cover
Any Cherubim

Mea Suna - Seelensturm

Band 1





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Mea Suna

Seelensturm Band 1

 

Any Cherubim

Widmung:

Für Anja H. aus F.



Solange ich stehen kann, kämpfe ich für dich,

solange ich atme, verteidige ich dich,

solange ich lebe, liebe ich dich.


Autor unbekannt



























Skala



Grün: gemischte Gefühle, durcheinander

Gelb: emotional, besorgt, bedrückt

Orange: nervös, aufgeregt, beunruhigt

Rosa: verliebt, Freude, fröhlich, guter Dinge

Gold: romantische Stimmung, leidenschaftlich

Rot: wütend, aggressiv, verärgert, genervt

Lila: absolut glücklich

Schwarz: ängstlich, verzweifelt, traurig, Angst

Grau: gelangweilt, frustriert, beleidigt

Blau: entspannt, gelassen, ruhig, ausgeglichen

Weiß: geheimnisvoll, verschwiegen

















Prolog


Ein leiser Piepton riss mich aus dem traumlosen Schlaf. Das dünne Leintuch hatte sich um mein Bein und um den schönen jungen Körper neben mir verheddert. Vorsichtig befreite ich mich aus den Armen, die mich die ganze Nacht umschlungen hatten. Die Nacht war nicht nur stickig, sondern auch heiß gewesen - sehr heiß! Die Erinnerung löste ein befriedigendes Gefühl in mir aus. Ein kurzer Blick auf die Blondine und meine Lust war sofort wieder erwacht. Sie war schön, sie kannte ihre Reize und wusste sie auch gekonnt einzusetzen. Mit Erfolg hatte sie mich dazu gebracht, meine trüben und dunklen Gedanken zu vertreiben. Wobei ich mir nicht sicher war, ob der Tequila den größten Teil dazu beigetragen hatte.

Die blonde Schönheit stöhnte im Schlaf und drehte sich um, sodass ich ihren Rücken bewundern konnte. Sie gefiel mir, doch ihr Name war mir entfallen. Aber das war auch nicht wichtig, denn spätestens nach dem Frühstück würde ich sie nicht mehr wiedersehen. Ich hatte sie letzte Nacht gebraucht, sie hatte mich vergessen lassen - zumindest für ein paar Stunden.

Der Piepton holte mich wieder aus meinen Gedanken. Ich wusste, was der Ton zu bedeuten hatte. Es war mein Job, der mich rief. Leise stand ich auf, zog mir nur eine Jeans über und verließ mein Schlafzimmer. Im Flur lagen ihre Unterwäsche, mein Hemd und ihre achtlos auf den Boden geworfenen restlichen Klamotten, wie ein kleiner Wegweiser verstreut. Beim Vorbeilaufen hob ich alles auf, warf es auf das weiße Ledersofa und ging durch eine Nebentür in mein Arbeitszimmer. Kühles Weiß und Schwarz dominierten die Einrichtung. Ein großer, massiver Schreibtisch stand in der Mitte des Raumes. Mir gefiel schon immer die dunkle Eleganz und die klaren Linien an Möbelstücken.

Mein Laptop schaltete sich ein, als ich mit meinem Zeigefinger über den Scanner fuhr und er meine Fingerdaten ablas. Das Handy leuchtete erneut auf, während mein Rechner startete. Ich wusste, auch ohne hinzusehen, wer mich zu sprechen wünschte. Es war eine Weile her, seit ich Kontakt mit Rom hatte. Mein bester Freund stand schon länger auf ihrer Abschussliste. Auch wenn ich die Gesichter, die uns bezahlten, nicht alle kannte, wusste ich genau, dass sie keinen Spaß verstanden. Für meinen Geschmack sah Matteo das alles zu locker. Trotz meiner Warnungen amüsierte er sich mit Models, die für Schlagzeilen sorgten. Dadurch wurde sein Gesicht öfters in Boulevardzeitschriften abgelichtet und neugierige Presseleute fingen an zu recherchieren, was in unserem Job absolut verboten war. Wir hatten klare Regeln, die wir zu befolgen hatten. Ohne Fragen zu stellen, führten wir unsere Aufträge durch und hielten uns im Hintergrund. Wie unsichtbare Schatten, dazu waren wir ausgebildet worden.

Wie erwartet öffnete sich auf dem Bildschirm meines Computers ein Fenster mit der römischen Kennung. Sofort spürte ich das seltsame Gefühl, das mich seit einigen Monaten quälte. Ich wusste, dass die Ausschüttung von Gefühlen jeglicher Art für uns nicht möglich war, doch eindeutig identifizierte ich Schuld, Angst und Traurigkeit. Es war merkwürdig - mein Leben lang dominierten Hass, Kälte und Gewissenlosigkeit. Etwas stimmte mit mir nicht. Doch bevor ich nicht herausgefunden hatte, was falsch lief oder was mit mir geschah, würde ich es für mich behalten müssen. Sonst wäre mein Leben nicht mehr sicher.

»Guten Morgen, Luca. Wie geht es dir? Wir haben eine Weile nichts mehr voneinander gehört.«

Seine Stimme war mir vertraut - schon viele Jahre. Das Gesicht auf dem Bildschirm vor mir war immer noch dasselbe. Ein kleiner, kahlköpfiger Mann mit eisblauen Augen lachte mich freundlich an. Ich kannte dieses Lächeln nur zu gut, um zu wissen, dass dahinter eine hässliche, hinterlistige Fratze steckte.

Die Übertragung des Bildes war besser als sonst. Rosig waren seine Wangen, doch das war eindeutig geschminkt, denn auf seiner linken Gesichtshälfte hatte er versucht, die große, lange Narbe zu überdecken und die restliche Haut wirkte grau und fahl. Ich grüßte ihn emotionslos zurück und hoffte, er würde bald zum Punkt kommen.

»Sag, geht es Matteo wieder gut?« Die Scheinheiligkeit in seiner Stimme ließ mich stocken. Sie wussten genau, dass Matteo hätte tot sein müssen. Nur durch mein Versprechen, ihn und seinen Lebenswandel ruhiger zu halten, hatten sie davon abgesehen, ihn zu köpfen.

»Ihr wisst doch, dass er noch einige Zeit brauchen wird, bis er wieder einsatzfähig ist.«

»Ja, ja ... aber ist er sich auch bewusst, welches Risiko wir damit eingehen? Ich hoffe für ihn, dass er begriffen hat, was ein unsichtbarer Schatten bedeutet, sonst könnte auch dein Kopf in Gefahr sein, Luca. Und das wäre wirklich sehr schade, bei deinem Talent und Können«, grinste er falsch wie eine Natter. Ich hatte seine Drohung verstanden und wollte das Gespräch so schnell wie möglich beenden. Die Erinnerung an mein Versprechen verstärkte nur meine Kopfschmerzen.

»Was willst du, Rabas?« Sofort verschwand das hinterhältige Grinsen und seine Miene wurde ernst.

»Du bekommst einen neuen Auftrag und diesmal darfst du ihn nicht enttäuschen.«

Mir war sofort klar, von wem er sprach. Er war mein Meister, mein Gönner, mein Richter und auch mein Todesurteil, wenn es ihm gefiel. Jeder kannte seinen Namen und was noch erschreckender war, wir kannten alle seine Macht, die größer war als alles, was sich die Menschen jemals vorstellen konnten. Er war ein Gott, er entschied über Leben und Tod und nur seiner Gnade war es zu verdanken, dass Matteo noch am Leben war.

Roy Morgion … der Name, der für Furcht und Respekt sorgte. Grausamkeit und Kälte waren die Attribute, die ihn auszeichneten. Härte und Disziplin hatte er uns gelehrt - Befehle ohne mit der Wimper zu zucken, auszuführen. Genau diesen Auftrag musste ich nun nutzen, um Matteo wieder in ein besseres Licht zu rücken. Ein enttäuschendes Ergebnis kam für mich nicht infrage.

Emotionen empfinden wir nur für unsere Brüder, ansonsten waren und sind sie ein lästiges Gepäck in unserem Leben. Dafür gibt es einfach keinen Platz. Doch seit einigen Monaten waren Gefühle in mir, die ich nicht erklären konnte. Ich fühlte mich von ihnen verfolgt. Während ich sie tagsüber gut zu vertreiben wusste, drangen sie nachts bis in meine Träume. Ich ließ mir nichts anmerken und ignorierte den Druck, der sich in meinem Magen aufbauen wollte.

»Wohin soll es diesmal gehen?«, fragte ich Rabas, der schon wieder grinste.

»Nach New York. Matteo wird dich begleiten. Eine Maori wird dir alle Informationen bringen.«

Ich nickte und dachte daran, wie schwer es das letzte Mal gewesen war, Matteo vor Morgion zu verteidigen. Diesmal würde ich nicht zulassen, dass er seinem Vergnügen nachging. Ich würde ihn an seinen Eid erinnern und ihn fürs Erste nicht aus den Augen lassen.

»Wann sollen wir aufbrechen?«

»Morgen früh. Er erwartet einen regelmäßigen Bericht.« Rabas machte eine kurze Pause, bevor er weiter sprach, und rückte noch näher zur Kamera. Jetzt war nur noch sein Gesicht zu sehen, das den Umfang des Bildschirmes völlig einnahm. Er drehte sich kurz um, um sicherzugehen, dass er keine Mithörer hatte.

»Keine Bilder, keine Presse, Luca. Nichts und niemand darf von euch Notiz nehmen. Denkt an euren Schwur und daran, was mit euch passiert, falls Fotos von euch in der Presse auftauchen sollten.« Dann war der Monitor schwarz und das Gespräch beendet.

New York also! Mein letzter Auftrag lag drei Monate zurück. Seit meinem 17. Lebensjahr reiste ich durch die ganze Welt, doch diese Weltstadt war noch nie mein Ziel gewesen.

Ich klappte den Laptop zu und sah aus dem Fenster. In Gedanken fuhren meine Finger ganz automatisch zu meinem Oberarm und berührten die Stelle auf der Haut, die eine Verhärtung aufwies. Dort lag das Zentrum meines Ichs. Jenes Zeichen, welches mich dazu bestimmte, ein Taluri zu sein. Ich trug es mit Stolz. Damit war ich ein Teil dieser Macht, ein Teil dieser tödlichen Familie, vor der wir alle Angst hatten und die wir doch so sehr liebten.

Diesmal würde ich nicht versagen. Das durfte ich einfach nicht. Ich würde alles tun, um zu verhindern, dass mein Erschaffer unzufrieden mit mir sein würde, aber auch, dass ich nicht gezwungen werde, meinen besten Freund zu töten, in einem grausamen Spiel, in dem ich mein Wort gegeben hatte.

Kapitel 1


Der Mond schien hell in dieser Nacht. Klar war der Himmel und die Sterne glitzerten. Der große Baum vor dem Fenster warf seine Schatten in unser Zimmer. Mit jedem kleinen Windstoß bewegten sich die Äste. Kühl strich die Nachtluft über meinen Körper, die von dem geöffneten Fenster hereinströmte. Meine Haut reagierte sofort darauf. Ich zog die Decke über meine Schultern und genoss das wohlige Gefühl meiner eigenen Wärme.

Alles schlief. Es war still im Haus, nur ich war noch wach, drehte mich unruhig zur Seite, strich mein langes, braunes Haar aus meinem Gesicht und lauschte der Stille. Die Geräusche des Tages waren verklungen und würden in ein paar Stunden von Neuem erwachen. Klapperndes Geschirr aus der Küche, der Rasenmäher auf dem Grundstück und die Menschen, die hier lebten und arbeiteten, würden wieder zu hören sein. Doch jetzt war alles stumm, nur die Alarmanlage, die uns bewachte, tat fast unhörbar ihre Arbeit.

Ich hatte das Gefühl, allein im Raum zu sein und doch sah ich meine Zwillingsschwester in ihrem Bett liegen - auf der anderen Seite des Zimmers. Ihre Decke hatte sie um ihren Körper geschlungen, sie schlief ruhig und fest. Amy liebte es, auszuschlafen, während ich gerne früh aufstand. Erst wenn die Sonne schon die Mittagszeit einläutete, erwachte sie. Ihre Haare waren zerzaust, und sie schien noch eine Weile zu brauchen, bis sie endlich richtig wach wurde. Die übliche Dusche vertrieb ihr die Müdigkeit schlagartig. Bis sie zum Mittagessen erschien, waren die Spuren ihres tiefen Schlummers meist verschwunden. Sie besaß die gleichen großen Augen, die gleiche kleine Nase, den gleichen vollen Mund, wie ich. Ihre Haare hatten genau den gleichen Farbton und auch die Länge war identisch. Erst beim näheren Hinsehen konnte man wenige, feine Unterschiede erkennen. Wir glichen uns, für jeden sichtbar, doch innerlich konnten wir nicht unterschiedlicher sein. Zwillinge von außen, jedoch innen zwei gegensätzliche Pole. Wir waren wie Yin und Yang, Sturm und Sonnenschein, hell und dunkel, sie laut und ich leise.

Amys grün-graue Augen waren einen Tick dunkler als meine und strahlten mehr. Wir achteten auf unsere Ernährung und waren beide schlank, doch war es ihre Figur, die in einem Kleid besser aussah. An meinen Armen, Beinen und am Bauch konnte man die sanften Linien, die meine Muskeln abzeichneten, erkennen. Es stimmte, dass ich sportlicher war als sie und trotzdem fand ich Amy schon immer hübscher. Ihre Linien waren zarter, femininer. Manchmal fragte ich mich, ob ich genauso anmutig und stilvoll wirkte wie sie. Den Leuten auf der Straße wurde sofort klar, dass wir Zwillinge sind. Ich liebte sie. Unsere Verbundenheit war stark - vielleicht stärker als bei anderen Geschwistern.

Es gab ein Geheimnis, von dem nur wir beide wussten. Wir sprachen nie darüber, doch wir spürten es. Ein Blick, eine Berührung und ich erkannte ihre Stimmung an der Farbe ihrer Aura, die aus ihrem Körper strömte. Für alle unsichtbar, nur für uns nicht. Es war eine besondere Verbindung - eine Gabe, die wir uns seit unserer Geburt teilten. Manchmal lästig, aufdringlich und nervig. So wusste ich ganz instinktiv, wenn sie wütend, traurig, aufgeregt oder glücklich war. Es brachte mich dazu, sensibel darauf zu achten, in welcher Verfassung meine Schwester sich gerade befand. Das Wissen, vier Minuten älter zu sein, gab mir das Gefühl, sie schützen zu müssen, sie in die richtige Richtung zu lenken, sie hin und wieder zurechtzuweisen. Sie mochte es nicht und manchmal stritten wir uns deshalb.

Ganz oft träumte ich davon, ihre Aura nicht mehr sehen zu können. Jenes Farbenspiel, das es mir möglich machte, ihre Stimmungen zu deuten und ihren Seelenzustand zu lesen. Woher diese Gabe kam, wusste ich nicht, sie war einfach von Anfang an da. Wir wurden so geboren, zumindest glaubte ich es. Einmal googelte ich danach, doch ohne Ergebnis.

Amy war etwas Besonderes und das bewies sie, als wir zehn Jahre alt wurden. Während des Unterrichts wurden sie und ihre Freundin ermahnt, endlich still zu sein und aufzupassen. Doch es gab nichts Schwierigeres für sie, als eine Schulstunde lang ihre Klappe zu halten. Wütend saßen wir im Auto und wurden von Terry, unserem Chauffeur, nach Hause gefahren. Am Ende der Stunde hatte unser Mathelehrer ihr eine Strafarbeit aufgebrummt, über die sie sich maßlos ärgerte. Ich wollte sie besänftigen, doch das schürte nur noch mehr ihre Wut. Das Rot, das sie wie ein Nebel umhüllte, schrie mir entgegen, während ich auf sie einredete. Doch plötzlich war es verschwunden. Wie einen Lichtschalter hatte sie es ausgeschaltet - einfach weg. Sie sah mich nicht mehr an. Und auch wenn ich sie berührte, ließ sie es nicht zu, dass ich ihre Stimmung lesen konnte. Amy schaffte es, ihre innere Verfassung für sich zu behalten. Völlig verwirrt starrte ich sie an und versuchte mit aller Kraft, ihren Zustand zu erfassen. Doch sie entzog mir jegliche Zustimmung. Mein eigenes verärgertes Rot durchdrang meinen Körper. Ich wollte es genauso verhindern, doch mein immer dunkler werdendes Grau zeigte ihr, wie frustriert ich darüber war. Von da an wusste ich, dass Amy im Gegensatz zu mir, in der Lage war, ihre Farben abzustellen. Ich war damals tief beleidigt. Bislang hatten wir alles geteilt. Es gab nichts, was sie vor mir geheim hielt. Es war das erste Mal, dass sie es geschafft hatte, etwas für sich zu haben - etwas, was sie nicht mit mir teilen musste. Tagelang hatte ich sauer kein Wort mehr mit ihr gesprochen, während sie mir triumphierend ins Gesicht lachte.

Den ganzen Tag über hatte ich mich auf die Abendstunden gefreut, die endlich Abkühlung versprachen. Ich blinzelte, als die letzten Sonnenstrahlen des Tages mein Gesicht streiften.

Für einen Moment trübte sich mein Blick. Eine Sekunde, in der ich unachtsam war, hätte im Ernstfall meinen Tod bedeuten können. Ich durfte nicht zulassen, dass die Erschöpfung mich vollkommen einnahm. Schnell verdrängte ich das Gefühl und schrie mich innerlich wach, ging wieder in Kampfstellung und war bereit, den nächsten Schlag abzuwehren.

Mein schwarzes Bustier war schweißgetränkt und meine Haut glänzte im Licht der Sonne. Mein langes, dunkles Haar hatte ich zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und doch hatten sich einige Strähnen daraus gelöst. Sie klebten mir an Stirn und Nacken.

Unser Atem ging schnell und unsere Wangen glühten vor Anstrengung. Meine Arme fühlten sich schwer an, als ich den Stab anhob und versuchte, meine Gegnerin an den Beinen zu treffen. So flink mein Angriff war, konnte sie ihn doch abwehren. Ein weiteres Mal hob ich den Stock. Mit einer Drehbewegung traf ich sie so, dass sie strauchelte und mit dem folgenden Schlag ließ sie sich endgültig fallen. Sofort stand ich über ihr und zwang sie aufzugeben. Ihr Blick war wütend und ein Rot durchdrang ihren Körper gemischt mit einem Hauch Grau. Ich hatte gewonnen - wieder einmal. Das Rot wurde schwächer und das Grau überlagerte es schließlich. Sie war wütend über den verlorenen Kampf. Meinen Eichenholzstab legte ich beiseite, ohne sie aus den Augen zu lassen. Ich ließ von ihr ab und bot zur Hilfe meine Hand an. Verärgert schlug sie sie aus, stand auf und lief quer durch die Halle.

»Jetzt komm schon, Amy! Es war ein fairer Fight!«, rief ich ihr nach, sie ließ mich jedoch einfach stehen. Jede Spannung war aus meinem Körper verschwunden und ich warf meinen Kopf erschöpft in den Nacken. Fluchend sah ich zur Decke und ärgerte mich. »Mach dir nichts daraus, Jade! Sie muss noch viel lernen. Du warst gut heute!«, sagte Mr. Chang gelassen und kam zu mir gelaufen, während Amy die Tür mit einem lauten Knall zuschlug, der wie ein Donner in der Halle polterte.

»Achte mehr auf deine Atmung und du solltest noch mehr Kondition aufbauen. Daran müssen wir arbeiten.« Er hob unsere Stäbe auf. Er war ein paar Zentimeter kleiner als ich - schlank und zierlich. Trotzdem sollte man ihn nie unterschätzen. Das war das Erste, was wir von ihm lernen durften. Er war beweglich wie eine Katze und genauso präzise. Ich hatte viel erwartet von einem älteren Mann, aber nicht, dass er so sportlich und unglaublich geschickt in einem Kampf sein konnte.

Amy war genauso von dem Japaner beeindruckt gewesen wie ich. Sein ständiges Grinsen hatte sie anfangs auf die Palme gebracht. Und einmal hatte Amy ihn herausgefordert. Mit einer beeindruckenden, kurzen Bewegung hatte er sie damals bewegungsunfähig zu Boden geworfen. Es ging so schnell, dass ich es nicht genau sehen konnte. Seitdem hatten wir seine spezielle Art und auch sein breites Grinsen gelernt zu akzeptieren.

»Inneres Gleichgewicht, Jade! Immer langsam ein- und ausatmen«, wies er mich noch mal an und wiederholte beim Wegräumen der Stäbe seinen Satz immer wieder. Danach verbeugte er sich vor mir, während ich es ihm gleich tat. Damit schloss er das Training für heute. Ich nahm mein Handtuch, tupfte mir den Schweiß von der Stirn und trank den letzten Schluck aus der Wasserflasche.

Amy stand bestimmt schon unter der Dusche. Wenn ich sie noch erwischen wollte, sollte ich mich beeilen. Ich konnte mir schon denken, warum sie sauer war. Ich hatte am heutigen Trainingstag alle Kämpfe gewonnen. Es frustrierte sie und das konnte ich verstehen.

Ein Handtuchturban thronte auf ihrem Kopf, während sie, nur in Unterwäsche bekleidet, mich keines Blickes würdigte, als ich die Umkleide betrat.

»Amy! … Was soll ich denn tun? … Es tut mir Leid«, versuchte ich es, doch sie ignorierte mich und zog den grauen Schleier, der sie umgab, mit in die kleine Nische. Sie legte ihre Haarbürste an die Seite des Waschbeckens und schloss den Fön an. Herrisch bürstete sie ihr Haar, bis sie schließlich den Fön einschaltete, sodass eine weitere Unterhaltung nicht möglich war.

Achselzuckend ging ich duschen und ließ sie einfach stehen. Sie würde sich schon wieder einkriegen, denn schließlich wusste ich, dass nicht ich ihr Problem war.


***


Das warme Wasser tat meinen verspannten Muskeln gut und ich genoss den Wasserstrahl auf meinen Schultern, der sich wie eine Massage anfühlte. Mr. Chang hatte uns durch die ganze Halle gejagt. Selbst als ich glaubte, ein Sauerstoffzelt zu brauchen, hatte er kein Erbarmen mit uns. Immer wieder holte er aus uns Mädchen das Beste heraus. Er schaffte es, uns zu motivieren und gleichzeitig strahlte er so viel Ruhe und Sicherheit aus, dass es mir leicht fiel, mich auf ihn einzulassen. Am liebsten meditierte ich mit ihm. Anfangs sah ich keinen Sinn darin, im Schneidersitz völlig ruhig auf dem Boden zu sitzen. In der Zeit wären mir tausend Dinge eingefallen, die ich hätte erledigen können. Doch Mr. Chang konnte mir helfen, mich zu entspannen und ein erweitertes Bewusstsein zu schaffen, das ich selbst nicht für möglich gehalten hatte. Auch wenn Amy das anders sah, hatte sie einmal zugegeben, dass sie besser schlafen konnte, seit Mr. Chang uns trainierte.

Ich hatte gar nicht mitbekommen, wie Amy den Fön ausgeschaltet hatte. Eine Tür war leise ins Schloss gefallen, als ich aus der Dusche kam. Schnell trocknete ich mich ab und zog mich an, nahm meine Sachen und lief aus der Halle.

Es war schon fast dunkel, als ich unsere kleine, private Sportanlage verließ. Zweihundert Meter vor mir lag unsere Villa. Ein kleiner Schotterweg führte direkt zum Haus. Ich rannte am Tennisplatz vorbei und hatte Amy fast eingeholt.

»Jetzt warte doch«, rief ich ihr hinterher. Und tatsächlich blieb sie stehen, drehte sich aber nicht zu mir um. Stumm bot sie mir ihren Arm an, in den ich mich einhaken sollte. Es war ihr halbes Friedensangebot und ich nahm es erleichtert an. Ihr grauer Rauch war verflogen.

»Es tut mir leid, Jade.«

»Ich weiß, aber sieh mal, Mr. Chang will, dass du gut wirst. Es ist sein Job. Außerdem will er, dass Onkel Finley mit dir zufrieden ist. Und ich will das auch.«

Beschämt senkte sie ihren Kopf. »Ich werde niemals so gut sein wie du, Jade. Du bist so talentiert. Du kannst das alles auf Anhieb. Ich dagegen muss mich für jede Übung abrackern. Ich bin nicht du«, meinte sie resigniert.

Da hatte sie recht. Sie war nicht ich und der Kampfsport war nicht ihr Ding. Dennoch könnte sie mit mehr Biss und Ehrgeiz gleiche Ergebnisse vorweisen, wenn Onkel Finley sie nur auch so antreiben würde wie mich. Doch stattdessen ignorierte er ihre mangelnde Disziplin.

»Soll ich dich das nächste Mal gewinnen lassen?« Abrupt blieb sie stehen und sah mich empört an.

»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass Mr. Chang dir das abkauft? Das merkt er doch sofort. Außerdem ... was habe ich davon? Ich habe einfach keine Lust mehr. Seit zehn Monaten plage ich mich mehrmals in der Woche ab und das nur, weil wir es ihm versprochen haben«, beschwerte sie sich.

Ich sah in ihr Gesicht. Wieder einmal ließ sie mich an ihrem Gemütszustand nicht teilhaben.

»Ich verstehe einfach nicht, warum das Training für Onkel Finley so wichtig ist. Und überhaupt, ich finde, er sollte uns mehr Freiheiten lassen. Schließlich werden wir in ein paar Wochen achtzehn.«

Ich konnte sie gut verstehen. Onkel Finley ließ uns wirklich nicht viel Freiraum.

»Wir könnten mit ihm reden. Vielleicht sieht er es ein und lockert seine Regeln ein wenig. Komm!« Ich zog sie weiter. »Ich habe Hunger. Agnes hat bestimmt etwas zu essen für uns.«

Wir lebten, seit ich denken konnte, schon immer bei Onkel Finley. Genauer gesagt, seit wir 7 Monate alt waren. Er war der jüngere Bruder unseres Vaters. Wir wussten nicht viel über unsere Eltern. Dieses Thema schien ein wunder Punkt für Onkel Finley zu sein. Er sprach nicht gerne darüber, wobei er uns schon oft mit kleinen Geschichten aus seiner Jugend zum Lachen brachte. So wussten Amy und ich nur, dass sie bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Erinnerungen an sie haben Amy und ich nicht, nur einzelne Fotos, die im Haus verteilt hingen. Ein großes Familienfoto hing im Wohnzimmer, direkt über dem Kamin. Mum und Dad, mit zwei kleinen Babys.

Amy und ich kamen sehr nach unserer Mutter. Von ihr hatten wir die grün-grauen Augen, das Schokoladenbraun ihrer Haare und die vollen Lippen. Unser Vater Aaron strahlt stolz in die Kamera, während er Amy im Arm hält und Mum mich.

Eine stille Sehnsucht überkam mich jedes Mal, wenn ich das große Familienbild betrachtete. Es gab eine unsichtbare Verbundenheit, die ich zu meiner Mutter besonders empfand, ohne genau zu wissen, warum.

Als Amy und ich ein Jahr alt gewesen waren, zogen wir von Portland nach Bayville in der Nähe von New York. Dort kaufte Onkel Finley eine Villa mit einem großen Grundstück, das fortan unser Zuhause war. Er stellte Agnes, unsere Haushälterin, und ihren Mann Ron als Gärtner ein. Sie bezogen ein kleines Häuschen nicht weit von unserem Grundstück entfernt. Agnes und Ron waren so etwas wie Großeltern für uns. Vor allem Agnes umsorgte Amy und mich wie eine Mutter. Sie bekochte uns, sorgte für saubere Wäsche in unseren Schränken und erzog uns zu selbstbewussten jungen Damen.

Das Grundstück war riesig. Onkel Finley hatte einen kleinen See anlegen und ein weiteres Gästehaus bauen lassen, das nun seit ein paar Monaten Mr. Chang bewohnte. Als Amy unbedingt Tennisunterricht nehmen wollte, ließ er selbst dafür einen Platz errichten. Damals gab es hitzige Diskussionen, warum sie nicht - wie ihre Freunde - an einem offiziellen Ort spielen konnte. Jedoch war sein Angebot, dass sie alle auf dem Grundstück trainieren durften verlockend und es dauerte nicht lange, da hatten wir fast täglich Gäste aus der Schule da, die selbst mir das Tennisspielen schmackhaft machten. Gedanken, warum unser Onkel es nicht mochte, dass wir in einem örtlichen Verein spielten oder trainierten, machte ich mir damals nicht so sehr. Aber merkwürdig fand ich es schon.

Unser Haus bot mittlerweile wirklich alles, was unsere jugendlichen Herzen begehrten. Der Pool, der zehn Meter vom Haus entfernt war, glitzerte uns türkisblau entgegen. Das absolute Highlight war der alte Geräteschuppen, den Onkel Finley für uns hatte umbauen lassen. Direkt neben dem Tennisplatz entstand innerhalb weniger Wochen ein Sport- und Spaß-Center für uns. Zuerst verstand ich den Sinn darin nicht. Doch mit der Erklärung, dass er Ruhe im Haus brauchte, wenn Geschäftspartner kamen, gab ich mich zufrieden. Schließlich fanden wir es aufregend, unseren Schuppen in eine Disco, ein Kino und in eine kleine Sporthalle zu verwandeln, in der wir problemlos ein ganzes Flugzeug hätten unterbringen können. Man konnte es fast vergleichen mit der Turnhalle unserer Schule, nur war sie ausschließlich für Amy und mich bestimmt. Hier konnten wir laut sein, toben, feiern, aber auch trainieren.

Mit 16 wurde Amy rebellisch. Sie war nicht damit einverstanden, ständig zu Hause auf dem Grundstück zu sein. Sie wollte sich mit Jungs verabreden und abends ausgehen. Onkel Finley jedoch war sehr eigen, was dieses Thema betraf. Ich selbst hatte nicht so sehr das Bedürfnis, konnte meine Schwester aber verstehen. Es reichte ihr einfach nicht mehr aus, Freunde in unserem C.O.B (Center of Body), wie wir unser Spielhaus liebevoll nannten, zu empfangen. Sie wollte raus, ihre Freiheit genießen. Die Regeln, die Onkel Finley dazu aufstellte, waren besonders für Amy schwer einzuhalten. Unsere Bodyguards begleiteten uns ständig, egal wohin. Wir waren somit nie unter uns. Das hieß, selbst wenn wir, nach langem Bitten und unter strengen Auflagen, mal ins Kino durften, saßen sie eine Reihe hinter uns.

»So kann ja nie was laufen mit Chris«, hatte sie sich bei mir wieder einmal beschwert. Er war ihr neuer Schwarm und sie legte alles daran, mit ihm allein zu sein, in der Hoffnung, dass sie endlich einen Schritt weiter kamen, als immer nur Händchen zu halten.

Jetzt waren wir beide fast achtzehn und immer noch hatte sich nichts an Onkel Finleys kurzer Leine verändert. Genau wie damals durften wir unser Grundstück nicht ohne unsere Gorillas verlassen. Wir wurden zur Schule gebracht und wieder abgeholt, was wir mittlerweile jedoch beide in Ordnung fanden, da Clive uns schon mal selbst das Auto steuern ließ.


***


Wir hatten Hunger und Agnes wartete bestimmt schon mit dem Essen. Schweigend liefen wir zur Steintreppe, die zum Eingang des Hauses führte. Am Ende der Treppe glitzerte uns der große Pool himmelblau entgegen. Bis zum Haus waren es nur noch ein paar Meter. Die vielen Fenster der Villa waren hell erleuchtet. Abends wurden automatisch die meisten Lichter eingeschaltet, selbst wenn wir mal nicht zu Hause waren. Onkel Finley war der Meinung, er könnte so Einbrecher von ihrer möglichen Tat abbringen.

An der Seitentür gab Amy den Code für die Alarmanlage ein und mit einem Summen öffnete sich die Tür. Onkel Finley hatte das ganze Grundstück elektronisch absichern lassen und nur wenige Leute kannten die verschiedenen Codes dafür. Durch den großen Flur gelangten wir in die helle Eingangshalle. In der Mitte befand sich eine breite Steintreppe, die in den ersten Stock zu den Schlafzimmern führte. Direkt gegenüber der Treppe kam man in das großzügige Wohnzimmer und von dort aus ins Esszimmer. Das große Zimmer, das eigentlich dafür gedacht war, unsere Mahlzeiten dort einzunehmen, benutzten wir nur an Weihnachten oder Geburtstagen oder wenn wir mal Gäste hatten, was selten genug vorkam. Außerdem war es Agnes zu viel, das schwere Porzellan erst von der Küche ins Esszimmer, und dann wieder zurückzuschleppen. Es war viel gemütlicher und familiärer, wenn wir unsere Mahlzeiten in der Küche einnahmen.

Wir folgten in der Eingangshalle dem Geruch, der uns zu Agnes in die Küche führte. Sie hatte ein ganz fantastisches Gespür dafür, wann wir nach Hause kamen. Immer stand das Essen auf dem kleinen Tresen bereit, der direkt an die Einbauküche grenzte. In der Mitte des Raumes stand ein großer Esstisch. Dort saßen wir meistens gemeinsam mit Onkel Finley, wenn er zu Hause war. Ansonsten zogen Amy und ich es vor, auf den Barhockern zu sitzen. Das machte es für Agnes einfacher. »Hallo Agnes, was gibt es denn heute Leckeres?«, rief ich fröhlich, als wir die Küche betraten.

Freundlich lächelte sie uns entgegen, während sie unsere Teller mit dem köstlichen Gemüseauflauf belud. Wir begannen sofort zu essen und sie schenkte zwei Gläser Fruchtsaft ein. Agnes war eigentlich unser Mädchen für Alles. Sie kümmerte sich nicht nur um das Haus, sondern hatte mit viel Liebe einen großen Teil dazu beigetragen, dass Amy und ich gut erzogen waren. In all den Jahren hatte sie sich nie groß verändert. Seit ich denken kann, war Agnes eine kleinere, rundliche Frau mit kurzem, blondem, lockigem Haar. Nur in ihrem Gesicht sah man die Zeichen der Zeit. Sie war schon sehr lange mit Ron verheiratet, der sich mit großer Leidenschaft um unseren Garten und das Grundstück kümmerte. Leider war ihre Ehe kinderlos geblieben, so betrachtete sie uns als ihre Töchter.

Unser Verhältnis zu ihr war immer innig und liebevoll gewesen. Sie tröstete uns, wenn wir uns beim Spielen verletzten, sie las uns abends eine Geschichte vor, wenn Onkel Finley nicht zu Hause war und sie kannte unsere Träume und Ängste.

»Lasst es euch schmecken und schlingt nicht. Ihr wisst, dass das nicht gut ist. Man soll sich beim Essen immer Zeit nehmen«, maßregelte sie uns. »Und? Was habt ihr heute gemacht?«, fragte sie noch und lehnte sich zu uns an die Theke.

Während ich einen großen Schluck vom Saft nahm, erzählte Amy, wie lange wir an einer bestimmten Übung trainiert und gefeilt hatten.

»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie anstrengend das auf die Dauer ist. Also ich für meinen Teil falle nachher gleich ins Bett. Ich bin echt fertig heute«, erzählte Amy mit vollem Mund.

Agnes grinste und nickte verständnisvoll.

»Ach, ja! Das hätte ich beinahe vergessen«, fiel sie ihr ins Wort, »Terry wird euch morgen in die Stadt zum Einkaufen begleiten.«

Terry und Clive, genau wie Frank, gehörten zu unserem Sicherheitsteam.

„Unsere Bodyguards“, sagte Onkel Finley immer mit einem Lächeln. Das waren sie auch. Heimlich nannten Amy und ich sie unsere Gorillas. Es gefiel uns, und vor allem Amy liebte es, sie so zu necken. Egal wohin wir gingen, einer der Gorillas war immer dabei. Sie hielten sich zwar dezent im Hintergrund, doch allein schon das Wissen, ständig einen Kontrolleur dabei zu haben, nervte.

Ich hatte mich daran gewöhnt, doch Amy hatte schon mehr als einmal versucht, sie abzuschütteln. Meistens ohne Erfolg und immer mit einer darauf folgenden großen Auseinandersetzung mit Onkel Finley. Beim letzten Mal, als Amy sich davon schleichen wollte, hatte sie es geschafft, für zwei Stunden unsichtbar zu sein, was Onkel Finley und seine Mannschaft fast in den Irrsinn getrieben hatte. Der arme Terry hatte beinahe wegen Amy seinen Job verloren und nur durch das gute Zureden von Agnes, hatte Onkel Finley schließlich nachgegeben und Terry doch nicht gehen lassen. Doch auch er hatte es eine ganze Weile gemieden, Amy oder mich zu chauffieren. Nach langen Diskussionen konnte ich bei Onkel Finley erreichen, dass die Sicherheitsleute uns mehr Raum zum Atmen geben sollten. Sie sollten sich einfach noch weiter im Hintergrund halten. Wir brauchten schließlich mehr Privatsphäre. Ständig fielen wir durch unsere Begleiter auf. Es war schon peinlich genug, dass uns die Leute auf den Straßen begafften, wenn wir in einem dunklen Rolls-Royce unterwegs waren.

Wir versprachen Onkel Finley hoch und heilig, dass wir die Sicherheitsleute nicht mehr austricksten, wenn sie auf den Straßen einen gewissen Abstand zu uns hielten und wir mit einem unauffälligeren Auto unterwegs sein durften. Ganz langsam hatte er angefangen zu grinsen und erlaubte es uns schließlich. Für Amy war es leicht, Onkel Finley zu bestimmten Dingen zu überreden. Doch was die Gorillas anging, war er meist nie von seiner Haltung abgewichen. Doch diesmal hatte sie Erfolg gehabt und er gestattete uns ein paar Meter mehr Freiraum.

Amy hatte ihre Portion schon fast aufgegessen.

»Gut, hoffentlich finde ich auch ein paar Dinge«, sagte sie und schob ihren Teller von sich.

Agnes lachte, da sie genau wusste, dass man meine Schwester eher bremsen musste und sie nie ohne Tüten nach Hause kam. Sie fand immer etwas. Wir kamen meistens voll beladen aus der Stadt zurück. Es war schon lange her gewesen, dass wir in die New Yorker Innenstadt gehen durften. Für uns war es immer etwas Besonderes.

»Du solltest dir genau überlegen, was du brauchst, bevor wir losfahren. Sonst fällt dir wieder auf dem Rückweg ein, was du alles vergessen hast«, sagte ich und schob mir eine weitere Gabel mit Nudeln in den Mund. Amy verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse und streckte ihre Zunge raus.

»Ich kann doch auch nichts dafür, wenn ich einfach mehr Kleidungsstücke brauche als du. Du solltest dir lieber mal überlegen, ob du nicht etwas an deiner Garderobe ändern willst«, gab sie schnippisch zurück.

Ich verbiss mir einen weiteren Kommentar und half Agnes, unsere Teller in die Geschirrspülmaschine zu räumen. Fröhliches Gelb und ein klein wenig Rot strömte aus mir.

Amy verstand mein Farbenspiel und brabbelte munter weiter, indem sie aufzählte, welche Kleidung sie für mich aussuchen würde. Zugegeben, in meinem Kleiderschrank befanden sich hauptsächlich sportliche Sachen, da ich es bequem liebte. Mit ein paar Ausnahmen kannte man mich nur in Jeans, engen Sporthosen, T-Shirts oder Sweatshirts. Ich machte mir nichts aus Mode, im Gegensatz zu ihr. Sie hatte eine Vorliebe für trendige und teure Designerklamotten, welche sie ausschließlich trug. Ich fand, sie sah immer sehr hübsch aus, doch für mich war das zu anstrengend, stundenlang vor unserem Schrank zu verbringen und Hunderte von Stofffetzen anzuprobieren, um sich dann doch wieder anders zu entscheiden.