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J. H. O. Kern

Unter schwarz-weiß-roter Flagge

Ernste und heitere Geschichten aus dem Leben deutscher Seeleute





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Zum Buch

Bei den spannenden Erzählungen dieses Bandes handelt es sich um wahre Begebenheiten, die sich der Autor Ende des 19. Jahrhunderts in einer Gastwirtschaft von verschiedenen altgedienten Seekapitänen erzählen ließ.

 

Coverbild: IamSuperPear / Shutterstock.com

 

Im „Passat“

Es war um Weihnachten 1889, als ich am späten Nachmittag einen Spaziergang um die Stadt machte und dabei auch an den Hafen gelangte. Für den Augenblick schneite es nicht; aber der scharfe Frost ließ den während der letzten Tage ununterbrochen gefallenen Schnee unter meinen Füßen knirschen und ein eisiger Ostwind pfiff durch das stehengebliebene Gut der zahlreichen Schiffe, welche mit gestrichenen Bramstengen und getoppten großen Rahen am Bollwerk befestigt waren.

Beinahe schauerlich war der Eindruck dieser vom Eise umschlossenen, unbenutzt daliegenden Segler und Dampfer. Vom Felde heimkehrende Krähen nahmen eine kurze Rast auf den mit Schnee bedeckten Stagen und Spieren, kreischten ihr unangenehmes Nachtlied und schwebten dann den Kirchendächern zu, um ihr gewohntes Obdach aufzusuchen. Der Mond schien hell auf weißbekleidete Winterlandschaft und auf die mit einer festen Eisdecke belegte Warnow, auf welcher sich trotz der vorgerückten Stunde noch manche Schlittschuhläufer auf und ab bewegten.

Unwillkürlich drängte sich mir der Vergleich auf zwischen den wie ausgestorben daliegenden Schiffen, welche der Frost an die Heimat bannte, und den mit leuchtenden Segeln behängten flinken Klippern, welche sonst alle Meere durchkreuzen. Auch diese Barken und Briggs hatten Gegenden besucht, wo man den Winter nicht kennt, und waren glücklich wieder in die raue Heimat zurückgekehrt. Was hatte ihre Mannschaft inzwischen gesehen und erlebt? Wohl häufig Not und Sorge. Lebhaft versetzte ich mich in einzelne der möglichen Lagen hinein und bedauerte dabei, dass die Zeugen jener sicherlich vorhandenen Erlebnisse einer Landratte gegenüber den Mund verschlossen zu halten pflegen.

Aus manchen Wirtschaften am Strande tönte laute Fröhlichkeit bis auf die Straße hinaus. Es sind dies die Stätten, wo die zur Matrosenklasse gehörigen Seeleute einige Abendstunden miteinander verleben und wo sie Entschädigung suchen für all die Mühe und Arbeit, welche die oft mehrere Jahre dauernde letzte Abwesenheit von der Heimat mit sich brachte. Manche schwieligen Hände drücken sich da nach langer Trennung. Seit dem Verlassen der Schulbank haben sich Fritz und Daniel, Gottlieb und Christel kaum wiedergesehen, vielleicht zufällig einmal in fremden Häfen; hier in der Heimat treffen sie sich endlich wieder und finden in der Zwischenzeit reichlich Stoff, um monatelang miteinander zu plaudern.

Ich stand vor einem der besseren Gasthäuser still, welches ich schon manchmal besucht hatte. Es nennt sich Im Passat, ist eine durchaus anständige Wirtschaft und wegen der vortrefflichen Getränke, nicht minder auch wegen der Drolligkeit ihres Inhabers in der ganzen Stadt vorteilhaft bekannt. Die Kapitäne und Steuerleute der im Winterhafen liegenden Schiffe, die Verkäufer von Schiffsbedürfnissen, die Inhaber der großen Werkstätten, welche die Ausrüstung der Schiffe beschaffen, Kaufleute aus überseeischen Geschäften, Studenten und höhere Zollbeamte machen die Kundschaft dieser Bierstube aus. Der Name ist recht passend gewählt. Wie der Seemann während der langen Schläge im Passat kaum Prassen und Schoten zu rühren braucht und fast ohne Ausnahme von gleichmäßig schönem Wetter begleitet wird, so ruhen hier die Seeleute in der rauen Jahreszeit von all dem Schaukeln und Stampfen, von Sturm und Nässe, von Hitze und Kälte an ihrem großen runden Tische aus.

Halb zog es mich in die Gaststube hinein, weil ich es für möglich hielt, dass ich einige Seegeschichten belauschte, welche ich meinen jugendlichen Lesern wiedererzählen könnte, halb verzweifelte ich an dem Erfolg, weil ich diesen Raum so oft vergeblich besucht hatte. Der Seemann scherzt und plaudert gern mit seinesgleichen, erzählt aber nicht von seinen Erlebnissen, wenigstens nicht das, wonach ich Verlangen trug, und ist sehr wählerisch mit seinen Zuhörern. Ihn stört die Anwesenheit eines Laien, wenn er wirklich einmal zum Berichten außergewöhnlicher Abenteuer aufgelegt ist, und er bricht beim Hinzutreten eines nicht zünftigen Gastes nicht selten seine begonnene Erzählung ab.

Schon auf der Heimkehr begriffen, traf ich einen mir befreundeten Herrn namens Reinhold, einen Lehrer an der Navigationsschule, welcher als Stammgast im Passat verkehrt. Aus der Seemannslaufbahn hervorgegangen, wird er von den alten Seebären als zu ihnen gehörig betrachtet.

„Woher? Wohin? Wie kommen Sie in diese Gegend?“

Die Fragen waren bald beantwortet, und mein Freund drehte mich lächelnd mit den Worten um: „Treten Sie nur einmal mit mir zugleich an den runden Tisch! Ich will versuchen, die alten Blaujacken zum Reden zu bringen; aber verraten Sie Ihre Absicht nicht!“

Wir schritten geradewegs auf den Stammtisch zu, an welchem bereits mehrere ernst aussehende Kapitäne saßen. Als Herr Reinhold, welcher mehrere Jahre auf der Bark des einen von ihnen als Steuermann gefahren hatte, mich vorstellte, verstatteten sie mir gern einen Platz in ihrer Mitte. Beim Glase Bier fand sich bald Stoff zu lebhafter Unterhaltung, und mein Freund wusste dieselbe allmählich auf ferne Meeresgegenden hinzulenken. Er berichtete selber, was er an Bord der Sturmvogel erlebt hätte, und sein früherer Kapitän ergänzte hier und da die absichtlich lückenhaft gelassene Erzählung. Andere Seeleute kamen hinzu, hörten, worüber gesprochen wurde, sahen dadurch auch in ihrer Erinnerung die spannendsten Begebenheiten wieder aufleben und nahmen anfangs durch eingeworfene Bemerkungen, darauf durch vollständige Beiträge an der Unterhaltung der Gesellschaft teil.

Mit einem Male hatte ich alles, was ich wünschte, zog Papier und Bleifeder aus der Tasche und suchte in der Eile von dem Erzählten so viel festzuhalten, als zur späteren Wiedergabe wünschenswert war. Scherz und Ernst, drollige und aufregende Begebenheiten lösten einander ab, eine wahre Mustersammlung von Vorkommnissen, welche dem deutschen Seemann in allen Zonen beschieden sind.

Nachdem ich so erfolgreich in die Gesellschaft dieser biederen Männer eingeführt worden war, besuchte ich das Gasthaus selbstverständlich noch häufiger; und wenn ich auch von einigen Vätern bald als Verfasser von Jugendschriften aus dem Bereich der Seefahrt erkannt wurde, so entfremdete mir dieser Umstand die Erzähler doch nicht mehr. Im Gegenteil, mancher von ihnen sah es unverkennbar gern, dass der von ihm berichtete Vorfall Aussicht hatte, veröffentlicht zu werden, bat höchstens, dass ich seinen und des Schiffes Namen ändern möchte.

Aus dem nun, was ich an dem runden Tisch dieser deutschen Seeleute erfuhr, habe ich dasjenige ausgewählt, was die heranwachsende Jugend voraussichtlich mit Vergnügen lesen wird.

Möge dieser Band seinen Zweck erfüllen, nämlich den, der munteren Knabenwelt anregende Unterhaltung und Aufklärung über mache Fragen zu bieten, welche mit dem erfreulichen Anwachsen der deutschen Seemacht und dem Wetteifer unserer Handelsflotte mit den bedeutendsten seefahrenden Völkern täglich an Wichtigkeit gewinnen!

Der beherzte deutsche Schiffsjunge

Auf der Schiffergesellschaft hängt in Öl gemalt das lebensgroße Brustbild eines jungen Seemannes, von welchem der Volksmund nachstehende rühmenswerte Tat zu erzählen weiß.

Es war am Anfang des achtzehnten Jahrhunderts. Gibraltar war noch im Besitze der Spanier und das Mittelländische Meer von den seeräuberischen Barbaresken unsicher gemacht, als die Brigg Juno, Kapitän Treu, durch die Säulen des Herkules nach Osten steuerte, um Südfrüchte von Livorno zu holen. Die Brigg führte eine Besatzung von zwölf Mann, darunter drei kaum dem Knabenalter entwachsene Jünglinge. Die Bewaffnung des deutschen Schiffes war mangelhaft genug; doch glaubte Kapitän Treu auf die zwischen den norddeutschen Seestädten und den Beherrschern von Tunis, Tripolis und Algier abgeschlossenen Verträge rechnen zu können und hielt sich vor einem Überfall durch die Seeräuber sicher.

Von den obengenannten Schiffsjungen zeichnete sich Hans Pinnow, der Sohn eines Ratsherrn, durch Keckheit und Lust zu gewagten Streichen aus. Es ist dasselbe, dessen Bildnis noch heute mit Achtung betrachtet wird. Hatte Hans Pinnow sich auf der Schule auch manches zuschulden kommen lassen, so machte er sich auf der Juno umso besser, begriff bald die schwierigsten Arbeiten und ersetzte das fehlende Schulwissen durch seinen klaren Verstand.

Kaum sechsunddreißig Stunden waren seit dem Verlassen der Meerenge verflossen und die Juno mühte sich gegen Strom und Wind nach Osten hinauf, da erblickte man plötzlich oberhalb des Windes zwei verdächtige Fahrzeuge, welche ohne Frage den Kurs der deutschen Brigg kreuzen wollten. Auch der Laie hätte sofort bemerkt, dass diese beiden Schiffe mit dem weißen Halbmond im roten Felde viel schneller wären als die schwerfällige Juno. An Flucht war deshalb nicht zu denken.

Je näher die beiden Raubschiffe kamen, desto mehr schwand die Zuversicht des deutschen Kapitäns. Vergeblich zeigte er die Flagge seines Landes und seines Heimathafens; die Seeräuber hielten in geradester Richtung auf ihn zu und gaben ihm, als sie nahe genug herangekommen waren, durch eine vor seinem Auge vorbeipfeifende Kugel die Weisung, dass er beidrehen, das heißt sein Segel so stellen solle, dass die Brigg sich nicht von der Stelle bewege.

„Hole an Segeln herunter, Steuermann, was irgend entbehrt werden kann und uns beim Kampfe hinderlich ist!“, befahl Kapitän Treu, welcher über den Vertragsbruch erbittert und zur Verteidigung seines Schiffes entschlossen war. „Ihr Jungen, bringt Pistolen und Entermesser herauf, und sehe dann jeder zu, wie er Leben und Freihält behält! Fangen sie uns lebendig, so werden wir auf dem Markte von Algier als Sklaven verkauft, sehen unsere Heimat niemals wieder.“

Einige Minuten später war die deutsche Brigg, so gut wie das bei der spärlichen Besatzung möglich war, zur Abwehr der überlegenen Seeräuber gerüstet. Mit den Waffen in der Hand suchten die Matrosen Deckung vor den jeden Augenblick zu erwartenden feindlichen Kugeln, förmlich darauf erpicht, die schändlichen Barbaresken niederzuschießen, sobald sie das Schiff entern sollten.

Kapitän Treu stieg auf das Dach des Mannschaftsraumes, welches über das Deck hervorragte, und rief den Räubern durch das Sprachrohr zu, er wäre in die Verträge mit dem protestantischen Norden eingeschlossen, verlange deshalb, dass sie ihn ungehindert segeln ließen. Als Antwort aber schallte ein Wutgebrüll aus wenigstens fünfzig Kehlen von dem Verdeck der beiden Raubschiffe nach der Juno herüber und eine zweite, diesmal wohlgezielte Kugel zersplitterte den Fockmast der trotzigen Brigg.

Ehe sich noch die deutschen Seeleute, welche von den herabstürzenden Spieren nicht erschlagen oder schwer verwundet worden waren, aus dem Gewirr von Segeln und Tauen befreien konnten, hatten die Barbaresken ihre Schiffe an den Seiten der Juno festgelegt, sprangen mit wildem Kriegsgeschrei auf deren Deck hinüber und hieben unbarmherzig nieder, was sich zur Wehr setzte. Der Steuermann lag, von der Marsrah getroffen, tot auf dem Verdeck, unweit von ihm der Bootsmann und ein Matrose mit zerschmetterten Knochen, aber noch lebend. Zwei Matrosen fielen im Handgemenge. Der Kapitän, der Koch, zwei Matrosen und die drei Jungen wurden mehr oder weniger schwer verwundet und nach tapferster Gegenwehr in Fesseln gelegt. Dieser Überfall geschah im Jahre 1702, kaum dreißig Seemeilen von den Küsten Spaniens entfernt, welches die Räuber unablässig bekriegte.

Als die Mannschaft des deutschen Schiffes überwältigt worden war, luden die Barbaresken von der aus Weizen bestehenden Ladung so viel auf ihre Schiffe hinüber, als diese aufzunehmen vermochten. Auch alles, was sich an Wertsachen, Instrumenten, Uhren, Lebensmitteln, Segeln, Tauen und Schiffsgeräten auf der Juno befand, wurde auf die beiden Raubschiffe verteilt.

Noch lagen die Gefangenen in ohnmächtiger Wut und von ihren schmerzhaften Wunden geplagt, auf dem Verdeck der Brigg, als diese schon von den Bösewichten angebohrt wurde und merklich tiefer in das Wasser hineintauchte. Sollten die Seeräuber wirklich so unmenschlich sein, uns lebendig zu versenken?, fragte sich jeder von ihnen. Die Entscheidung über Tod und Leben hing von den arabischen Schiffsoffizieren ab, welche eine sehr stürmische Beratung pflogen. Endlich – schon spülten die nur flach laufenden Wellen auf das Verdeck hinauf – wurden die unglücklichen Männer aus ihrer Todesangst befreit. Um gegen Auflehnung möglichst gesichert zu sein, teilten sich die Führer der beiden Raubschiffe in die sieben Gefangenen, und zwar so, dass der Kapitän, der Koch und ein Matrose auf das eine, der zweite Matrose und die drei Schiffsjungen auf das andere Raubschiff hinübergeworfen wurden.

Hans Pinnow hätte sich das große Verdienst, von welchem wir erzählen wollen, nicht erwerben können, wenn die Seeräuber sofort nach Algier gesteuert wären. Aber sie zogen es vor, das Getreide erst in Kleinasien zu verkaufen. So hatten die Wunden der deutschen Seeleute Zeit zu heilen; ihre Kräfte kehrten wieder, und sie wussten sich das Vertrauen ihrer Peiniger wenigstens so weit zu erwerben, dass man sie frei auf dem Verdeck herumgehen ließ, auch zur Hilfe bei den Arbeiten heranzog.

Hans war fest entschlossen, sein Leben für die Freiheit einzusetzen. Durch unermüdliche Überredung und anschauliches Ausmalen der traurigen Lage, welcher sie als Sklaven entgegengingen, gewann er auf der Rückfahrt Julius und Robert, die beiden anderen Jungen, für seinen Plan, während der ältere Matrose Michel vor der kühnen Tat zurückschreckte. Vergeblich erinnerte ihn Hans an Weib und Kinder daheim, an sein Häuschen, an das stille Glück, welches er in seinen alten Tagen genießen könnte – Michel weigerte sich entschieden, etwas gegen die Räuber zu unternehmen.

„So handle meinetwegen, wie es deine Feigheit zulässt!“, rief ihm Hans verächtlich zu. „Es tut mir leid, dass ich die Aufforderung zu einer braven Tat an einen so unwürdigen Menschen richtete. Du bist fürwahr ein geborener Knecht, Michel, und erlebst keine Verschlimmerung, wenn man dich als Sklaven verkauft, da du dein Schicksal von dem unsrigen getrennt. Wundere dich also nicht, wenn ich nach glücklicher Ausführung unseres Vorhabens dafür Sorge trage, dass du in dem ersten besten spanischen Hafen wegen Verrats gegen einen Teil der Mannschaft an den Galgen gehängt wirst!“

 

Wohl fünf Tage waren seit dieser letzten Unterredung vergangen, als sich ein schweres Wetter erhob und die beiden Raubschiffe voneinander trennte. Zwei volle Tage und Nächte kämpften die arabischen und deutschen Seeleute gemeinsam gegen die entfesselte Wut von Luft und Wasser, waren müde und kraftlos, als der Sturm sich endlich legte und die Oberfläche des Meeres wieder ihr heiteres Aussehen annahm.

Die Gelegenheit zur Ausführung eines Handstreichs konnte nicht günstiger sein. Die Mauren, viel weniger widerstandsfähig als unsere nordischen Seefahrer, streckten sich träge auf ihre Teppiche unter Deck und suchten die aufgewendeten Kräfte im Schlafe wiederzugewinnen.

Dem Matrosen Michel war recht schwer ums Herz; die Drohungen, welche Hans Pinnow gegen ihn ausgestoßen hatte, ängstigten ihn gewaltig. War Hans auch noch ein sehr junger Bursche, so besaß er doch den festesten Willen, und Michel fürchtete, dass jener seine Drohung wahr machen würde. Überwältigten sie die Barbaresken nicht, so erwartete ihn in Afrika die Sklaverei, in Europa der Tod. Das war eine grausame Vorstellung für Michels ängstliches Herz. Vielleicht – sagte er sich – wäre es für mich doch besser, wenn ich gemeinsame Sache mit den drei Schiffsjungen machte, die Freiheit erkämpfen hülfe und dann zu meinen Lieben heimkehrte. Wahrscheinlich hatte auch die Entfernung des anderen Schiffes einen Einfluss auf seine Willensänderung gehabt: Kurz, Michel trat an dem auf den Sturm folgenden Morgen an Hans Pinnow heran und versicherte ihm, dass er auf seine Mitwirkung rechnen könne.

„Das freut mich, Michel“, antwortete Hans versöhnt und reichte dem noch kurz vorher so arg verschmähten Matrosen die Hand. „Glaube mir, der Tod ist schöner als ein Leben in Schande und Knechtschaft! Verlassen wir uns selber nicht, so hilft uns Gott. Ich hoffe, dass deine starken Arme unser Vorhaben bedeutend erleichtern werden. Robert und Julius haben sich unter meinen Befehl gestellt, weil sie glauben, ich besäße mehr Geistesgegenwart als sie. Bist du auch bereit, dich mir unterzuordnen, bis wir die Herren dieses Fahrzeugs sind?“

„Von Herzen gern!“, versetzte Michel. „Ich tauge auch nicht dazu, den Befehl zu führen.“

„So gib Acht auf jeden Wink! Wir dürfen nicht säumen.“

Vor einem frischen Winde lief das Raubschiff nach Westen hin. Der Kapitän Hussein Ali führte selbst den Befehl auf Deck; einer seiner Leute stand am Ruder, zwei andere und die vier deutschen Seeleute saßen oder lagen hier und da. Kein Ende brauchte gerührt zu werden, weil der Ostwind regelmäßig blies. Hans kam von vorn nach hinten und flüsterte dabei den Mitverschworenen zu, wenn er an ihnen vorbeiging: „Hussein Ali muss sterben! Ich weiß keinen anderen Ausweg, als dass wir ihn über Bord werfen. Sobald ich huste, stürzt ihr euch auf ihn!“

Auf diesem Wege nach hinten bemerkte Hans, dass die beiden wachhabenden Räuber eingenickt waren. Er winkte Robert, welcher ihm am nächsten stand. Beide bemächtigten sich der neben den Räubern liegenden Säbel und schoben dieselben hinter ihrem eigenen Rücken in den Ledergurt.

Ahnungslos lehnte Hussein Ali an der Bordwand im Hinterschiff und blickte in das schäumende Meer hinab, als Hans sich räusperte und die Genossen herbeieilten. Bevor noch der am Ruder stehende Araber einen warnenden Ruf ausstoßen konnte, hatte Michel den überraschten Kapitän mit seinen riesigen Fäusten gepackt, hob den dürren, leichten Mann wie ein Spielzeug empor und fragte: „Soll ich, Hans?“

„Wir müssen leider“, erwiderte dieser und riss noch schnell eine Doppelpistole aus der seidenen Schärpe, welche Hussein Ali um seinen Leib gewunden hatte. Ein Plätschern im Wasser – und das Raubschiff segelte ohne Hauptmann weiter.

Nun aber galt es, hurtig zu sein. Der Mann am Ruder schrie aus Leibeskräften, um die beiden Genossen an Deck zu wecken und die unter Deck befindliche Mannschaft heraufzurufen. Doch Michel bedurfte nur eines Hinweises; mit einem derben Faustschlage streckte er den Knirps zu Boden, dass er betäubt liegen blieb. Wohl erwachten jetzt die beiden Schläfer, sprangen empor und versuchten, durch die Luke in den Schiffsraum zu entkommen; doch hier stand Michel mit geballten Fäusten, und sie besaßen keine Waffe, um ihn von dort zu vertreiben.

„Wir müssen die Luke schleunigst schließen, Freunde!“, rief Hans. „Der Sieg ist unser. Um jene beiden Kerle quält euch nicht! Mit denen rechnen wir später ab.“

Mit Säbeln und Pistolen wehrten die vier Genossen die von unten Andringenden ab, schlossen die Kappe und legten die Schienen darüber.

„Gefangen in der eigenen Grube!“, jubelte Hans. „Die sollen schon bleiben. Geh ans Ruder, Robert und steuere nach Nordwest!“

Nach glücklich vollbrachter Tat wurden die Segel angebrasst und Julius in die menschenleere Kajüte des Kapitäns geschickt, neben welcher die Vorräte an Lebensmitteln aufbewahrt wurden. Eine Verbindung zwischen dem Raum und der Kajüte gab es nicht. Es fehlte an nichts, selbst nicht an Wein und Rum, obgleich sich Hussein Ali zum Islam bekannt hatte.

Die vier Genossen hielten eine vortreffliche Mahlzeit und kümmerten sich weder um die unter ihren Füßen tobende Menge, noch um die beiden in den Mast geflüchteten Männer, noch um den stöhnenden Burschen, welcher durch Michel zu Boden gestreckt worden war.

Als das eroberte Raubschiff schon zehn Stunden lang mit vollen Segeln dem Hafen von Malaga zulief, kamen die beiden Mauren herab und wurden gleich dem früheren Rudersmann in Eisen gelegt.

 

Drei Tage später erreichte Hans diesen Nothafen. Als nun die Luken geöffnet wurden, stieg niemand herauf. Die unten eingeschlossenen Räuber waren durch Hunger, Durst, schlechte Luft und ausgestandene Ängste derartig geschwächt, dass sie heraufgetragen werden mussten. Im Ganzen hatte Hans Pinnow dreiundzwanzig Gefangene gemacht, welche, wie es damals noch Brauch in Spanien war, als Sklaven verkauft wurden.

„Das ist viel, mehr, als die Schurken wert sind!“, sagte Hans, als ihm für jeden seiner gelandeten Gäste fünfzig spanische Taler gezahlt wurden. „Da könnte man beinahe Lust bekommen, dauernd auf solch Gesindel Jagd zu machen.“

Aber er tat es nicht. Er wagte sich mit seinen drei Gefährten mit dem leichtgebauten Schiff in den Ozean hinaus und segelte im Spätherbst desselben Jahres zum Erstaunen seiner Landsleute in den heimatlichen Hafen ein.

Von Kapitän Treu und seinen beiden Schicksalsgenossen ist niemals eine Kunde in die Heimat gelangt.

Das gestörte Sedanfest

Unsere Fregatte – nennen wir sie Aurora – befand sich mitten in der Chinesischen See, als der 2. September anbrach, dessen festliche Begehung auch wir Kadetten nicht unterlassen wollten. Der erste Offizier, ein tüchtiger Seemann freilich, aber ein noch härterer Zuchtmeister für uns angehende Seehelden, hatte uns an diesem für ganz Deutschland so hohen Feiertage keine besonderen Freuden zugedacht. Vormittags mussten wir einige Stunden „Niobe spielen“, das heißt im Kreuztop alle möglichen Segelübungen vornehmen; eine eigentümliche Art Volksfeste einzuleiten – dachten wir. Doch wir murrten nicht, sondern vertrösteten uns auf die zweite Hälfte des Tages. Aber auch diese Hoffnung ward zu Wasser, da der Herr Kapitän die Offiziere zu seiner Tafel einlud, ohne dass auch nur an einen von uns der Befehl zur Teilnahme ergangen wäre.

Um uns einigermaßen schadlos zu halten, hatten wir Junker beschlossen, abends einen kräftigen Mischtrunk zu bereiten; nur wussten wir nicht, wo wir diese natürlich geheim zu haltende Feier begehen sollten. Da uns die nachgesuchte Erlaubnis, ausnahmsweise in der Kadettenmesse zu rauchen, von dem „Ersten“ verweigert wurde, ein Kadett sich aber nun einmal nicht ohne duftenden Tabak vor einen gefüllten Mischkrug setzen kann, so verfiel einer von uns auf den närrischen Gedanken, die Kneiptafel in dem Heizraume aufzuschlagen, das heißt ganz unten im Schiff zwischen den Kesseln. Der gute Rat ward ohne viel Besinnen zum Beschluss erhaben, und die Zurüstungen nahmen ihren Anfang.

Der gewählte Ort schien für unser Vorhaben in jeder Weise günstig zu sein. Die Aurora lief nämlich schon mehrere Tage ohne Dampf vor dem frischen Nordost-Monsun dahin. Sicherlich kam niemand auf den Gedanken, dass die deutschen Zukunftsadmiräle sich heimlich zu einem Trinkgelage vereint, geschweige denn, dass sie sich, nur um rauchen zu dürfen, diesen gern gemiedenen Ort für ihre fröhliche Geselligkeit ausgesucht hätten.

Abends nach Sonnenuntergang schlüpfte von den wachfreien Junkern einer nach dem anderen in die Tiefe hinab; keiner vermisste sie; keiner suchte sie. Ich selber war, was ich anfangs schmerzlich bedauerte, durch Wachdienst behindert, an den verbotenen Freuden teilzunehmen; nur die Einleitung machte ich mit.

Verführerisch duftete bereits der Inhalt der auf einer Bank stehenden gewaltigen Suppenschüssel den Kadetten entgegen, welche, jeder ein anderes Trinkgefäß in der Hand, auf den Augenblick warteten, wo der zum Leiter des Festes ernannte älteste Kamerad das Zeichen zum Angriff geben würde.

Endlich füllten sich die Gläser, Tassen und Töpfe, klirrend stießen sie aneinander; doppelt herrlich mundete ihr Inhalt in dem Bewusstsein, dem bestgehassten Spielverderber doch eine Nase zu drehen.

Aber ein fröhliches Fest ohne kräftigen Männergesang? Das schien den Kadetten unmöglich, weshalb denn auch sofort nach der ersten Probe ein volltönendes Lied um den unterirdischen Mischkrug angestimmt wurde.

Aber o weh! Die durch ihre glühende Vaterlandsliebe verblendeten Junker hatten dabei einige wichtige Umstände übersehen, vor deren unvermeidlicher Feindschaft ihr kecker Siegesjubel unweigerlich verstummen musste. Zu meinem Entsetzen drang der laute Gesang vollkommen deutlich an Deck herauf, wo ich inzwischen mein Amt als Kadett der Wache angetreten hatte. Außerstande, den unverzeihlich dreisten Kameraden eine Warnung zugehen zu lassen, sah ich das Strafgericht unabwendbar über sie hereinbrechen.

Es war bereits „Ruhe im Schiff!“ gepfiffen, das heißt, jeder war nach der an Bord herrschenden strengen Vorschrift zur möglichsten Schweigsamkeit verpflichtet. Die feiernden Junker dort unten ahnten natürlich nicht, dass die Schallwellen ihres leidenschaftlichen Singsangs durch den Schornstein und die Ventilatoren aus ihrem tiefen Versteck an die Oberwelt heraufdringen mussten. Wie lange konnte es dauern, so spürte man den unbekannten Ruhestörern nach und musste sie endlich wohl finden! Und dann? Der Erste Offizier kannte nun einmal keine Rücksicht; lustige Kadettenstreiche waren an Bord der Aurora wie eine Todsünde verpönt.

Einen Augenblick durfte ich aufatmen und meine Besorgnisse fahren lassen; denn in dem Singen trat eine Pause ein. Leider jedoch war diese von kurzer Dauer. Die Stimmung der jugendlichen Zecher begann sich zu heben und suchte einen würdigen Ausdruck in dem stürmischen Vortrag der „Wacht am Rhein“.

Aber es näherte sich das gefürchtete Verhängnis bereits mit Riesenschritten. Wie durch ein Sprachrohr gesteigert drang durch den Ventilator der kräftig angestimmte erste Vers an mein entsetztes Ohr: „Es braust der Ruf wie Donnerhall“. Und wirklich, donnergleich brauste dieser Ruf bis zu uns herauf; der einschlagende Blitz sollte nicht lange auf sich warten lassen.

Zweifelnd, ob seine Sinne ihn nicht betrögen, strich sich der wachhabende Offizier den kühn gebogenen Schnurrbart, lauschte und brummte vor sich hin. Nein, er irrte sich nicht. „Durch Hunderttausend zuckt es schnell“, dröhnte uns inzwischen der zweite Vers entgegen.

Empört über einen so frechen Verstoß gegen alle Schiffsordnung und in dem Wahne, dass sich ein halbes Dutzend Matrosen auf dem Vorderdeck diese Ungebührlichkeit erlaubte – denn Wortlaut und Weise waren für uns ganz deutlich hörbar – rief der Leutnant mit voller Kraft: „Ruhe im Vorschiff!“ und schloss seinen Befehl mit einigen recht derben Flüchen. Gehorsam fand seine Forderung auffallenderweise nicht, das tolle Singen dauerte ununterbrochen fort.

Niemals habe ich mich mehr gefreut, Kadett der Wache zu sein, als gerade in diesem Augenblick. Ich wusste ja, wo die Verächter der Schiffsordnung steckten und konnte sie vor Strafe behüten; ich durfte nicht nur, sondern ich musste sogar dafür sorgen, dass der Befehl des Wachoffiziers ausgeführt würde. Auch durch die bei meinem Weggehen eingeschlagene Richtung konnten weder die Sünder noch deren Versteck verraten werden.

So eilig wie möglich stürmte ich durch Batteriedeck und Zwischendeck in den Raum hinab, riss die Tür auf, erzählte den Kameraden, was geschehen wäre, und beschwor sie, nicht weiter zu singen.

Doch vergeblich. Die Stimmung war bereits derartig gehoben, dass sie meine Warnung in den Wind schlugen, Höhngelächter als einzige Antwort für mich hatten und mich schließlich als Störenfried zur Tür hinauswarfen. Heller als vorher klirrten Gläser und Tassen aneinander, und manche gleich von Namen und Rang begleitete Verwünschung machte sich aus den Kehlen der ungern gestörten Zechbrüder Luft.

Als ich das Deck wieder betrat, hörte ich noch immer in gleicher Kräftigkeit das alte, schöne Lied; sie wollten also nicht hören. Diesmal sollte das siegesfrohe, jugendliche Deutschland mitten in seinem Siegesrausche schmählich zu Fall kommen. Ich konnte jetzt für meine Kameraden nichts weiter tun, als dass ich unbemerkt den Kopf des großen Ventilators so drehte, dass dessen Öffnung von dem wachhabenden Offizier abgewendet war.

Kaum aber hatte ich dies besorgt, als ich auch schon aus dem Innern des Schiffes einen tiefen Bass die jedem Ohr an Bord geläufigen Worte rufen hörte: „Schämen, schämen, schämen!“ Dieser Ausdruck, diese Stimme belehrten mich sofort, dass der Donnergott unserer Fregatte, der so sehr gefürchtete Erste Offizier, selber auf den Beinen wäre, dass er die Bösewichte gehört habe und sich im Anmarsch auf ihren vielleicht schon entdeckten Zufluchtsort befinde.

So war es in der Tat. Als das leibhaftige Strafgericht auf seiner heimlichen Runde die Batterie entlang schritt, war ihm das teuflische Hohngelächter ans Ohr gedrungen, mit welchem mich die Genossen trotz der geöffneten Tür empfangen hatten. Ich musste in der Dunkelheit an dem herumschnüffelten Ersten vorbei gehuscht sein, ohne dass ich ihn sah, zum Glück auch, ohne dass er mich erkannte.

So ein Erster Offizier eines zahlreich bemannten Kriegsschiffes ist nun einmal mit ganz besonders scharfen Sinnen und mit unbegreiflichem Argwohn ausgestattet; jener namentlich besaß daneben eine Spürwut, welche nicht rastete, bis die vermeintlichen Frevler zur strengen Bestrafung gezogen werden konnten.

Seit der dreimal wiederholten Aufforderung, sich zu schämen, verstrichen für mich sehr bange Minuten; das ungeschwächt anhaltende Singen belehrte mich, dass der Erste den Schlupfwinkel noch immer nicht gefunden habe. Aber ich wusste auch gewiss, dass er nicht nachlassen würde, bis ihm die Entdeckung derselben ohne fremde Hilfe gelungen wäre.

„Lieb’ Vaterland, magst ruhig sein!“, trösteten die begeisterten jungen Helden gerade jetzt die bedroht gedachte ferne Heimat – ach, sie ahnten nicht, was ihnen selber drohte! Lauter noch als die früheren gellten diese Worte zu uns herauf.

Da trat plötzlich Totenstille ein. Also doch! Die schöne Verheißung: „Fest steht und treu die Wacht am Rhein!“ erstarb auf den Lippen der schmählich überraschten Kameraden; und doch hätten diese Worte die Lage der Ärmsten aufs Trefflichste bezeichnet. Einer „festen Wacht“ waren sie ja selber verfallen; statt der „Treue“ in dem schönen Liede herrschte aber hier schonungslose Strenge, welche kein Verständnis hegte, keine Entschuldigung kannte für den übersprudelnden Frohsinn der jugendlichen Vaterlandsfreunde.

Wir waren – so erzählte mir anderen Tages einer der abgefassten Kameraden – ganz sicher, dass uns an diesem Abend niemand stören oder aufstöbern würde, wenn nicht der Böse selbst den Ersten auf uns loslassen sollte. Den anderen Offizieren trauten wir solchen Schabernack nicht zu; sie konnten ja nicht ganz und gar vergessen haben, dass auch sie noch jüngst muntere Junker waren und als solche mal heimliche Freuden kosteten.

Da wurden auf der schmalen eisernen Hühnerstiege, welche aus dem Zwischendeck in den Heizraum hinabführt, zu unsrem nicht geringen Schrecken plötzlich ein Paar Stiefel, dann ein Paar blaugekleidete Beine und endlich ein Waffenrock mit dem Offizierstern auf den Ärmeln sichtbar.

Natürlich warteten wir nicht untätig ab, bis die verhängnisdrohende Gestalt sich noch vollständiger vor uns entwickele. Unsere heitere Runde war sofort gesprengt, im Nu war auch der Langsamste verschwunden. Wo sie alle geblieben sind, ich begreife es kaum. Einige krochen in die Kohlenbunker, andere in die Feuerung, noch andere auf oder hinter die Kessel. Nur die leider erst halb geleerte Suppenschalle, die benutzten Trinkgeschirre und die leeren Flaschen standen als vielsagende Belege unseres Frevels überall umher.

„Schämen, schämen, schämen!“, hieß es wie sonst, diesmal jedoch in einer ganz besonderen Tonfärbung, welche die völlige Überraschung und Entrüstung des glücklichen Finders erkennen ließ.

Natürlich kamen wir nicht ohne Weiteres zum Vorschein; aber das Unglück wollte, dass sich einige von uns bei den knappen Raumverhältnissen nicht so vollständig hatten verstecken können, dass keine Spur von ihnen sichtbar gewesen wäre. Ein paar Machtworte des gefürchteten Donnerers zwangen sie hervorzukommen und sich in stramm dienstlicher Haltung dem gestrengen Vorgesetzten zu stellen. Die wiederholte Aufforderung, uns zu schämen, wäre nun gar nicht mehr nötig gewesen; wir schämten uns ohnehin tüchtig, freilich nicht wegen unserer Tat, sondern dass wir uns hatten abfassen lassen, und zwar von ihm.

Das Weitere kannst du dir denken. Der Befehl zum sofortigen Verlassen des bescheidenen Raumes traf ins im Hinblick auf die noch halb gefüllte Schüssel sehr hart, noch härte der zweite, ihm alsbald eine vollständige Liste aller Teilnehmer an dieser „schamlosen Verwegenheit“ einzureichen. Wir waren übel genug aus der uns wohlberechtigt scheinenden Feststimmung aufgeschreckt, waren völlig ernüchtert, schlichen wie begossene Pudel davon und sahen einer rücksichtslosen Bestrafung entgegen.

Die Heizer machten sich kein Gewissen daraus, die klägliche Niederlage der armen Junker zu ihren Gunsten auszunutzen; mit unglaublicher Pünktlichkeit müssen sie sich des verlassenen Mischkruges angenommen haben. Es fand sich wenigstens kein Tropfen mehr vor, als einer der verwegenen Kameraden noch einmal zurückschlich, um sich nach dem Schicksal des herrlichen Trankes umzusehen, für welchen die Betreffenden oder vielmehr Betroffenen ihre letzten Sparpfennige beigesteuert hatten.

So endete die kurze, laute Feier des denkwürdigen Jahrestages von Sedan nicht gerade nach dem Sinne der jugendlichen Schwärmer, sondern mit einem jähen „Reinfall“. Ihre Vaterlandsliebe hat freilich trotz all des Ärgers und Kummers nicht an Wärme und Innigkeit verloren, ihre Vorsicht aber wird zugenommen haben. Der empörte Erste sorgte durch manche den Übeltätern zuerkannte Strafwachen dafür, dass sie, statt sich auf ihrem Lager lieblichen Träumen hinzugeben, nächtlicherweise Muße fanden, auf Deck oder in der Takelage über den fraglichen Wert von Heizräumen als Versteck, über die verräterische Schallleitung von Ventilatoren, über die Heiligkeit der Schiffszucht und die „feste Wacht“ Erster Offiziere nachzudenken.

Nicht nur uns Kameraden, auch den Naturgewalten missfiel ein so harter Spruch. Unmittelbar nach der durch unseren Donnerer herbeigeführten Auflösung der Zechgesellschaft fuhren in Pausen von zehn zu zehn Minuten grelle Blitze von dem finsteren Himmel herab. So wenigstens steht’s in dem Logbuche geschrieben, welches der freilich sehr erboste Signalkadett führte. Wohl möglich, dass er die gebuchten Blitze nicht alle wirklich gesehen hat, sondern dass jeder ihm von dem Mischkrug entzogene Tropfen sich bei seinem erregten Hirn in einen Blitz verwandelte. Wir Kameraden wenigstens haben ihn deswegen noch heute stark im Verdacht.

Aber am nächsten Tage, am 3. September, da begann es in der Luft zu toben. Der Nordwind stimmte seine mächtige Bassgeige an, indem er mit dem wuchtigen Fiedelbogen knarrend und brummend über die zahlreichen geteerten und nicht geteerten Saiten unserer Takellage strich. Ihm gesellte sich bald ein anderer, gleichfalls unwirscher Gesell, der Ostwind. Beide vereinten sich zu einem starken Nordost, stimmten eine wahrhaft höllische Weise an und forderten unsere stolze Fregatte zu wildem Tanze auf. Notgedrungen nahm sie diesen an und hüpfte in weiten Sprüngen über die hoch aufgetürmten, rollenden Wogen hin, deren weiße Schaumkämme sich schonungslos über uns ergossen. Wir mussten beidrehen und drei volle Tage unter Sturmsegeln hart am Winde liegen bleiben.

Ob wohl der Erste auch in sich gegangen ist und sich gesagt hat, dass die mit diesem Unwetter verknüpften Beschwerden, von denen namentlich er betroffen wurde, eine Heimsuchung für seine Hartherzigkeit wären?