren Marios Theorie auch in Dirks Ohren geklungen hatte – sie hatte ihn gezwungen, in eine Richtung zu denken, die er zunächst nicht hatte sehen wollen. Es war erschreckend, wie viele Einträge es zum Thema Kinder- und Menschenhandel gab – alleine in Google waren es mehrere hunderttausend gewesen –, und noch viel erschreckender, worauf man in Newsgroups und scheinbar geschlossenen Bereichen stoßen konnte, wenn man nur ein wenig hartnäckig war.

Es drehte ihm jedes Mal den Magen um, wenn er sich damit beschäftigte – mit der Möglichkeit, dass Akuyi einem Menschenhändlerring zum Opfer gefallen sein könnte. Aber das war es nicht, was ihn erschrocken stehen bleiben ließ, als sein Blick auf den großen Flachbildschirm an der Wand fiel. Es war wie das Eintauchen in seinen Traum, es war, als gäbe es keine Grenze mehr zwischen der Realität und dem, was er im Schlaf zusammenfantasiert hatte. Der Monitor zeigte keine Datenbankabfrage, keinen Text, keine Computergrafik, er war plötzlich zum Fenster in eine andere Welt geworden.

In eine Welt, in der ein Unwetter tobte. Dunkle Wolken hingen am Himmel, wurden von einem heftigen Wind auseinandergerissen, formierten sich wieder, verwirbelten erneut – ein düsterer, gefährlicher Anblick, der jeden, der ihm in freier Natur begegnet wäre, in aller Hast einen Unterschlupf hätte suchen lassen. Ein Blitz fuhr durch die unruhige Wolkendecke, zerriss die Dunkelheit, leuchtete die Szene für einen Moment gnadenlos aus.

Es hätte für Dirk keine Überraschung sein dürfen, was der Blitz enthüllte. Er hätte darauf vorbereitet sein, es mit einem Achselzucken abtun müssen.

Das Gegenteil war der Fall.

Seine Beine gaben plötzlich nach, und er musste einen hastigen Schritt nach vorne machen, um sich an der Lehne seines Schreibtischstuhls festzuhalten. Die zwei Hügel waren nun wieder vom Regengrau verdeckt, aber es schien, als leuchteten sie noch für eine Weile nach, nachdem der Blitz seine Energie verschwendet hatte. Als gelänge es ihnen nicht, sich vollständig seinem Blick zu entziehen. Es waren die Hügel aus seinem Traum, eine Gegend, die er vor dieser schrecklichen Nacht noch nie gesehen hatte, weder im Wach- noch im Schlafzustand, zumindest, soweit er sich erinnern konnte.

Ein kalter Schauer überlief ihn. Er dachte an all die merkwürdigen Geschichten, die Kinah ihm über ihre Heimat erzählt hatte. Über die Heimat aller Menschen, wie sie immer wieder betont hatte. Über den Kontinent, auf dem jene beiden Hügel einander gegenüberlagen wie zwei verfeindete Brüder, die sich belauerten und nur auf die Gelegenheit zum Zuschlagen warteten.

Dirk trat noch einen Schritt vor und ließ sich in den Stuhl fallen, der daraufhin ein Stück zurückrollte und ein paar achtlos auf den Boden geworfene Rechnungen zerknüllte.

Nein, Kinah hatte ihm nicht von diesen Hügeln erzählt, niemals, und doch wusste er mit unerschütterlicher Gewissheit, dass sie in Afrika lagen. Er rollte den Stuhl so weit es ging an den kleinen Schreibtisch, den er sich hier im Schlafzimmer gegönnt hatte, ursprünglich nur, um vor dem Schlafengehen noch ein bisschen zu programmieren oder sich mit einem Ego-Shooter zu entspannen. Ganz vorsichtig streckte er die Hand aus. Die Szenerie vor ihm wirkte derart plastisch, als sähe er sie nicht auf einem Monitor, sondern wäre auf geheimnisvolle Weise in der Lage, durch den flachen Schirm hindurch auf den Ausschnitt einer realen, weit entfernten, von einem heftigen Unwetter gebeutelten Landschaft zu blicken. Er glaubte sogar, die kalte Luft zu spüren, die der Sturm über das Land blies, und das Prasseln des Regens zu hören, obwohl er die Lautsprecher wie gewöhnlich gar nicht eingeschaltet hatte.

Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Sie waren rissig, und sein Mund fühlte sich trocken an. Er hatte viel zu tief in die Flasche geguckt. Dieser verfluchte Alkohol. Er war dabei, sich um den Verstand zu saufen, das war alles. Das, was er da vor sich sah, war eine raffinierte 3-D-Animation oder ein Film, dem man nachträglich im Computer Tiefenwirkung verpasst hatte. Wahrscheinlich lief er in einer Endlosschleife schon seit gestern Abend, mit dem immer wieder zuckenden Blitz und der ewig gleichen, durcheinanderwirbelnden Wolkendecke. Und natürlich hatte Dirk in seinem Suff auf dieses künstlich aufbereitete Unwetter gestarrt, eine Flasche in der rechten Hand, die linke um die Armlehne gekrallt, wie er es in letzter Zeit so häufig tat.

Das Filmchen hatte sich in sein Unterbewusstsein eingebrannt, und er hatte es in den Schlaf mitgenommen, so einfach war das. Der ganze Traum war nichts weiter als eine Erinnerung an das, was er vor dem Wegdämmern als Letztes gesehen hatte, durchzogen von seiner Angst um Akuyi.

Ein kalter Hauch streifte sein Gesicht, und er drehte den Kopf ein Stück und schlang zitternd die Arme um den Oberkörper. Es war kalt, so fürchterlich kalt, und das, obwohl er schwachsinnigerweise die Heizung auf Kinahs Lieblingstemperatur eingestellt hatte und es eher schweißtreibende Wärme hätte sein sollen, die ihn plagte. Doch die Kälte drang durch seine schon seit vielen Tagen nicht mehr gewechselte Kleidung und ließ ihn beben. Aber das war es nicht, was seinen Atem beschleunigte. Etwas kratzte am Rande seines Bewusstseins wie dürre, harte Finger, die Einlass begehrten und von ihm verlangten, dass er nicht länger weg-, sondern vielmehr genau hinsah. Egal, was Akuyi passiert war: Sie war ihm von dem genommen worden, was Kinah aus ihrer Heimat mitgebracht hatte, von all dem faulen Zauber, der erst Kinahs Herz und dann dasjenige ihrer gemeinsamen Tochter vergiftet hatte. Akuyi hatte sich in eine Gefahr begeben, die etwas mit ihrer Herkunft zu tun hatte und mit all den Büchern und dem Krempel, die sie in den letzten Wochen in ihrem Zimmer aufgehäuft hatte.

Das war es.

Er schob den Stuhl wieder ein Stück zurück. Er war während der vergangenen Wochen nicht nur einmal unruhig aufgesprungen und in Akuyis Zimmer gegangen, um alles zu durchstöbern, was sie ihm so chaotisch hinterlassen hatte. Er hatte versucht, Ordnung in ihre Sachen zu bringen, sie nach logischen Kriterien zu sortieren: Bücher und Schreibutensilien; CDs und DVDs; ausrangierte, in irgendwelche Ecken geworfene Kuscheltiere und natürlich die afrikanischen Bilder, Artefakte und Kitschgegenstände, von denen sie erschreckend viele in ihrem Zimmer hatte. Das, was er gesucht hatte – ein Tagebuch, eine Ton- oder Bildaufzeichnung, eine flüchtig hingekritzelte Notiz in einem Buch oder auf einem Fetzen Papier – etwas, das Aufschluss darüber gab, wohin sie verschwunden war (freiwillig, wie ihm eine böse innere Stimme zuflüstern wollte, und nicht verschleppt von irgendwelchen bösen Jungs), hatte er nicht gefunden.

Sein Fehler war es gewesen, Akuyis chaotische Ordnung zu zerstören. Denn diesem Chaos hatte eine Logik innegewohnt, die er zwar gespürt, aber nicht zu deuten gewusst hatte. Er musste den Originalzustand wiederherstellen, so gut es ihm möglich war, und sich dann noch einmal an die Suche machen. Zum Glück war er schlau genug gewesen, Akuyis Zimmer aus jeder nur denkbaren Perspektive zu fotografieren, bevor er sich daran zu schaffen gemacht hatte.

Dirk griff nach der Funkmaus, um die Fotos auf seinem Notebook aufzurufen. Aber das hätte bedeutet, dass er das magische Bild der zwei sturmumtosten Hügel hätte ausblenden müssen. Das Bild, das ihn mit Akuyi verband, selbst wenn ein Teil seines Verstandes ihm sagte, dass er sich mit solchen Gedanken langsam, aber sicher von dem verabschiedete, was man Normalität nannte.

Ein ganze Zeit lang verharrte er bewegungslos in seinem Stuhl. Zusammenhanglose Bilder von afrikanischen Symbolen wirbelten durch seinen Kopf, und sie alle hatten etwas mit seinem Traum zu tun und mit Akuyi, die – dessen war er sich plötzlich sicher – heute Nacht verzweifelt nach ihm gerufen hatte.

Sie war in Gefahr, in akuter Lebensgefahr. Und wenn es einen Menschen auf der Welt gab, der ihr helfen konnte, dann er.

Dirk stand mit einem Ruck auf, schob den Stuhl zurück und trat hinaus auf den Flur. Während er zu der Treppe ging, die zu Akuyis Zimmer führte, spürte er, wie eine eisige Kälte seine Beine umwehte. Das war unmöglich. Alle Fenster waren geschlossen und die Heizung auf vierundzwanzig Grad eingestellt. Einen kalten Luftzug konnte es hier einfach nicht geben.

Doch es wurde sogar noch kälter, als Dirk den im Parkett steckenden Holzspeer passierte, der vor zwei Wochen, nachdem er versehentlich die Tür zu Kinahs Zimmer zugeknallt hatte, wie von Geisterhand geschleudert auf ihn niedergegangen war und ihn knapp verfehlt hatte. Damals hatte er geglaubt, einen Schatten weghuschen zu sehen, der verdächtig nach Kinah ausgesehen hatte … Er biss sich auf die Unterlippe, wie jedes Mal, wenn sich seine Gedanken in eine Richtung verirrten, die ihn nicht weiter-, sondern höchstens in die Klapsmühle bringen würde. Dann schlug er fröstelnd den Kragen seines Hemdes hoch und eilte die Treppe hinauf. Der Speer war einfach schlecht befestigt gewesen und hatte sich durch die Erschütterung beim Türenzuschlagen gelöst. Und der Schatten, den er zu sehen geglaubt hatte, war nichts weiter als ein Produkt seiner überbordenden Fantasie, und damit basta.

Auf der Galerie, die wie die Holzveranda eines afrikanischen Herrenhauses gefertigt war, begrüßten ihn die beiden Skulpturen, die Kinah in ihrer letzten Schaffensphase gefertigt hatte. Die eine war aus afrikanischem Schwarzholz geschnitzt, die andere aus dem hellen, fast weißen Holz einer Ebenaceengattung aus dem Herzen Afrikas. Mit ein wenig Fantasie waren sie als Mann und Frau zu erkennen, die sich mit leicht angewinkelten Armen halb gegenüberstanden, halb voneinander abwendeten. Dirk wäre nie auf die Idee gekommen, sie von hier zu entfernen und zu den halbfertigen Skulpturen und Plastiken im Schuppen hinter der Garage zu stellen, empfand jedoch jedes Mal, wenn er sie sah und an ihnen vorbeigehen musste, ein gewisses Unbehagen.

Mit schnellen Schritten hastete er an den fast mannshohen Skulpturen vorüber. Er hatte beinahe das Gefühl, als würden sie ihn mit Blicken durchbohren. Als er Akuyis Zimmer erreichte, musste er sich schwer atmend am Türrahmen abstützen. Sein Kreislauf fuhr Achterbahn, und die Kopfschmerzen, die er fast vergessen hatte, meldeten sich mit einem harten Pochen im Rhythmus seines Herzschlags zurück. Er versuchte seinen miserablen Zustand zu ignorieren, aber es gelang ihm nicht. Akuyis normalerweise helles, lichtdurchflutetes Zimmer war unnatürlich dunkel, fast wie die Höhle, in der er im Traum mit ihr hatte Schutz suchen wollen, um den Sturmgewalten zu entkommen. Und jetzt hörte er ganz deutlich den Regen, der mit solcher Wucht niederprasselte, dass er trotz der Dreifachverglasung des Fensters wie ein Trommelfeuer aus mehreren Maschinenpistolen klang. Das also war das Geräusch, das er fälschlicherweise mit dem Bild der zwei Hügel in Verbindung gebracht hatte.

Ein weiteres Puzzleteil, das ihm bewies, wie leicht er sich in etwas hineinsteigerte. Dort draußen tobte ein Unwetter, ein Sturm, der den Regen gegen die Südseite des Hauses peitschte. Dirk hatte nicht auf die Uhr geschaut, aber er schätzte, das es später Vormittag war. Umso erstaunlicher, dass kaum Helligkeit ins Zimmer drang. Das Licht reichte gerade aus, um ihn die sauberen Stapel erkennen zu lassen, zu denen er Akuyis Sachen geordnet hatte. Er konnte sich lebhaft vorstellen, was sie dazu sagen würde, käme sie jetzt unerwartet nach Hause und würde über seine Schulter einen Blick in ihr Zimmer werfen.

Trotzdem. Irgendwo hier steckte vielleicht ein Hinweis auf den jetzigen Aufenthaltsort seiner Tochter. Etwas, das auch mit dem leicht süßlichen Geruch zusammenhing, den er zu riechen vermeinte und der jedes Mal, wenn er das Zimmer betrat, stärker geworden zu sein schien.

Gerade als er auf den Lichtschalter drücken wollte, klingelte sein Telefon. Er griff nach der Gürteltasche, holte es hervor und warf einen Blick auf das Display, in der Hoffnung, es sei Mario, der bereit war, einen Schlussstrich unter ihren lächerlichen Streit zu ziehen. Aber er wurde enttäuscht. Eine ihm unbekannte Handynummer wurde angezeigt. »Ja?«, meldete er sich.

»Biermann«, sagte eine sonore Männerstimme »Harry Biermann. Ich habe gehört … Sie suchen Ihre Tochter.«

Dirk stieß zischend die Luft aus. »Ja. Haben Sie … Wissen Sie …?«

»Ich weiß nicht, wo sie ist«, antwortete Biermann rasch. »Zumindest noch nicht.«

Dirk schloss die Augen und umklammerte das Handy so fest, als wolle er es zerquetschen.

»Was soll das heißen?«, fragte er scharf.

»Sie kennen mich«, sagte Biermann anstelle einer direkten Antwort. »Es ist schon eine ganze Weile her, und wir hatten nur indirekt Kontakt. Ich habe damals für Kurt gearbeitet. Kurt Knusen.«

»Ja, ich erinnere mich.« Dirk riss die Augen wieder auf und starrte in Akuyis so fremd wirkendes Zimmer. Es war nicht richtig, dass er hier alles durchgewühlt und dann nach Kategorien sortiert hatte, das wurde ihm mit schmerzhafter Deutlichkeit klar. Es war beinahe so, als hätte er damit ihrer Seele Gewalt angetan.

»Kurt Knusen ist ein Idiot«, fuhr er fort. »Ich habe ihn gut bezahlt, aber er hat mir nur heiße Luft geliefert.«

»Ja«, sagte Biermann. »Kurt ist ein Idiot. Deswegen habe ich mich auch von ihm getrennt. Ich habe jetzt ein eigenes Büro.«

»Glückwunsch.« Dirk betrat das Zimmer. Der Regen prasselte mit ungestümer Gewalt gegen die Terrassentür und das große Fenster, und das Wasser lief in breiten Schlieren über die Scheiben nach unten. Der Anblick erinnerte Dirk unangenehm an die Bugfenster eines Schiffes, das sich verzweifelt durch ein Unwetter kämpft. »Wenn Sie für einen Idioten gearbeitet haben, Biermann – was sagt mir das dann? Dass Sie auch einer sind?«

Biermann schluckte die Beleidigung ohne Gegenwehr. »Ich war damals für den ganzen Schriftkram zuständig. Sie wissen schon: Einarbeiten in das Profil Ihrer Frau …«

»Exfrau.«

»Von mir auch aus Exfrau. Kontaktaufnahme mit Behörden, Verwandten und alten Freunden. Der ganze Krempel, der notwendig ist, wenn man gewillt ist, jeder noch so kleinen Spur nachzugehen.« Dirk glaubte geradezu zu hören, wie sich Biermann straffte. »Und das verschafft mir jetzt einen gehörigen Vorsprung gegenüber jedem anderen, der sich mit dem Fall beschäftigt.«

»Die Polizei …«

»Die Polizei nimmt Sie doch gar nicht ernst«, unterbrach ihn Biermann ruhig. »Die geben die Daten zum Abgleich in einen Computer ein, legen eine Akte an, führen vielleicht noch ein paar Telefonate – und das war's dann.«

Dirk drehte sich zur Wand um. Auch hier hingen afrikanische Masken. Eine von ihnen, mit grotesk vergrößerten Augen, wulstigen Lippen und einem gespaltenem Schädel, schien seinen Blick spöttisch zu erwidern. Diese Maske war einfach hässlich und ekelhaft, und er fragte sich, was ein junges Mädchen dazu bewog, sie sich direkt gegenüber ihrem Bett aufzuhängen.

»Ich finde, das ist kein schlechtes Stichwort«, sagte er schließlich.

»Welches?«

»Das war's dann«, antwortete Dirk schroff. »Damit haben Sie nämlich vollkommen recht. Ich brauche niemanden, der im Privatleben meiner Tochter herumschnüffelt.« Weil ich das schon ganz alleine tue, wisperte eine böse Stimme in seinem Kopf.

»Weil Sie glauben, dass ihr Verschwinden nichts mit ihr selbst zu tun hat?«, fragte Biermann. »Diese These ist natürlich vollkommen berechtigt. Aber es wäre etwas leichtsinnig, alle anderen Thesen von vornherein auszugrenzen, oder?«

»Das habe ich nicht vor, du Blödmann!«, hätte Dirk am liebsten geschrien. Aber natürlich tat er das nicht. Biermann hatte recht. Er glaubte selbst kaum noch, dass seine Tochter das Opfer einer zufälligen, aber schrecklich endgültigen Begegnung mit einem Gewalttäter geworden war.

»Es könnte doch sein«, sagte Biermann vorsichtig, »dass zwischen dem Verschwinden Ihrer Tochter und dem Ihrer Frau ein Zusammenhang besteht, oder?«

Dirk zog Akuyis Schreibtischstuhl heran und ließ sich mit wackligen Knien darauf nieder. Natürlich konnte das sein. Es war genau das, was er insgeheim befürchtete.

»Und wenn das so wäre«, fuhr Biermann ungerührt fort, »dann habe ich vielleicht etwas für Sie. Allerdings etwas, das uns unter einen gewissen Zeitdruck setzt.«

»Was?«, fragte Dirk leise.

»Eine neue Spur, die zu Ihrer Frau … Ihrer Exfrau führen könnte. Und damit auch zu Ihrer Tochter.«

Kapitel 2

Als Dirk das Haus verließ, blies ihm ein derart heftiger Wind entgegen, dass er die Augen zu schmalen Schlitzen zusammenkneifen und das Gesicht drehen musste, bevor er in gebückter Haltung den Weg zur Auffahrt hinuntereilte, auf der das Taxi bereits wartete. Er hatte zwei Wagen in der Garage stehen – seinen Mitsubishi Pajero und den Golf, den Kinah gefahren hatte –, aber er kam nicht einmal auf den Gedanken, einen von ihnen zu benutzen. Der Restalkohol, den er im Blut hatte, hätte schon als Grund ausgereicht, um das Auto stehen zu lassen, viel schlimmer war aber, dass er zurzeit keinen Führerschein besaß. Kurz nachdem Akuyi verschwunden war, war er in eine Polizeikontrolle geraten, und das nicht gerade nüchtern. Das hatte ihn vorerst das kleine rosa Ding gekostet, das sich EU-Führerschein nannte. Einen blöderen Zeitpunkt konnte er sich gar nicht vorstellen. Schließlich musste er flexibel sein, wenn sich eine Spur auftat, der er sofort nachgehen musste.

»Nun, rein mit dir, Mann«, schimpfte der Taxifahrer, nachdem er die Beifahrertür aufgerissen hatte und zögernd stehen geblieben war. »Gleich fängt es wieder an zu schiffen, und dann möchte ich nicht meine Sitze versaut haben.«

Dirk verstand überhaupt nicht, was der Fahrer von ihm wollte. Er verstand noch nicht einmal, was er hier sah und roch. Der Taxifahrer war fast so schwarz wie Kinah, hatte ein schmales, verlebtes Gesicht, das von Rastalocken umrahmt war, und eine selbstgedrehte Zigarette im Mundwinkel hängen, die mehr als nur ein bisschen verdächtig aussah – und auch genauso stank.

»Ich steige zu niemandem ins Auto, der gerade einen Joint raucht«, sagte Dirk.

»Einen Joint? Ey Mann, mach doch keinen Aufstand!« Der Schwarze verzog die Mundwinkel zu einem zahnlückigen Grinsen, doch seine Augen blieben kalt und musterten Dirk mit einem abschätzenden Ausdruck, der ihm gar nicht gefiel. »Ich rauch hier keinen Joint, echt nicht. Das ist Seegras, eine spezielle Mischung, absolut clean. Brauch ich, um die Birne freizuschuppern.«

»Ob Joint oder nicht«, sagte Dirk, »erstens wüsste ich nicht, seit wann wir uns duzen. Zweitens stinkt Ihre Kiste zum Himmel. Ganz abgesehen davon«, er deutete auf das rissige Armaturenbrett und den abgewetzten, ausgebleichten Bezug des Beifahrersitzes, »sieht Ihr Taxi aus, als hätten Sie es gerade vom Schrottplatz geholt.«

Der Farbige nickte. »Gut erkannt. Die Mühle sollte tatsächlich verschrottet werden. Aber davor habe ich sie bewahrt.«

Dirk seufzte. »Schon gut. Dann bestell ich mir eben ein anderes Taxi.«

»Nur nicht übertreiben.« Der Taxifahrer fischte sich die Selbstgedrehte aus dem Mundwinkel, sah sie bedauernd an und drückte sie dann im überquellenden Aschenbecher aus. »Steigen Sie lieber ein, bevor Sie nass werden.«

Ehe Dirk antworten konnte, traf ihn ein Windstoß im Rücken, der ihn fast aus dem Gleichgewicht brachte, und mit der Bö kam der Regen zurück. Kein Niesel- oder normaler Sommerregen, sondern ein Platzregen, der hart auf seinem Jackett aufschlug und es durchweichte, noch bevor er in das Taxi gestiegen war. Hastig nahm er auf dem maroden Sitz Platz, der dies mit einem durchdringenden Quietschen quittierte, und zog die Tür hinter sich zu.

»Ich sage nur eins …« Der Taxifahrer startete den Motor, der mit einem merkwürdigen Grummeln zum Leben erwachte, das selbst das Geräusch des Regens noch übertönte. »Weltuntergang.«

»Was?«

Der Taxifahrer deutete durch die Scheibe, an der das Wasser herabrann, als wären sie gerade in die Isar eingetaucht. »Der reinste Weltuntergang. Und das ist erst der Anfang, wie die Wetterfrösche behaupten.«

»Schön.« Dirk fuhr sich mit der Hand über die raue, wie zerklüftete Stelle an seinem Handgelenk – eine böse Erinnerung an eine noch viel bösere Begegnung mit einer Ratte in seiner Kindheit. »Aber ehrlich gesagt interessiert mich der Wetterbericht herzlich wenig. Können wir jetzt endlich losfahren?«

»Ich bin John.« Der Taxifahrer legte den ersten Gang ein und fuhr vorsichtig los, was durchaus verständlich war, denn die Sichtverhältnisse waren trotz des auf Hochtouren laufenden Scheibenwischers mehr als miserabel. »Und nur, damit das klar ist: Das hier ist kein normales Taxi …«

»Wäre mir gar nicht aufgefallen«, brummte Dirk.

»Birdie schickt mich«, sagte John ungerührt. »Und er sagt, es wäre brandeilig. Nur aus diesem Grund habe ich mich bei diesem beschissenen Wetter auf den Weg gemacht.«

»Schön«, sagte Dirk noch einmal. »Und wer zum Teufel ist Birdie?«

»In seinem Pass steht Harry Biermann«, antwortete John. »Aber unter dem Namen kennt ihn nur das Finanzamt und seine Schwiegermutter. Alle anderen nennen ihn Birdie.«

Dirk seufzte. Das fing ja gut an. Als Biermann gesagt hatte, er würde ihm ein Taxi schicken, dessen Fahrer genau wüsste, wohin er ihn zu bringen hatte, hatte er mit einem normalen Taxi und einem normalen Taxifahrer gerechnet, nicht mit einer solchen Katastrophe. Hätte ihn Biermann mit der Meldung über die angebliche Spur nicht heißgemacht, er wäre keine Sekunde länger in dieser verräucherten Rostlaube geblieben. Aber das war Nebensache, wenn es um die beiden Frauen ging, denen sein Herz gehörte.

» Unwetterwarnung auch in Niedersachen«, donnerte plötzlich eine Stimme. John regelte hastig die Lautstärke des Radios herunter. »Der Deutsche Wetterdienst in Offenbach hat …«

»Können Sie das bitte abstellen?«, fragte Dirk genervt und versuchte, das Pochen zu ignorieren, mit dem sein Kopf auf die dröhnende Stimme des Sprechers reagiert hatte. »Ich habe doch wohl klar genug gemacht, dass ich mich nicht für den Wetterbericht interessiere.«

»Das ist doch kein Wetterbericht«, antwortete John kopfschüttelnd, während er gleichzeitig gehorsam das Radio ausschaltete. »Das ist die Sondersendung zur Unwetterkatastrophe. Ich muss doch wissen, wann wir in ein Amphibienfahrzeug umsteigen müssen.«

»Sehr witzig.« Dirk wandte den Kopf und blickte aus dem Seitenfenster. Vielmehr: Er wollte aus dem Seitenfenster blicken. Aber da war nicht viel zu sehen. Nicht mehr als Wasser, das wie eine kleine Sturzflut herabrann. »Hauptsache, die Medien finden immer wieder ein Thema, das sie für eine Weile hochspielen können. Wissen Sie nur, was seltsam ist?«

John schüttelte den Kopf.

»Auch verschwundene Kinder und Jugendliche sind ein Lieblingsthema der Medien«, sagte Dirk bitter. »Die walzen jeden Fall platt, quetschen Nachbarn und Angehörige aus und würden noch ein Meerschweinchen interviewen, wenn das reden könnte. Aber wenn es darum geht, ganz nüchtern mit einem Foto die Suche nach einer Jugendlichen zu unterstützen, mauern die.«

»Ja«, sagte John. »Das sind nun mal die Gesetze der Sensationspresse. Verkaufen Sie denen doch einfach Ihre Story.«

»Verkaufen?« Dirk starrte ihn entgeistert an. »Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?«

»Wenn Sie Aufmerksamkeit haben wollen«, sagte John, schaltete in den ersten Gang und beugte sich vor, als könne er so besser sehen, »müssen Sie den Medien auch einen Köder hinwerfen. Und das bedeutet, sich ihren Kameras und Reportern zu stellen und den Typen das Gefühl zu geben, sie hätten Sie im Sack. Und das geht nun mal am besten, wenn man denen eine Story verkauft.«

»Sie haben wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank!« Dirk zerrte wütend an seinem Sicherheitsgurt, der sofort einrastete, ohne sich auch nur einen Zentimeter bewegt zu haben. »Ich verkaufe doch nicht meine Tochter!«

»Das tun Sie doch gar nicht. Aber wenn Sie wollen, dass man über Ihre Tochter berichtet …« John ließ den Rest den Satzes ungesagt und tat so, als müsse er sich ganz drauf konzentrieren, an der nächsten Kreuzung abzubiegen.

Dirk setzte dazu an, zum zweiten Mal mit ungestümer Wucht an dem speckigen Sicherheitsgurt zu zerren, ließ es dann aber sein. Stattdessen zog er ihn langsam, fast bedächtig nach vorne, drehte den Verschluss um hundertachtzig Grad und ließ ihn dann einschnappen. »Was befähigt Sie eigentlich, so kluge Ratschläge zu geben?«, fragte er dann.

»Verdammter Mist«, fluchte John. »Ich kann noch nicht einmal die Ampel erkennen.«

»Vielleicht liegt das daran, dass man vor dreißig Jahren noch keine vernünftigen Scheibenwischer gebaut hat.«

»Mein Mercedes hat keine dreißig Jahre auf dem Buckel, sondern siebenundzwanzig«, sagte John. »Und daran liegt es ganz eindeutig nicht, sondern an diesem gottverdammten Wolkenbruch.« Er deutete nach oben. Als Dirk schwieg, fügte er hinzu: »Ich war früher mal im Musikbusiness. Hab ein paar coole Nummern produziert. Und so ganz nebenbei habe ich dabei gelernt, wie das Medienbusiness funktioniert.«

»Na klar«, sagte Dirk schroff. »Platten-PR und das Verschwinden meiner Tochter – das hängt natürlich alles zusammen. Also – drehen Sie einfach um, setzen Sie mich zu Hause ab und vergessen wir das Ganze, ja?«

»Könnte ich machen«, sagte John. »Aber dann würden Sie vielleicht die heißeste Spur verlieren, die Sie haben. Und das wollen Sie doch nicht, oder?«

Dirk zuckte mit den Schultern. Darauf gab es nichts zu sagen. Mal ganz abgesehen davon, dass das dumpfe Pochen in seinem Kopf jeden klaren Gedanken erschwerte und der kalte Zigarettenqualm ihm den Atem nahm, war er einfach nicht in der Position, irgendeinem Hinweis nicht nachzugehen. Am besten fügte er sich so lange, bis er diesem Birdie gegenüberstand und ihm klarmachen konnte, dass er sich nicht ausnehmen ließ wie eine Weihnachtsgans, nur weil ihn die Sorge um seine Tochter bereits halb um den Verstand gebracht hatte.

Die Fahrt schien eine Ewigkeit zu dauern. Soweit Dirk erkannte, waren sie so ziemlich die Einzigen, die meinten, bei diesem Wetter unbedingt unterwegs sein zu müssen, abgesehen von den Einsatzfahrzeugen von Polizei, Rettungsdienst und Feuerwehr, von denen er zwar keines zu Gesicht bekam, deren unterschiedliches Sirenengeheul aber nicht abriss, seitdem sie die Stadtgrenze passiert hatten. Der Wind zerrte an dem Taxi wie ein Fünfjähriger an einem Spielzeugauto, und John hatte alle Hände voll zu tun, es in der Spur zu halten und zu vermeiden, dass er in ein parkendes Auto fuhr.

Dirk musste wohl eingenickt sein, denn er schreckte plötzlich hoch, weil John hart auf die Bremse trat und den alten Mercedes dann langsam in einen schmuddeligen Hinterhof lenkte. Der Regen hatte so abrupt wieder aufgehört, wie er begonnen hatte, aber alles, was auf dem Hof hatte Wasser aufnehmen können, hatte das auch getan. Auf den Mülltonnen stand das Wasser, als wäre es mit Sekundenkleber dort festgeklebt worden, und die rissige Asphaltdecke glich einem kleinen, schmutzigen Tümpel, auf dem Ölflecken in allen Regenbogenfarben schimmerten.

»Da wären wir«, sagte John. Er griff in seine Jackentasche und holte ein silbern schimmerndes Zigarettenetui heraus, dem er etwas entnahm, das wie ein hastig gedrehter Joint aussah, schlecht verklebt und bröckelig. Seegras. Wirklich sehr, sehr witzig. Eine blödere Ausrede hätte sich dieser schwarze Rastahippie auch nicht einfallen lassen können.

John knallte die Autotür zu und hüpfte mit einem Riesensatz zu der verwitterten Hintertür des nächststehenden Gebäudes hinüber, riss sie auf und stürmte hinein, ohne sich auch nur einmal nach Dirk umzusehen. Offensichtlich hatte Dirk ihn nachhaltig verärgert. Aber das konnte ihm egal sein.

Dirk löste den Sicherheitsgurt und wollte die Beifahrertür öffnen, besann sich aber im letzten Moment eines Besseren. Es reichte schon, dass sein Jackett durchweicht war und sein Hemd nass am Rücken klebte. Da war es nicht auch noch nötig, dass sich seine Schuhe voll Wasser saugten, nur weil er auf der falschen Seite ausstieg. Er kletterte über die Konsole, das aber wohl etwas zu hastig, denn er stieß mit dem Kopf gegen die Sonnenblende, die daraufhin ein Stück herunterklappte und ihm vollends den Weg versperrte.

Als er hochblickte, sah er in die Mündung einer Pistole.