Auch im sechsten Jahr der großen Krise ist Italien noch nicht wieder auf die Beine gekommen. Die Kennzahlen sind alarmierend: 44 Prozent der Italiener unter 25 Jahren haben keine Arbeit; nach 2012 und 2013 schrumpfte die italienische Wirtschaft 2014 erneut. Die ökonomische fällt mit einer fundamentalen Krise der staatlichen Institutionen zusammen. Das Vertrauen in Politik und Parteien ist auf einem historischen Tiefstand, die Protestbewegung des Kabarettisten Beppe Grillo wurde bei den Parlamentswahlen zur zweitstärksten Partei; Matteo Renzi, von den Medien als Hoffnungsträger gefeiert, kungelt mit seinem skandalumwitterten Vorgänger Berlusconi und feiert den ehemaligen englischen Premierminister Tony Blair als Vorbild, obwohl dieser in seiner Heimat längst zur persona non grata geworden ist.

In seinem vielbeachteten Essay präsentiert der Historiker Perry Anderson eine Chronologie des italienischen Desasters. Italien betrachtet er dabei nicht als »Anomalie innerhalb Europas, sondern als eine Art Konzentrat« der Probleme eines Kontinents, der zunehmend von Entdemokratisierung, Korruption und Wachstumsschwäche gekennzeichnet ist.

Perry Anderson, geboren 1938 in London, lehrt Soziologie und Geschichte an der University of California in Los Angeles.

Perry Anderson

Das italienische
Desaster

Aus dem Englischen
von Joachim Kalka

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der edition suhrkamp digital.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2015

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Coverfoto: © picture alliance/ANSA

Umschlag gestaltet nach einem Konzept

von Willy Fleckhaus: Bureau Johannes Erler

eISBN 978-3-518-74406-2

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Inhalt

Das italienische Desaster

Postskriptum

Anmerkungen

Europa ist krank. Wie schwerwiegend die Krankheit ist und welche Ursachen sie hat, ist nicht so einfach zu sagen. Doch unter den Krankheitssymptomen sind drei besonders auffällig, und sie hängen alle zusammen. Zunächst – das ist das bekannteste Symptom – können wir überall auf dem Kontinent einen Niedergang der Demokratie beobachten. Die Struktur der EU ist dabei sowohl Ursache als auch Auswirkung dieser Entdemokratisierung. Der oligarchische Zug ihrer Verfassungsinstitutionen, die einst nur als provisorisches Gerüst einer supranationalen Volkssouveränität gedacht waren, hat sich im Lauf der Zeit verfestigt. Die Ergebnisse von Volksabstimmungen werden regelmäßig ignoriert, wenn sie dem Willen der Herrschenden zuwiderlaufen. Die Wähler, deren Ansichten von den Eliten voller Verachtung übergangen werden, lehnen zunehmend die Versammlung ab, die sie nominell vertritt; und mit jeder weiteren Wahl sinkt die Beteiligung. Bürokraten, die nie gewählt wurden, überwachen die Haushalte nationaler Parlamente, denen sogar das Budgetrecht aberkannt wurde. Aber die Union ist keine monströse Wucherung am ansonsten gesunden Körper ihrer Mitgliedsstaaten. Sie reflektiert einerseits langfristige Tendenzen innerhalb dieser Staaten, andererseits verstärkt sie diese. Auf nationaler Ebene können die Vertreter der Exekutive ihre jeweiligen Parlamente mit immer größerer Leichtigkeit domestizieren oder manipulieren, die Parteien verlieren Mitglieder, die Wähler verlieren den Glauben in ihre Stimme, denn die politischen Möglichkeiten werden immer begrenzter, und alle Wahlkampfversprechen, die einen Wandel in Aussicht stellen, schrumpfen oder verschwinden nach dem Urnengang.

Mit diesem Abbau des demokratischen Spielraums geht eine alles durchdringende Korruption der politischen Klasse einher, ein Thema, bei dem die Politologen, die sonst so gesprächig sind, wenn es um das – wie sie es in ihrer Buchhaltersprache nennen – »Demokratiedefizit« der Union geht, bezeichnenderweise verstummen. Für die Formen dieser Korruption müsste man eine systematische Typologie erst noch entwickeln. Zum einen gibt es die Korruption vor den Wahlen: Politiker oder Parteien erhalten für die – oft unausgesprochene – Zusage künftiger Gefälligkeiten Geld aus illegalen – oder auch legalen – Quellen. Es gibt die Korruption nach den Wahlen: Der Amtsinhaber profitiert von der Veruntreuung von Steuereinnahmen oder erhält Bestechungsgeld bei Vertragsabschlüssen. Es gibt den Kauf von Einfluss oder Stimmen in den Parlamenten. Es gibt den schlichten Diebstahl von öffentlichen Geldern. Und man schönt Lebensläufe und schummelt bei Qualifikationsschriften, wenn dies einen politischen Vorteil verspricht. Die Bereicherung durch ein öffentliches Amt findet nach der Amtszeit ebenso wie währenddessen oder davor statt. Das Panorama dieser malavita ist eindrucksvoll. Ein Fresko ihrer Varianten könnte mit Helmut Kohl beginnen, der sechzehn Jahre lang Deutschland regierte und einen geheimen Parteifonds von etwa zwei Millionen Mark aus illegalen Spenden anhäufte. Als die Sache aufflog, weigerte er sich, die Namen der Spender preiszugeben – wohl aus Angst, die Gefälligkeiten, die man diesen im Gegenzug erwiesen hatte, könnten ans Licht kommen. Auf der anderen Seite des Rheins wurde Jacques Chirac, zwölf Jahre lang Präsident der Französischen Republik, wegen Unterschlagung öffentlicher Mittel, Amtsmissbrauch und Verschweigen von Interessenkonflikten verurteilt, nachdem seine Immunität an ihr Ende gekommen war. Keiner von beiden musste ins Gefängnis. Sie waren zu ihrer Zeit die zwei mächtigsten Politiker Europas. Ein kurzer Blick auf das, was sich seither ereignet hat, genügt, um die Illusion zu zerstreuen, es handele sich hier um Ausnahmefälle.

In Deutschland hat Gerhard Schröder kurz vor dem Ende seiner Kanzlerschaft dem russischen Staatskonzern Gazprom eine Kreditbürgschaft in Höhe von einer Milliarde Euro für den Bau einer Ostseepipeline gewährt, um ein paar Wochen später als Exkanzler auf der Gehaltsliste dieses Unternehmens aufzutauchen – mit einer höheren Vergütung, als er sie als Regierungsoberhaupt erhalten hatte. Seit Schröders Abgang hat Angela Merkel zusehen müssen, wie zwei Bundespräsidenten nacheinander unter merkwürdigen Umständen zum Rücktritt gezwungen wurden: Horst Köhler, der ehemalige Direktor des Internationalen Währungsfonds, der erklärt hatte, die Bundeswehr verteidige in Afghanistan deutsche Wirtschaftsinteressen, und Christian Wulff, der im Jahr 2008 als CDU-Ministerpräsident Niedersachsens von einem befreundeten Geschäftsmann einen dubiosen Kredit für den Kauf seines Wohnhauses angenommen hatte. Auch der Verteidigungsminister und die Bildungsministerin mussten zurücktreten, nachdem ihnen beiden wegen plagiierter Passagen in ihren Dissertationen der Doktortitel aberkannt worden war. Während sich Annette Schavan (eine Wegbegleiterin Angela Merkels, welche ihr das volle Vertrauen aussprach) noch an ihr Amt klammerte, bemerkte die Bild-Zeitung, wenn »ausgerechnet die Bildungsministerin bei ihrer Doktorarbeit geschummelt hat«, dann sei das in etwa so, »als würde der Finanzminister sein Geld heimlich in der Schweiz verstecken«.

Auch das ließ nicht lange auf sich warten. In Frankreich entdeckte man, dass der sozialistische Haushaltsminister, der Schönheitschirurg Jérôme Cahuzac, zu dessen Aufgaben die Überwachung der Steuerehrlichkeit gehörte, zwischen 600 000 und 15 000 000 Euro auf Geheimkonten in der Schweiz und in Singapur deponiert hatte. Inzwischen wird Nicolas Sarkozy von verschiedenen Zeugen übereinstimmend bezichtigt, er habe von Muammar al-Gaddafi etwa 50 Millionen für die Wahlkampagne erhalten, die ihn zur Präsidentschaft führte. Christine Lagarde, seine Finanzministerin, die mittlerweile dem IWF vorsteht, wird wegen ihrer Rolle bei der Gewährung einer »Kompensation« von 420 Millionen Euro an Bernard Tapie verhört, einen bekannten vorbestraften Betrüger und neuerdings guten Freund von Sarkozy. Die nonchalante Nähe zur Kriminalität ist parteiübergreifend: François Hollande, der jetzige Präsident der Republik, ließ sich auf dem Sozius eines Motorrollers zu den Rendezvous mit seiner Geliebten in die Wohnung der Freundin eines korsischen Mafioso fahren. Kurz bevor die Affäre im Januar 2014 öffentlich wurde, war dieser bei einer Schießerei ums Leben gekommen.

In Großbritannien gelangten rund einen Monat später SMS des einstigen Premierministers Tony Blair an die Öffentlichkeit, in denen er der Journalistin Rebekah Brooks gute Ratschläge erteilt hatte, als diese sich im Juli 2011 im News of the World-Skandal wegen illegaler Abhöraktionen und Behinderung der Justiz von einer Gefängnisstrafe bedroht sah: »Bleib stark, und auf jeden Fall Schlaftabletten. Es geht vorbei. Werde hart.« Außerdem solle sie einen »Bericht wie den Hutton Report« veröffentlichen, mit dessen Hilfe es Blair selbst gelungen war, sich von Vorwürfen im Zusammenhang mit dem Tod eines Whistleblowers reinzuwaschen. Dieser hatte Details zur britischen Beteiligung im Irakkrieg durchgestochen – einer Invasion, infolge deren Blair für seine Tony Blair Faith Foundation bis heute weltweit lukrative Honorare und Verträge an Land zieht. Prominente Beispiele unter den Geldgebern sind eine südkoreanische Ölfirma, die von einem vorbestraften Kriminellen mit einschlägigen Interessen im Irak geleitet wurde, und die königliche Herrscherfamilie Kuwaits. Die Belohnung, die Blair weiter östlich für seine Dienste als eifriger Berater der Nasarbajew-Diktatur erhielt, soll sich auf mehrere Millionen Euro belaufen haben. (Blair wörtlich: »Was Kasachstan schon erreicht hat, ist wundervoll. Sie aber, Herr Präsident, haben in Ihrer Botschaft an die Nation neue Höhen umrissen.«) In der Heimat erhielt er im Gegenzug für Gefälligkeiten, über die er im Parlament log, ohne rot zu werden, Spenden in Höhe von einer Million Pfund von dem Formel-1-Magnaten Bernie Ecclestone, der sich seinerseits später in Bayern wegen Bestechungssummen in Höhe von 33 Millionen vor Gericht verantworten musste. Es gehörte zur Kultur von New Labour, dass führende Politiker aus dem Zirkel um Blair – so wie Stephen Byers, ehemaliger Handels- und Industrie- und späterer Verkehrsminister, Geoff Hoon, ehemaliger Verteidigungsminister, und Patricia Hewitt, ebenfalls ehemals Industrie- und Verkehrsministerin sowie später Gesundheitsministerin – an einem Tag ein Ministerium leiten konnten, um sich schon am nächsten zum Kauf anzubieten. In diesen Jahren entpuppte sich das britische Unterhaus als ein einziger Sumpf kleinerer Unterschlagungen von Steuergeldern – und zwar quer durch alle Parteien. Einige Jahre zuvor, im Oktober 2007, hatte sich in Irland der Chef der Partei Fianna Fail, Bertie Ahern, selbst zum bestbezahlten Premier Europas gemacht – mit einem Jahresgehalt von 310 000 Euro, das ist in etwa so viel, wie der Präsident der Vereinigten Staaten verdient. Zuvor hatte er während seiner Zeit als Finanzminister Anfang der neunziger Jahre 400 000 Euro an nicht näher begründeten Zahlungen eingesteckt. Der über Jahre schwelende Bestechungsskandal führte neben weiteren Korruptionsvorwürfen am 6. Mai 2008 schließlich zu Aherns unrühmlichem Abgang. In Spanien wurde der gegenwärtige Ministerpräsident und Vorsitzende des bürgerlich konservativen Partido Popular, Mariano Rajoy, unter anderem im Zusammenhang mit der Vergabe von Bauaufträgen der Annahme von Bestechungsgeldern überführt. Die Zahlungen beliefen sich über ein Jahrzehnt hinweg auf insgesamt eine Viertelmillion Euro. Empfangen hatte Rajoy sie von Luis Bárcenas, mehr als zwanzig Jahre lang Schatzmeister von Rajoys Partei, der mittlerweile verhaftet wurde, weil er auf nicht deklarierten Schweizer Konten 48 Millionen Euro gehortet hatte. Die handgeschriebenen Originalunterlagen der Kontoführung, die Bárcenas’ Überweisungen an Rajoy und andere Notabeln des Partido Popular auflisten (darunter Rodrigo Rato, ein weiterer einstiger Chef des IWF), wurden in der spanischen Presse in aller Ausführlichkeit abgedruckt. Als es zum Skandal gekommen war, schrieb Rajoy eine SMS an Bárcenas, deren Wortlaut nahezu identisch ist mit Blairs Rat an Rebekah Brooks: »Luis, ich verstehe alles. Bleib stark, ich rufe dich morgen an. Umarme dich.« Rajoy sitzt den Skandal einstweilen ungerührt im Moncloa-Palast aus, auch wenn ihn 85 Prozent der Spanier für einen Lügner halten.

In Griechenland hatte Akis Tsochatzopoulos, nacheinander Innen-, Verteidigungs- und Entwicklungsminister in PASOK-Regierungen und ein Mann, der einmal ganz nahe daran war, zum Führer der griechischen Sozialdemokratie aufzusteigen, weniger Glück. Er wurde im Oktober 2013 für seine eindrucksvolle Karriere der Geldwäsche und Bestechlichkeit zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt. Im Nachbarstaat hat Recep Tayyip Erdogan (lange Zeit von den Medien und vom intellektuellen Establishment Europas als der größte demokratische Staatsmann der Türkei gefeiert, dessen Politik dem Land eine Art EU-Ehrenmitgliedschaft vor der Zeit einbrachte) gezeigt, dass er vielleicht auch in anderer Hinsicht würdig wäre, in die Phalanx der EU-Führung aufgenommen zu werden: In mitgeschnittenen Telefongesprächen, die im Februar 2014 auf Youtube veröffentlicht wurden und deren Echtheit Erdogan bis heute nicht offiziell bestätigt hat, soll er seinem Sohn die Anweisungen gegeben haben, mehrere Millionen in bar vor Korruptionsermittlern in Sicherheit zu bringen und eine Bestechungssumme von zehn Millionen Dollar für die Auftragsvergabe zum Bau einer Pipeline noch weiter in die Höhe zu treiben. Drei Minister stürzten über ähnliche Enthüllungen, bis Erdogan die gesamte Polizei und Justiz umfassend säuberte, um sicherzugehen, dass die Sache keine weiteren Wellen schlug. Zur selben Zeit veröffentlichte die EU-Kommission ihren ersten offiziellen Bericht über die Korruption in den Mitgliedsstaaten der Union, deren Ausmaß die ihn vorlegende Kommissarin »atemberaubend« nannte: Die wirtschaftlichen Kosten, die durch Korruption in den Mitgliedsstaaten der EU verursacht werden, schätzt die Kommission auf jährlich bis zu 120 Milliarden Euro. Das ist ein Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts der EU – wobei die tatsächliche Zahl »wahrscheinlich viel höher« anzusetzen sei. Klugerweise befasste sich der Bericht lediglich mit den Mitgliedsländern. Die EU selbst – die Leserinnen und Leser werden sich vielleicht noch erinnern, dass vor einigen Jahren eine Kommission wegen Korruptionsvorwürfen zurücktrat – war nicht Gegenstand des Berichts.

Dass in einer Union, die sich der Welt gerne als moralische Instanz präsentiert, die Entscheidungszentren derart durch Geld und Betrug verunreinigt sind, ist eine Folge des Umstands, dass die Demokratie nach und nach ihre Substanz verliert und dass sich die Bürger immer weniger engagieren.

Eliten, die weder reale politische Kämpfe an der Führungsspitze noch wirkliche Kontrolle von unten fürchten müssen, können es sich leisten, sich in aller Ruhe und ohne Angst vor Strafverfolgung zu bereichern. Enthüllungen verschiedenster Art wiegen nicht mehr schwer, wenn Straflosigkeit zur Regel wird. Ähnlich wie Bankiers gehen führende Politiker in den seltensten Fällen ins Gefängnis. Aus dem oben geschilderten Panorama musste nur ein älterer Grieche je dieses Schicksal erleiden. Aber Korruption ist nicht lediglich eine Folge des Verfalls der politischen Ordnung. Sie ist natürlich auch ein Symptom des ökonomischen Regimes, das Europa seit den achtziger Jahren gefesselt hält. In einem neoliberalen Universum, in dem die Märkte der Maßstab aller Werte sind, wird Geld noch offensichtlicher als je zuvor zum Maß aller Dinge. Wenn sich Krankenhäuser, Schulen und Gefängnisse privatisieren und in profitorientierte Unternehmen verwandeln lassen, warum nicht auch politische Ämter?

Über den kulturellen Fallout des Neoliberalismus hinaus muss man jedoch seine Wirkung als sozioökonomisches System berücksichtigen – das dritte und in der Wahrnehmung der Bevölkerung gewiss alarmierendste Symptom des erkrankten Europa. Dass die Wirtschaftskrise, die ab 2008 die ganze westliche Welt erfasste, eine Folge der über Jahrzehnte vorangetriebenen Deregulierung und des Anstiegs der privaten und öffentlichen Verschuldung war, geben selbst ihre Architekten mittlerweile mehr oder weniger offen zu – siehe Alan Greenspan. Angesichts der engen transatlantischen Verbindungen waren die europäischen Banken und Immobilienunternehmen ebenso tief in das Debakel verstrickt wie die US-amerikanischen. In der EU wurde diese allgemeine Krise durch eine Besonderheit verkompliziert – nämlich die Verzerrungen, die dadurch entstanden sind, dass höchst unterschiedlichen nationalen Ökonomien eine einzige Währung auferlegt worden ist. Dies trieb die besonders verletzbaren Nationen an den Rand des Bankrotts, als die umfassende Krise ausbrach. Wie sah das Heilmittel aus? Auf Druck von Berlin und Brüssel beließ man es nicht bei einem klassischen Sparprogramm wie in der Zwischenkriegszeit, als Churchill und Brüning die Staatsausgaben drastisch kürzten, sondern ergänzte es um einen Fiskalpakt: Alle unterzeichnenden Staaten mussten in ihre nationale Verfassung eine Budget-Defizit-Obergrenze von drei Prozent aufnehmen, wodurch ein extrem einseitiges ökonomisches Dogma auf eine Stufe mit rechtsstaatlichen Prinzipien wie der Meinungsfreiheit, der Gleichheit vor dem Gesetz, dem Schutz vor willkürlicher Verhaftung oder der Gewaltenteilung gestellt wurde. Spontan würde man denken, ein krasseres Indiz dafür, was die EU-Oligarchie von diesen Prinzipien hält, sei kaum vorstellbar – wären da nicht jene Fälle aus der jüngsten Vergangenheit, als man sich an der Auslieferung verdächtiger Personen beteiligte, die schließlich in Foltergefängnissen landeten.

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