Die Witwe

Cover

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel «The Widow» bei Penguin, Random House, UK

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juni 2016

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg

nach der Originalausgabe von Penguin/Random House

Coverabbildung Dorling Kindersley, Viktor Kitaykin/Getty Images

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-22251-9

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-22251-9

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

ich habe viel Zeit damit verbracht, Menschen zuzusehen. Nicht nur in Cafés oder auf Bahnhöfen, sondern auch beruflich. Als Journalistin war ich eine professionelle Zuschauerin – «gelernte Beobachter» nennen wir uns gern im Scherz – und habe gelernt, Körpersprache und verbale Ticks zu deuten, die uns zu Individuen und für andere interessant machen.

Im Laufe der Jahre habe ich Opfer interviewt, Täter, Berühmtheiten, Menschen mit Einfluss und ganz normale Leute, die von Tragödien getroffen oder vom großen Glück gestreift wurden. Doch erstaunlicherweise waren es nicht immer jene im Scheinwerferlicht, die mir im Gedächtnis geblieben sind. Oft waren es eher die am Rande, die Nebenfiguren eines Dramas, die mich nicht mehr losgelassen haben.

Bei den großen Prozessen – den grausamen Kapitalverbrechen, die Schlagzeilen gemacht haben – ertappte ich mich dabei, wie ich die Ehefrau des Mannes auf der Anklagebank beobachtete und mich fragte, was sie tatsächlich wusste – oder sich selbst zu wissen erlaubte.

Sie haben sie bestimmt auch schon gesehen, in den Nachrichten. Mag sein, dass Sie etwas genauer hinsehen mussten, aber sie ist eigentlich immer da. Sie steht auf den Stufen zum Gerichtsgebäude stumm hinter ihrem Mann. Sie nickt, sie drückt leicht seinen Arm, während er lautstark seine Unschuld beteuert, weil sie an ihn glaubt.

Aber was geschieht, wenn die Kameras ausgeschaltet sind und die Welt nicht länger zusieht?

Ich habe ein bleibendes Bild vor Augen; das Bild von zwei Menschen, die beim Hackauflauf sitzen, sie essen zu Abend wie alle anderen Paare in ihrer Straße, aber sie können nicht miteinander sprechen. Das Klappern von Besteck auf Porzellan ist das einzige Geräusch im Raum, während sie sich mit den Zweifeln plagen, die leise unter der Tür ihres Vorstadtreihenhäuschens hereinsickern.

Denn ohne Zeugen und ohne Ablenkung müssen die Masken fallen.

Ich wollte – ich musste – wissen, wie diese Frau mit der Vorstellung zurechtkommt, ihr Mann – der Mann, den sie gewählt hat – könnte ein Monster sein.

Und so nahm Jean Taylor Gestalt an. Sie ist jene stille Frau, die ich so oft auf den Stufen zum Gericht stehen sah, die Ehefrau, die ich dabei beobachten konnte, wie sie regungslos zusah, während ihr Mann seine Aussage machte.

In diesem Roman – es ist mein erster – zeigt uns Jean ihre öffentliche und ihre ganz private Version eines geliebten Ehemannes und einer glücklichen Ehe, die völlig auf den Kopf gestellt wird, als ein Kind verschwindet und plötzlich Polizei und Presse vor ihrer Haustür stehen.

Ich hoffe, Sie finden Gefallen an diesem Roman. Ich habe ihn unglaublich gern geschrieben und kann Jean Taylor – und jenen Frauen, die Patin für sie standen – gar nicht genug danken.

Fiona Barton

ohne die nichts von Bedeutung wäre

Die Witwe

Ich höre die knirschenden Schritte auf dem Weg. Ein entschlossener Gang auf hohen Absätzen. Sie ist schon fast an der Tür, zögert, streicht sich die Haare aus dem Gesicht. Hübsches Outfit. Mantel mit großen Knöpfen, darunter ein stilvolles Kleid, die Brille auf den Kopf zurückgeschoben. Keine Zeugin Jehovas und auch nicht von der Labour Party. Muss von der Presse sein, aber keine von der üblichen Sorte Reporter. Sie ist schon der zweite heute – macht diese Woche insgesamt vier, dabei ist erst Mittwoch. Wetten, sie sagt, «Es tut mir furchtbar leid, Sie in dieser schwierigen Situation zu belästigen». Das sagen sie nämlich alle und machen dabei dieses dämliche Gesicht. Als würde die das kümmern.

Ich werde abwarten, ob sie ein zweites Mal klingelt. Der Typ heute Vormittag hat es jedenfalls nicht getan. Manche sind sichtlich genervt. Sie machen auf dem Absatz kehrt, sobald sie den Finger von der Klingel genommen haben, marschieren, so schnell es geht, den Weg zurück, ab ins Auto und nichts wie weg. Dann können sie ihrem Chef sagen, sie hätten’s versucht, aber sie sei nicht da gewesen. Erbärmlich.

Sie klingelt ein zweites Mal. Und klopft dann laut an die Tür, mit Nachdruck. Wie eine Polizistin. Sie sieht mich durch den Spalt in den Gardinen spähen und setzt ein strahlendes Lächeln auf. Hollywood-Lächeln, nennt es meine Mutter. Dann klopft sie wieder.

«Ich bin …», will ich sagen und merke dann, dass sie nicht gefragt hat.

«Ich weiß, wer Sie sind, Mrs. Taylor», sagt sie. Unausgesprochen bleiben die Worte: Sie sind die Story. «Wir sollten nicht hier draußen stehen bleiben.» Und noch während sie redet, steht sie, ich weiß auch nicht, wie, plötzlich in der Diele.

Ich bin so verblüfft, mir fehlen die Worte und sie interpretiert mein Schweigen als Erlaubnis, mit der Milchflasche in der Hand meine Küche zu betreten und mir Tee zu kochen. Ich gehe ihr nach – die Küche ist nicht besonders groß, und es wird ein bisschen eng, als sie sich zu schaffen macht. Sie setzt Wasser auf und öffnet auf der Suche nach Tassen und Zucker sämtliche Schränke. Ich stehe einfach nur da, lasse sie machen.

Sie plaudert. Macht eine Bemerkung über die Einbauküche. «Was für eine hübsche Küche, das Weiß wirkt so frisch – ich wünschte, bei mir zu Hause sähe es auch so aus. Haben Sie die selbst einbauen lassen?»

Ich habe das Gefühl, mich mit einer Freundin zu unterhalten. Mit einer Reporterin zu reden ist anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich dachte, es sei wie eine polizeiliche Befragung. Ich dachte, es sei eine Qual, ein Verhör. Das hat Glen, mein Mann, jedenfalls behauptet. Dabei ist es ganz anders, irgendwie.

«Hier entlang, oder?», sagt sie, und ich öffne die Tür zum Wohnzimmer.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie hier haben will oder nicht – bin mir nicht sicher, was ich fühle. Jetzt zu protestieren käme mir falsch vor – sie sitzt ja nur da, eine Tasse Tee in der Hand, und unterhält sich mit mir. Es ist komisch, aber ich genieße die Aufmerksamkeit. Ich fühle mich in diesem Haus ein bisschen einsam, seit Glen fort ist.

Und sie scheint irgendwie das Kommando übernommen zu haben. Eigentlich richtig schön, dass jemand wieder die Verantwortung hat. Ich habe langsam Panik bekommen, weil ich mich jetzt ganz alleine um sämtliche Angelegenheiten kümmern muss, aber Kate Waters sagt, sie mache das alles.

Ich müsse ihr nur alles über mein Leben erzählen, sagt Kate.

Mein Leben? Sie will doch eigentlich gar nichts über mich wissen. Sie hat nicht an meiner Tür geklingelt, um etwas über Jean Taylor zu erfahren. Sie will die Wahrheit über ihn hören. Über Glen. Meinen Mann.

Mein Mann ist nämlich vor drei Wochen gestorben. Von einem Bus überfahren, direkt vor Sainsbury’s. Eben war er noch da und hat mich angemault, weil ich das falsche Müsli gekauft habe, und eine Sekunde später: tot, mitten auf der Straße, vor dem Supermarkt. Seinen Kopfverletzungen erlegen, hieß es. Jedenfalls tot. Ich stand nur da und sah ihn auf dem Boden liegen. Menschen rannten herum, holten was zum Zudecken, und auf dem

Alle waren sehr nett zu mir und versuchten, mich vor dem Anblick seiner Leiche zu bewahren, und ich konnte keinem sagen, wie froh ich war, dass er tot war. Endlich war Schluss mit seinem Unsinn.

Die Witwe

Die Polizei kam ins Krankenhaus, logisch. Sogar DI Bob Sparkes tauchte in der Notaufnahme auf, um über Glen zu sprechen. Ich redete mit keinem, weder mit ihm noch mit den anderen. Sagte, ich hätte ihnen nichts zu sagen, sei zu aufgewühlt, um zu reden. Weinte ein bisschen.

Detective Inspector Bob Sparkes ist schon so lange ein Teil meines Lebens – mehr als drei Jahre sind’s inzwischen –, aber es ist möglich, dass er jetzt gemeinsam mit dir verschwindet, Glen.

Davon erzähle ich Kate Waters nichts. Sie sitzt in dem anderen Wohnzimmersessel, hält ihre Teetasse umfasst und schlenkert mit dem Fuß.

«Jean», sagt sie – Mrs. Taylor ist verschwunden, fällt mir auf –, «die letzte Woche muss hart für Sie gewesen sein. Nach allem, was Sie durchgemacht haben.»

Ich sage nichts, halte den Blick gesenkt. Sie hat keine Ahnung, was ich durchgemacht habe. Wirklich, niemand hat das. Ich konnte es nie jemandem erzählen. Glen meinte, es sei besser so.

Wir sitzen da und schweigen, dann versucht sie es auf einem anderen Weg. Sie steht auf und nimmt ein Foto von uns beiden vom Kamin – wir zwei, wie wir über irgendwas lachen.

«Wie jung Sie aussehen», sagt sie. «War das vor der Hochzeit?»

«Kannten Sie sich vorher schon lange? Haben Sie sich in der Schule kennengelernt?»

«Nein, nicht in der Schule. Wir haben uns an einer Bushaltestelle kennengelernt», erzähle ich. «Er sah gut aus, und er hat mich zum Lachen gebracht. Ich war siebzehn, Friseurlehrling in Greenwich, und er hat bei einer Bank gearbeitet. Er war etwas älter als ich, trug einen Anzug und teure Schuhe. Er war anders.»

Ich lasse es wie einen Liebesroman klingen, und Kate Waters saugt jedes Wort begierig auf, kritzelt in ihr Notizheft, wirft mir über ihre kleine Brille Blicke zu und nickt verständnisvoll. Mich täuscht sie nicht.

Eigentlich kam Glen mir am Anfang nicht besonders romantisch vor. Unsere Romanze fand hauptsächlich im Dunkeln statt – im Kino, auf dem Rücksitz von seinem Escort, im Park –, da wurde nicht viel geredet. Aber ich kann mich an das erste Mal erinnern, als er mir sagte, dass er mich liebe. Es kribbelte am ganzen Körper, so als könne ich jeden Millimeter meiner Haut spüren. Ich fühlte mich zum ersten Mal im Leben lebendig. Ich sagte ihm, dass ich ihn auch liebe. Verzweifelt. Dass ich weder essen noch schlafen könne, ohne an ihn zu denken.

Meine Mutter sagte damals, ich sei «becirct», als ich wie ferngesteuert durchs Haus lief. Ich war mir nicht sicher, was das heißen sollte, «becirct», jedenfalls wollte ich jede Sekunde mit Glen zusammen sein, und er sagte damals, ihm gehe es genauso. Ich glaube, Mama war ein bisschen eifersüchtig. Sie war total auf mich fixiert.

«Sie ist viel zu sehr auf dich fixiert, Jeanie», sagte Glen. «Es ist doch nicht normal, überall nur mit der Tochter hinzugehen.»

Ich versuchte, ihm zu erklären, dass meine Mutter

Er war so fürsorglich, suchte im Pub immer einen Platz weit weg von der Bar für mich («Ich möchte nicht, dass es dir zu laut ist»), und im Restaurant bestellte er für mich, damit ich neue Dinge ausprobieren könne («Das wirst du lieben, Jeanie. Probier’s einfach»). Das tat ich auch, und manchmal schmeckten die neuen Dinge wirklich gut. Und wenn nicht, sagte ich nichts, um seine Gefühle nicht zu verletzen. Wenn ich mich ihm widersetzte, wurde er immer ganz still. Ich hasste das. Ich kam mir dann so vor, als hätte ich ihn enttäuscht.

Mit jemandem wie Glen war ich noch nie zusammen gewesen, mit einem, der wusste, was er vom Leben wollte. Die anderen Jungs waren nicht mehr als das – Jungs.

Als Glen mir zwei Jahre später einen Heiratsantrag machte, ging er dabei nicht auf die Knie. Er zog mich nur ganz nah an sich ran und sagte: «Du gehörst zu mir, Jeanie. Wir gehören zusammen. Lass uns heiraten.»

Meine Mutter hatte er damals längst um den Finger gewickelt. Er brachte ihr Blumen mit – «Eine Kleinigkeit für die andere Frau meines Lebens», sagte er dann, worauf sie kicherte, und sie unterhielten sich über Coronation Street oder das Königshaus. Mama liebte es. Sie sagte, ich sei ein Glückspilz. Dass er mich aus meinem Schneckenhaus gelockt habe. Etwas aus mir machen werde. Sie erkannte, dass er sich um mich kümmern würde. Und das tat er auch.

***

«Wie war er damals?», fragt Kate Waters und beugt sich aufmunternd zu mir vor. Damals. Vor der ganzen schrecklichen Sache, meint sie.

Sie liebt es. Schreibt in komischem Gekritzel jedes Wort von mir mit und sieht dann auf. Ich versuche krampfhaft, nicht zu lachen. Ich spüre, wie die Hysterie in mir hochsteigt, aber es kommt als Schluchzer raus, und sie streckt die Hand aus und berührt mich sacht am Arm.

«Nicht», sagt sie. «Es ist vorbei.»

Ja, das ist es. Vorbei mit der Polizei. Vorbei mit Glen. Vorbei mit seinem Unsinn.

Ich weiß nicht mehr, wann ich angefangen habe, es so zu nennen. Es hatte schon viel früher begonnen, lange ehe ich es benennen konnte. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, unsere Ehe zu perfektionieren, angefangen bei der Hochzeit in Charlton House.

Meine Eltern waren der Meinung, ich sei mit neunzehn noch zu jung zum Heiraten, aber wir überredeten sie. Na ja, eigentlich Glen. Er war wild entschlossen, verehrte mich so sehr, dass mein Vater schließlich ja sagte und wir mit einer Flasche Lambrusco feierten.

Sie gaben ein Vermögen für die Hochzeit aus, schließlich war ich ihr einziges Kind. Und ich verbrachte meine Zeit nur noch damit, mir mit Mama Bilder in Hochzeitsmagazinen anzusehen und von meinem großen Tag zu träumen. Wie ich mich daran klammerte! Es war mein ganzer Lebensinhalt.

Glen mischte sich nicht ein. «Das ist deine Abteilung», sagte er und lachte. Das klang so, als habe er auch eine Abteilung. Ich dachte, er meine wahrscheinlich seinen Job damit; er sei der Ernährer, sagte er. «Ich weiß,

Er hatte immer große Pläne und redete mit Begeisterung darüber. Erst wollte er Filialleiter in der Bank werden und dann kündigen, um sich selbständig zu machen. Sein eigener Herr sein und jede Menge Geld verdienen. Ich sah ihn genau vor mir: Maßanzug, eigene Sekretärin, großes Auto. Und ich, ich würde für ihn sorgen. «Bleib bitte, wie du bist, Jeanie. Ich liebe dich genau so», sagte er immer.

Also kauften wir uns ein Haus und zogen nach der Hochzeit ein. Nach all den Jahren sind wir immer noch hier, in der Nummer 12.

Vor dem Haus war ein Vorgarten gewesen, aber den schütteten wir mit Kies auf, «um uns das Rasenmähen zu sparen», wie Glen sagte. Mir hatte der Rasen gut gefallen, aber Glen hatte es gern ordentlich. Das war am Anfang, nachdem wir zusammengezogen waren, ziemlich hart für mich, weil ich schon immer ein bisschen unordentlich gewesen bin. Meine Mutter fand hin und wieder schmutzige Teller und alte Socken zwischen den Flusen unter meinem Bett. Glen wäre tot umgefallen, wenn er das je gesehen hätte.

Ich sehe ihn noch vor mir, die Kiefer zusammengepresst und die Augen ganz schmal, als er mich eines Abends nach dem Abendessen dabei erwischte, wie ich mit der Hand die Krümel vom Tisch auf den Fußboden fegte, noch ziemlich am Anfang unserer Ehe. Ich hatte nicht mal gemerkt, was ich tat – hatte es vorher sicher schon hundertmal gemacht, ohne darüber nachzudenken. Ich tat es nie wieder. In der Beziehung war er wirklich gut für mich, er zeigte mir, was man tun musste,

Am Anfang erzählte Glen mir alles über seinen Job bei der Bank – welche Aufgaben er hatte, wie sehr die Jüngeren ihm vertrauten, die kleinen Streiche, die die Angestellten einander spielten, von seinem Boss, den er nicht ausstehen konnte («Hält sich für was Besseres, Jeanie»), und von den Leuten, mit denen er zusammenarbeitete. Joy und Liz in der Verwaltung; Scott vom Schalter mit der schrecklichen Haut, der so leicht rot wurde; May, die Auszubildende, die ständig Fehler machte. Ich liebte seine Geschichten, ich liebte es, von seiner Welt zu hören.

Ich glaube, ich habe ihm auch von meiner Arbeit erzählt, aber unsere Gespräche sind dann immer ganz schnell wieder auf die Bank zurückgekommen.

«Friseuse ist nicht der aufregendste Job der Welt», sagte er dann, «aber du machst das trotzdem ganz toll, Jeanie. Ich bin stolz auf dich.»

Er wolle mein Selbstwertgefühl steigern, sagte er mir. Und das tat er auch. Von Glen geliebt zu werden, gab mir ein Gefühl der Geborgenheit.

Kate Waters sieht mich an und macht wieder diese Bewegung mit ihrem Kopf. Sie ist gut, das muss ich ihr lassen. Ich habe noch nie mit Journalisten gesprochen, sie allenfalls davongejagt; ganz zu schweigen davon, jemanden zu mir ins Haus zu lassen. Sie kommen seit Jahren zu uns an die Tür, immer wieder mal, aber bis heute ist keiner hier reingekommen. Dafür hat Glen gesorgt.

Aber jetzt ist Glen nicht hier. Und Kate Waters scheint anders zu sein als die anderen. Sie spüre zwischen uns eine «echte Verbindung», hat sie zu mir gesagt. Sie habe das Gefühl, wir würden uns seit Jahren kennen. Und ich weiß, was sie damit meint.

Ich kann ihr nicht erzählen, wie ich nachts immer im Dunkeln lag und mir wünschte, Glen wäre tot. Na ja, nicht direkt tot. Ich wollte ja nicht, dass er Schmerzen hat oder irgendwie leiden muss, ich wollte einfach nur, dass er weg ist. Ich malte mir immer den Augenblick aus, wie es wäre, wenn ich den Anruf von der Polizei bekäme.

«Mrs. Taylor», würde eine tiefe Stimme sagen, «es tut mir sehr leid, aber ich habe schlechte Nachrichten.» Und die Vorahnung des nächsten Satzes brachte mich jedes Mal beinahe zum Kichern. «Mrs. Taylor, es tut mir leid, Ihr Mann ist bei einem Unfall ums Leben gekommen.»

Dann sah ich mich – wirklich, ich sah mich – schluchzen und anschließend den Hörer zur Hand nehmen, um seine Mutter anzurufen. «Mary», würde ich sagen. «Es tut mir so leid, aber ich habe schlechte Nachrichten. Es geht um Glen. Er ist tot.»

Ich konnte den Schock in ihrer Stimme hören. Ihre Trauer fühlen. Ich konnte die Anteilnahme von Freunden spüren, und wie meine Familie sich um mich versammelte. Und dann die heimliche Freude.

Ich, die trauernde Witwe. Dass ich nicht lache!

Als es dann tatsächlich passierte, fühlte es sich viel weniger real an. Seine Mutter klang einen Augenblick lang fast so erleichtert wie ich, weil es endlich vorbei war. Dann legte sie auf und weinte um ihr Kind. Außerdem hatte ich keine Freunde, denen ich es hätte mitteilen können, und die Familie, die sich um mich scharte, war eher ein trauriges Häuflein.

Kate Waters sagt irgendwas von aufs Klo müssen und noch ein Tässchen Tee kochen, und ich lasse sie machen,

Mein Blick wandert ständig zu dem Hochzeitsbild an der Wand über dem Gaskamin. Wir sehen so jung aus, als hätten wir uns mit den Klamotten unserer Eltern verkleidet. Kate Waters folgt meinem Blick und nimmt das Foto von der Wand.

Sie setzt sich zu mir auf die Armlehne, und gemeinsam betrachten wie das Bild. Der 6. September 1989. Der Tag, an dem wir den Bund fürs Leben schlossen. Ich weiß nicht, warum ich anfange zu weinen – meine ersten echten Tränen, seit Glen gestorben ist –, und Kate Waters nimmt mich in den Arm.

Die Journalistin

Kate Waters verlagerte ihr Gewicht. Sie hätte vorhin den Kaffee nicht trinken sollen. Erst der Kaffee und jetzt noch der Tee. Ihre Blase sendete eindeutige Signale, und es konnte passieren, dass sie Jean Taylor mit ihren Gedanken allein lassen musste. In dieser Phase keine gute Idee, vor allem, weil Jean inzwischen wieder etwas still geworden war. Sie nippte an ihrem Tee und starrte ins Leere. Kate bemühte sich verzweifelt, die Beziehung nicht zu zerstören, die sich langsam zwischen ihnen aufbaute. Sie befanden sich in einem sehr heiklen Stadium. Ging der Augenkontakt verloren, konnte die ganze Stimmung kippen.

Steve, ihr Mann, hatte ihren Job mal damit verglichen, sich an ein Tier heranzupirschen. Er hatte auf einer Dinnerparty ein Glas Rioja zu viel getrunken und große Reden geschwungen.

«Sie schleicht sich immer näher an ihr Opfer heran, füttert es mit kleinen Häppchen Nettigkeit und Humor, mit einem Hinweis auf Geld, auf die Chance, die eigene Seite der Geschichte zu erzählen, bis man ihr schließlich aus der Hand frisst. Das ist wahre Kunst», hatte er der Gästeschar erzählt, die um ihren Esstisch versammelt war.

Sie hatten seine Kollegen aus der Onkologie zu Gast gehabt, und Kate hatte dabeigesessen, ihr professionelles Lächeln aufgesetzt und gemurmelt: «Ach, komm, Schatz,

«Du weißt, wie sehr ich dich bewundere, Kate», hatte er gesagt. «Du bist großartig in dem, was du tust.»

Sie hatte den Kuss erwidert, doch Steve hatte recht. Manchmal war es tatsächlich wie ein Spiel oder ein koketter Tanz, so spontan eine Verbindung zu einem misstrauischen – sogar feindseligen – fremden Menschen aufzubauen. Sie liebte diesen Part. Liebte den Adrenalinkick, wenn sie als Erste den Fuß auf eine Türschwelle setzte, vor der restlichen Meute; wenn sie klingelte und im Haus Geräusche vernahm; wenn sie durch die Milchglasscheibe sah, wie das Licht sich veränderte, weil jemand sich der Haustür näherte, und sie dann, sobald die Tür aufging, noch einen Gang hochschaltete und alles gab.

Reporter hatten auf der Türschwelle völlig unterschiedliche Taktiken: Ein Freund, mit dem sie geübt hatte, setzte immer seinen «Letzter Welpe im Korb»-Blick auf, um Sympathien zu wecken; eine Freundin schob grundsätzlich ihrem Chefredakteur die Schuld in die Schuhe, weil der sie zwang, schon wieder anzuklopfen; und eine hatte sich sogar einmal ein Kissen unter den Pullover gestopft, so getan, als sei sie schwanger, und darum gebeten, das Klo benutzen zu dürfen.

Nicht Kates Stil. Sie hatte ihre eigenen Regeln: immer lächeln, nie zu dicht vor der Haustür stehen, nie mit einer Entschuldigung anfangen und immer versuchen, von der Tatsache abzulenken, dass man hinter einer Story her ist.

Dabei hatte sie überhaupt nicht kommen wollen. Sie musste dringend in die Redaktion und ihre Spesenabrechnung fertig machen, ehe die Kreditkartenabrechnung ihr Konto killte.

Doch ihr Nachrichtenredakteur hatte nichts davon hören wollen. «Sie fahren bei der Witwe vorbei und klopfen mal an – liegt doch sowieso auf dem Weg», hatte Terry Deacon in den Hörer gebellt, über die Radionachrichten im Hintergrund hinweg. «Wer weiß? Heute könnte doch Ihr Glückstag sein.»

Kate hatte geseufzt. Sie hatte sofort gewusst, wen Terry meinte. Es gab nur eine Witwe, von der diese Woche jeder ein Interview wollte, aber sie wusste auch, wie breitgetrampelt dieser Pfad inzwischen war. Drei ihrer Kollegen von der Post hatten es bereits probiert – und sie war sich sicher, dass sie die letzte Reporterin im ganzen Land war, die noch nicht an diese Tür geklopft hatte.

So gut wie.

Als sie die Abzweigung zu Jean Taylors Straße erreichte, hielt sie automatisch nach Kollegen Ausschau und sah sofort den Mann von der Times neben einem Wagen stehen. Langweilige Krawatte, Ellbogenflicken, Seitenscheitel. Der Klassiker. Sie fuhr langsam weiter, blieb im zähen Verkehrsfluss auf der Hauptstraße, behielt den Feind aber weiter im Auge. Sie würde noch einmal um den Block fahren müssen und ein wenig warten, in der Hoffnung, dass er, wenn sie wiederkäme, verschwunden wäre.

«Scheiße!», murmelte sie, setzte den Blinker und bog in eine Seitenstraße ab, um zu parken.

«Hallo, Bob! Wie geht es Ihnen? Was gibt’s denn?»

Detective Inspector Bob Sparkes wollte etwas von ihr, so viel stand fest. Er gehörte nicht zu den Typen, die nur anriefen, weil sie Lust zu plaudern hatten, und sie wettete mit sich selbst, dass das Gespräch keine sechzig Sekunden dauern würde.

«Hallo, Kate. Gut, danke. Ganz schön was los – Sie wissen ja, wie das ist. Hab ein paar Fälle auf dem Tisch, aber nichts Spannendes. Hören Sie, Kate, ich hab mich gefragt, ob Sie eigentlich immer noch an der Glen-Taylor-Sache dran sind.»

«Himmel, Bob, lassen Sie mich etwa beschatten? Ich wollte eben bei Jean Taylor an die Haustür klopfen.»

Sparkes lachte. «Keine Sorge, soweit ich weiß, stehen Sie noch nicht auf der Liste.»

«Irgendwas, das ich wissen sollte, ehe ich zu ihr gehe?», fragte Kate. «Irgendwelche neuen Erkenntnisse, seit Glen Taylor gestorben ist?»

«Nein, im Grunde nicht.» Sie merkte seiner Stimme an, dass er enttäuscht war. «Ich habe mich gefragt, ob Sie vielleicht was gehört haben. Außerdem würde ich mich über eine kleine Vorwarnung freuen, sollte Jean tatsächlich was sagen.»

«Ich rufe Sie hinterher an», sagte sie. «Aber wahrscheinlich knallt sie mir die Türe vor der Nase zu. So war es zumindest bei sämtlichen Kollegen.»

«Okay. Bis später.»

Fünf Minuten später hatte sie langsam Jean Taylors inzwischen pressefreie Straße wieder durchquert und war den Weg zur Haustür hochgegangen.

Und jetzt wollte sie die Story!

Reiß dich zusammen, Himmel noch mal!, dachte sie und grub sich die Fingernägel in die Handfläche, um sich abzulenken. Nein – keine Chance.

«Sorry, Jean, aber dürfte ich kurz Ihre Toilette benutzen?», fragte sie und lächelte entschuldigend. «Tee läuft einfach direkt durch, oder? Wenn Sie wollen, mache ich uns noch einen.»

Jean nickte und stand auf. «Hier entlang», sagte sie und trat zur Seite, um Kate den Weg zur pfirsichfarbenen Gästetoilette zu weisen.

Während Kate sich mit der parfümierten Gästeseife die Hände wusch, blickte sie auf und fing ihr Gesicht im Spiegel ein. Sie sah ein bisschen müde aus, fand sie, strich sich die widerspenstigen Haare glatt und klopfte mit den Fingerspitzen zart über die Tränensäcke, wie von der jungen Frau empfohlen, bei der sie sich hin und wieder eine Kosmetikbehandlung gönnte.

Weil sie unbeobachtet war, überflog sie kurze Zeit später in der Küche ganz nebenbei die Notizen und Magnete auf dem Kühlschrank, während sie darauf wartete, dass das Wasser kochte. Einkaufszettel und Urlaubssouvenirs – hier gab’s für sie nicht viel zu holen. Ein Foto von den Taylors, aufgenommen in einem Strandrestaurant, zeigte das Paar lächelnd und in die Kamera prostend. Glen Taylor, zerzauste dunkle Haare und ein

Bewundernd oder ängstlich?, fragte Kate sich.

Die letzten Jahre hatten an der Frau auf dem Bild eindeutig ihre Spuren hinterlassen. Die Jean im Wohnzimmer hockte in Cargohose, Schlabbershirt und Strickjacke da. Die Haare lösten sich aus dem unordentlichen Pferdeschwanz. Steve zog sie immer mit ihrer Detailgenauigkeit auf, aber genau darin bestand ihr Job – auf die kleinen Dinge zu achten. «Ich bin eine gelernte Beobachterin», pflegte sie zu scherzen. Sie liebte es, ihren Lesern von den winzigen, verräterischen Details zu erzählen. Jeans raue, rissige Hände waren ihr sofort aufgefallen – Friseusenhände, hatte sie gedacht – und die vom nervösen Kauen ausgefranste Nagelhaut.

Die Fältchen um die Augen der Witwe sprachen ihre eigene Sprache.

Kate holte ihr Telefon raus und fotografierte den Urlaubsschnappschuss. Sie bemerkte, dass in dieser Küche alles völlig makellos war. Anders als bei ihr, wo ihre beiden Teenager-Söhne mit Sicherheit nach dem Frühstück wieder eine Spur der Verwüstung hinterlassen hatten – schmutzige Kaffeebecher, saure Milch, eine angebissene Scheibe Toast, ein aufgeschraubtes Marmeladenglas, in dem noch ein Messer steckte. Und auf dem Fußboden das obligatorische, vor sich hingammelnde Fußballtrikot.

Der Wasserkocher – und mit ihm sämtliche Gedanken an zu Hause – schaltete sich ab, sie goss den Tee auf und trug die Tassen auf einem Tablett nach drüben.

Jean starrte in die Luft, die Zähne machten sich am Daumen zu schaffen.

Sie musste sich eingestehen, dass sie sich langsam Sorgen machte. Sie hatte jetzt fast eine Stunde mit Jean Taylor verbracht, hatte ein Notizheft voller Häppchen über ihre Kindheit und die frühen Tage ihrer Ehe. Aber das war alles. Sobald sie der Geschichte ein winziges bisschen näher auf den Leib gerückt war, hatte Jean augenblicklich das Thema gewechselt und sich auf sicheres Terrain zurückgezogen. Irgendwann zwischendurch hatten sie sich lang und breit über die Herausforderungen unterhalten, die Kinder mit sich bringen, bis sie kurz unterbrochen worden waren: Kate war schließlich doch irgendwann ans Telefon gegangen, um auf die hartnäckigen Anrufe aus der Redaktion zu reagieren.

Terry war außer sich, als er hörte, wo Kate war. «Großartig», brüllte er ins Telefon. «Gut gemacht! Was sagt sie? Wann kannst du liefern?»

Von Jean Taylor eindringlich beobachtet, murmelte Kate: «Warte bitte kurz, Terry. Ich habe fast keinen Empfang.» Sie verzog sich nach hinten in den Garten, nicht ohne Jean mit theatralischem Kopfschütteln noch schnell zu verstehen zu geben, wie genervt sie war.

«Himmel noch mal, Terry! Ich saß direkt neben ihr! Ich kann jetzt nicht sprechen!», zischte sie. «Ehrlich gesagt, läuft hier alles ein bisschen sehr zäh, aber ich glaube, sie fängt langsam an, mir zu vertrauen. Lass mich einfach machen.»

«Hat sie schon was unterschrieben?», fragte Terry. «Du nimmst sie jetzt erst mal unter Vertrag, danach haben wir alle Zeit der Welt, sämtliche Einzelheiten aus ihr rauszukitzeln.»

Kate drückte das Gespräch entschieden weg und überlegte den nächsten Schritt. Vielleicht genügte es ja, einfach sofort Geld ins Spiel zu bringen. Tee und Mitgefühl waren abgehakt und langsam wurde es Zeit, nicht mehr länger um den heißen Brei herumzureden.

Es war gut möglich, dass es bei Jean finanziell eng wurde, seit ihr Mann tot war.

Er war schließlich nicht mehr da, um für sie zu sorgen. Oder um ihr den Mund zu verbieten.

Die Witwe

Sie ist immer noch hier, seit einer Stunde. Gestern hätte ich sie noch rausgeworfen. Ich hatte noch nie ein Problem damit, den Pressefritzen, die an die Tür klopfen, zu sagen, sie sollen verschwinden. Ist ja auch einfach, wenn sie so unhöflich sind. Gerade, dass sie noch kurz «hallo» sagen, ehe sie mit ihren Fragen rausplatzen. Schreckliche, aufdringliche Fragen. Kate Waters hat mir noch keine einzige harte Frage gestellt. Noch nicht.

Wir haben uns über alles Mögliche unterhalten: wann Glen und ich das Haus gekauft haben, über die Grundstückspreise in unserer Gegend, was wir am Haus gemacht haben, was Wandfarbe kostet, über die Nachbarschaft, wo ich aufgewachsen und wo ich zur Schule gegangen bin. Und sie stimmt mir in allem zu, was ich sage. «Ach, auf so einer Schule war ich auch. Ich habe die Lehrer gehasst, Sie nicht?» Solche Sachen. Fühlt sich an, wie mit einer Freundin zu reden. Als wäre sie wie ich. Schlau eigentlich, aber vielleicht macht sie das immer so, wenn sie ein Interview führt.

Eigentlich ist sie gar nicht übel. Ich glaube, ich könnte sie mögen. Sie ist witzig und wirkt nett, aber vielleicht ist das auch alles nur gespielt. Sie redet über ihren Mann – ihren ‹alten Herren›, wie sie ihn nennt – und sagt, sie dürfe nicht vergessen, ihn anzurufen, um ihm zu sagen, dass sie vielleicht später nach Hause komme. Warum, ist mir nicht ganz klar – es ist ja noch nicht mal Mittag, und

Kate lacht und sagt, ihr alter Herr sei längst daran gewöhnt, aber er würde sich mit Sicherheit trotzdem beschweren, weil er sich um die Kinder kümmern müsse. Sie habe zwei Teenager, erzählt sie mir, Jake und Freddie, zwei Jungs ohne Manieren und ohne Respekt.

«Er wird das Abendessen machen müssen», sagt sie. «Aber ich wette, er bestellt Pizza. Die Jungs lieben das.»

Die Jungs treiben sie und ihren alten Herren anscheinend zum Wahnsinn, weil sie nie ihre Zimmer aufräumen.

«Die hausen im reinsten Schweinestall, Jean», sagt sie. «Sie würden nicht glauben, wie viele Müslischalen ich schon in Jakes Zimmer gefunden habe. Damit könnte man einen Partyservice bestücken. Und sie verschlampen jede Woche ihre Socken. Unser Haus ist das Bermudadreieck der Fußbekleidung.» Und dann lacht sie wieder, weil sie ihre Kinder nämlich liebt, Schweinestall hin oder her.

Alles, was ich denken kann, ist: Jake und Freddie, was für schöne Namen. Die hebe ich mir für später auf, für meine Sammlung, und ich nicke, als wisse ich, wie es ihr gehe. Doch das stimmt nicht. Ihre Probleme hätte ich liebend gerne gehabt. Ich hätte es geliebt, einen Teenager zu haben, der mich nervt.

Jedenfalls höre ich mich laut sagen: «Glen konnte ein bisschen schwierig werden, wenn ich es im Haus habe

Glen hat immer gesagt, ich sei anders. Wenn wir ausgingen, gab er immer mit mir an, erzählte seinen Kumpels, ich sei was Besonderes. Das habe ich eigentlich nie ganz verstanden. Ich arbeitete in einem Salon namens Hair Today – kleiner Scherz von Lesley, der Besitzerin – und verbrachte meine Zeit damit, Frauen in der Menopause die Haare zu waschen und Kaffee zu kochen. Ich hatte gedacht, beim Friseur zu arbeiten sei schön – sogar glamourös. Ich dachte, ich würde Haare schneiden und neue Looks kreieren, aber mit siebzehn stand ich eben ganz unten auf der Leiter.

«Jean», rief Lesley quer durch den Laden, «kannst du meiner Kundin die Haare waschen und dann den Boden fegen?» Kein Bitte und kein Danke.

Die Kundinnen waren in Ordnung. Sie erzählten mir gern ihre Geschichten und Probleme, weil ich zuhörte und nicht versuchte, ihnen Ratschläge zu geben, so wie Lesley. Ich nickte und lächelte und träumte vor mich hin, während sie redeten und redeten. Über den klebstoffschnüffelnden Enkel oder die Nachbarin, die ihre Hundehaufen einfach über den Zaun wirft. Ganze Tage konnten vergehen, ohne dass ich irgendwas von mir gab – außer vielleicht «das ist ja toll» oder erfundene Urlaubspläne, damit das Gespräch nicht ganz abriss. Aber ich ließ nicht locker. Ich belegte Kurse, lernte zu schneiden und zu färben und bekam bald meine eigenen Kundinnen. Ich verdiente nicht besonders gut, aber für was anderes war ich eben nicht geschaffen. In der Schule hatte ich nie was getan. Meine Mutter erzählte den Leuten, ich

Dann tauchte Glen auf, und plötzlich war ich was «Besonderes».

Im Salon änderte sich nicht viel. Allerdings ging ich nie mit den anderen drei Mädels aus, weil Glen nicht wollte, dass ich allein unterwegs war. Er sagte, die anderen drei seien Singles und nur auf Sex und Saufen aus. Nach allem, was sie montagmorgens immer erzählten, hatte er wahrscheinlich recht, jedenfalls hatte ich immer eine Ausrede, und irgendwann fragten sie mich nicht mehr.

Ich mochte meine Arbeit. Ich konnte meinen Gedanken nachhängen und hatte nie Stress. Meine Arbeit gab mir ein sicheres Gefühl – die Gerüche von Chemikalien und geföhntem Haar, die Geräusche von Geplauder und laufendem Wasser, das Brummen der Trockenhauben, und wie vorhersehbar alles war. Die Termine, mit stumpfem Bleistift ins Buch eingetragen, bestimmten meinen Tagesablauf.

Alles war vorgeschrieben, sogar die Uniform aus schwarzer Hose und weißem Oberteil – außer samstags, wenn wir alle Jeans tragen mussten. «Das ist erniedrigend für jemanden mit deiner Erfahrung. Du bist Stylistin, Jeanie, kein Lehrling», hatte Glen später gesagt. Trotzdem, für mich bedeutete das, dass ich mir so gut wie nie Gedanken darüber machen musste, was ich anziehe – oder was ich tun soll. Kein Kopfzerbrechen.

Alle liebten Glen. Wenn er mich samstags abholte, stand er oft über den Schalter gebeugt und unterhielt sich mit Lesley. Was der alles wusste, mein Glen! Kannte sich echt gut aus mit geschäftlichen Dingen. Und er konnte die Leute auch dann zum Lachen bringen, wenn er sich über ernste Dinge unterhielt.

Ich verstand, dass sie nicht fassen konnte, wieso Glen sich ausgerechnet für mich entschieden hatte. Mir ging es ja manchmal genauso. Wenn ich ihm das sagte, lachte er und zog mich an sich. «Du bist alles, was ich will», sagte er dann. Er half mir dabei, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind. Ich glaube, er half mir, erwachsen zu werden.

Als wir heirateten, hatte ich keine Ahnung von Geld oder von Haushaltsführung, also gab Glen mir jede Woche Haushaltsgeld und ein Notizheft, in das ich alles eintrug, was ich ausgab. Dann setzten wir uns zusammen, und er rechnete alles aus. Ich habe so viel von ihm gelernt.

Kate sagt irgendwas, aber ich habe den Anfang verpasst. Irgendwas von einer «Vereinbarung». Außerdem spricht sie über Geld.

«Entschuldigung», sage ich. «Ich war gerade gedanklich woanders.»

Sie lächelt geduldig und beugt sich wieder zu mir vor. «Ich weiß, wie schwer das ist, Jean. Die ganze Zeit die Presse vor der Tür, Tag und Nacht. Aber mal ehrlich: Ein Interview ist die einzige Möglichkeit, sie endlich loszuwerden. Dann verlieren die das Interesse und lassen Sie endlich in Ruhe.»

Ich nicke, um ihr zu zeigen, dass ich zuhöre, aber sie gerät völlig aus dem Häuschen, glaubt, ich würde einwilligen. «Moment», sage ich leicht panisch. «Ich sage nicht ja und nicht nein. Ich muss zuerst nachdenken.»

«Wir zahlen natürlich ein Honorar – um Sie für den zeitlichen Aufwand zu entschädigen und Sie in diesen schweren Zeiten zu unterstützen», sagt sie eilig. Lustig,

Ich habe im Laufe der Zeit viele Angebote bekommen, Summen, die man sonst nur beim Lotto gewinnt. Was da für Briefe von den Reportern durch den Briefschlitz ins Haus geflattert sind! So falsch, dass man beim Lesen rot anlief. Trotzdem immer noch besser als die Hassbriefe, die mit der Post kommen.

Manche Leute reißen einen Zeitungsartikel über Glen aus und schreiben in Großbuchstaben MONSTER quer über den Text, mehrfach unterstrichen. Manchmal unterstreichen sie das Wort so fest, dass das Papier zerreißt.

Die Reporter machen genau das Gegenteil. Aber schlecht wird einem genauso.

«Liebe Mrs. Taylor» – manchmal auch nur «Jean» –, «ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, dass ich mich in dieser schwierigen Situation schriftlich an Sie wende, bla, bla, bla. Es wurde so viel über Sie geschrieben, wir würden Ihnen gerne die Gelegenheit geben, endlich Ihre Seite der Geschichte zu erzählen. Bla, bla, bla.»

Glen hat die Briefe immer mit seiner lustigen Stimme vorgelesen, wir lachten und stopften die Briefe dann in eine Schublade. Aber das war, als Glen noch am Leben war. Jetzt ist niemand mehr da, mit dem ich über dieses Angebot reden könnte.

Ich betrachte den Tee in meiner Tasse. Er ist kalt geworden, und auf der Flüssigkeit schwimmt eine dünne Haut. Das kommt von der Vollmilch, auf die Glen besteht. Bestanden hat. Jetzt kann ich fettarme Milch kaufen. Ich muss lächeln.

Kate, die gerade mit großem Tamtam dabei ist, sich

Ja, ich brauche eine Auszeit, glaube ich.

Wie aufs Stichwort klingelt es an der Haustür. Kate späht durch die Gardine und zischt: «Scheiße, Jean, da steht ein Typ vom Lokalfernsehen vor der Tür. Verhalten Sie sich ganz still, dann haut er wieder ab.»

Ich tue, was man mir sagt. Wie immer. Es ist nämlich so, dass Kate da weitermacht, wo Glen aufgehört hat. Die Verantwortung übernimmt. Mich vor der Pressemeute da draußen beschützt. Tja, mit dem kleinen Unterschied, dass sie auch von der Presse ist. O Gott, ich hocke hier Seite an Seite mit dem Feind.

Ich drehe mich zu ihr um und will gerade etwas sagen, als es wieder klingelt und der Deckel vom Briefschlitz nach oben klappt. «Mrs. Taylor?», schallt eine Männerstimme durch die leere Diele. «Mrs. Taylor? Mein Name ist Jim Wilson, von Capital TV. Haben Sie eine Minute Zeit für mich? Nur ganz kurz. Sind Sie da?»

Kate und ich sitzen da und schauen uns an. Sie wirkt sehr angespannt. Es ist seltsam, jemand anderen zu sehen, der dasselbe durchmacht wie ich jeden Tag zwei- oder dreimal. Ich möchte ihr sagen, dass ich gelernt habe, einfach still zu bleiben. Manchmal halte ich sogar die Luft an, damit sie denken, im Haus sei keine Menschenseele. Aber Kate kann nicht still sitzen. Plötzlich nimmt sie ihr Handy aus der Tasche.

«Wollen Sie eine Freundin anrufen?» Ich will mit der

«Mrs. Taylor, ich weiß, dass Sie da sind. Bitte kommen Sie an die Haustür. Ich verspreche, es dauert nur einen winzigen Moment. Ich möchte nur kurz mit Ihnen reden. Wir möchten Ihnen eine Plattform geben …»

«Verpiss dich!», schreit Kate auf einmal. Ich starre sie an. Glen hätte einer Frau niemals erlaubt, in seinem Haus dieses Wort in den Mund zu nehmen. Sie schaut mich an, sagt lautlos «Sorry!» und legt sich dann den Finger an die Lippen. Und der Fernsehfritze verpisst sich tatsächlich.

«Also das funktioniert offensichtlich», sage ich.

«Entschuldigung, aber das ist die einzige Sprache, die diese Typen verstehen», sagt sie und lacht. Es ist ein schönes Lachen, es klingt echt, und ich habe in letzter Zeit nicht oft jemanden lachen gehört. «Also dann, lassen Sie uns das mit dem Hotel erledigen, ehe der nächste Reporter aufkreuzt.»

Ich nicke nur. Ich war zum letzten Mal in einem Hotel, als Glen und ich übers Wochenende nach Whitstable gefahren sind. Das ist jetzt ein paar Jahre her. 2004. Zu unserem fünfzehnten Hochzeitstag.

«Ein Meilenstein, Jeanie», hatte er gesagt. «Das ist mehr, als die meisten Bankräuber kriegen.» Glen machte ab und zu gern mal einen Witz.

Whitstable war zwar nur eine Stunde von zu Hause entfernt, aber wir wohnten trotzdem in einem hübschen Hotel am Meer, aßen teure Fish and Chips und spazierten am Kiesstrand entlang. Ich sammelte flache Steine für Glen, er ließ sie übers Wasser flitzen, und zusammen zählten wir, wie oft sie sprangen. Die Maste der kleinen Segelboote klirrten, und der Wind brachte meine Haare völlig durcheinander, aber ich glaube, ich war richtig

Glen verschwand nämlich bereits damals aus meinem Leben. Er war anwesend und gleichzeitig auch nicht, falls das logisch klingt. Der Computer war für ihn inzwischen mehr seine Ehefrau als ich. In jeder Beziehung, wie sich dann herausstellte. Er hatte so ein Kamerading, damit die Leute ihn sehen konnten und er sie, während sie sich unterhielten. Die Belichtung von den Dingern macht, dass man aussieht wie tot. Wie ein Zombie. Ich habe ihn einfach gelassen. Ihn seinen Unsinn machen lassen.

Wenn ich ihn fragte: «Was tust du eigentlich den ganzen Abend vor dem Ding?», zuckte er nur die Achseln und sagte: «Ach, mit Freunden reden. Nicht viel.» Aber er konnte Stunden mit dem Kasten verbringen. Stunden.