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Ebook Edition

Zum Buch:

Es ist ein Skandal: Die EU schottet sich ab gegen Flüchtlinge, deren Armut sie durch ihre fragwürdige Subventionspolitik zum Beispiel in Afrika zu großen Teilen mitverursacht. Die Folgen: Für Flüchtlinge wird es immer gefährlicher, in die EU zu gelangen, es wird geschätzt, dass jeder vierte Flüchtling im Mittelmeer ertrinkt; für Schlepperbanden hingegen wird dieser »Geschäftszweig« immer lukrativer. Die Autoren zeigen die fatale Preisgabe der Menschenrechte an Europas Grenzen, untersuchen die fragwürdige Rolle der EU-Grenzagentur Frontex und fordern eine neue Flüchtlings- und Einwanderungspolitik für Deutschland und für Europa.

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Jürgen Gottschlich war 1978 Mitbegründer der taz, ab 1979 Redakteur, 1991 bis 1993 schließlich Mitglied der Chefredaktion. Seit Ende 1998 Korrespondent für verschiedene deutsche und österreichische Tageszeitungen in Istanbul.

Sabine am Orde ist studierte Politikwissenschaftlerin und stellvertretende Chefredakteurin der taz. Seit vielen Jahren schreibt sie über die Themen Migration und Integration.

Jürgen Gottschlich /

Sabine am Orde (Hg.)

EUROPA

MACHT DICHT

Wer zahlt den Preis für unseren Wohlstand?

UNTER MITARBEIT VON MICHAEL BRAUN, MATHIAS BRÖCKERS, CHRISTIAN JAKOB, BERND KASPAREK, BARBARA OERTEL UND REINER WANDLER

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

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ISBN 978-3-938060-74-2

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2011

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Umschlagabbildung: picture-alliance/dpa/dpaweb

Satz: Publikations Atelier, Dreieich

Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Printed in Germany

Inhalt

Vorwort

1

Europas Krieg gegen Einwanderer

2

Wo alles begann

3

Die afrikanischen EU-Polizisten

4

Der inszenierte Notstand von Lampedusa

5

Lebensretter vor Gericht

6

Ein guter Freund in Tripolis

7

Eine griechische Tragödie

8

Der Pufferstaat im Osten

9

Welcome to Europe

10

Frontex – »Wir koordinieren nur!«

11

Überwachung aus dem All

12

Frontex abschaffen!

13

Deutschland macht dicht

14

Dublin II oder wie Europa zur Festung wurde

15

Manifest für ein Europa der Humanität und Solidarität

Anmerkungen

Die Autoren

Vorwort

Europa ist pleite. Tag für Tag gibt es neue Hiobsbotschaften von den Finanzmärkten, ein Eurostaat nach dem anderen gilt als überschuldet, der Euro als Gemeinschaftswährung ist in Gefahr. Entsprechend wächst die Verunsicherung in der europäischen Bevölkerung. Ist es da ein Wunder, dass Europa seine Grenzen für neu ankommende Flüchtlinge dicht macht und die »Festung Europa« weiter ausbaut?

Wer so denkt, erliegt einem Kurzschluss. Die systematische Abwehr von Flüchtlingen, die Abschottung der EU-Staaten gegen »illegale Migranten« ist keine aktuelle, aus der eigenen Not geborene Reaktion auf Flüchtlinge aus Afrika, den arabischen Ländern oder Südasien. Die Abschottung Europas ist vielmehr die Kehrseite der Abschaffung der innereuropäischen Grenzen und die Voraussetzung dafür, den Zugang zum europäischen Arbeitsmarkt nach den Bedürfnissen Europas zu kontrollieren – und zwar ohne Rücksicht darauf, was europäische Politik in Afrika, im Nahen Osten oder in Afghanistan anrichtet.

Jüngstes Beispiel sind die Helden der Demokratie aus Nordafrika. Nachdem Europa über Jahrzehnte mehr oder weniger diktatorische Regimes von Marokko bis Ägypten akzeptiert hat, dann lange brauchte, um die Aufstände für Freiheit und Demokratie zu unterstützen, sind die Protagonisten der Freiheitsbewegung in kürzester Frist von Helden zu Kriminellen mutiert, wenn sie es wagten, ihre neu erworbene Freiheit dazu zu nutzen, um in Italien oder Frankreich ein würdiges Auskommen zu suchen.

Auch das sind keine aktuellen emotionalen Ausreißer einer ansonsten an humanitären Idealen orientierten Politik, sondern das Ergebnis einer zielgerichteten Wirtschafts- und Außenpolitik der Europäischen Union. Wenn von europäischer Außenpolitik die Rede ist, spricht man gerne von »soft power« im Gegensatz zu der militärisch gestützten Außenpolitik der USA. Das stimmt insofern, als dass die EU nicht mehr (wie ehedem große europäische Staaten) als klassische imperiale Macht auftritt. Dennoch betreibt die EU eine überaus aktive Außenwirtschaftspolitik, die knallhart die eigenen Interessen durchsetzt, oft auf Kosten afrikanischer und asiatischer Kleinbauern, Viehzüchter oder lokaler Händler. Das dadurch produzierte Elend lässt vielen Afrikanern oft keinen anderen Ausweg, als ihr Heil in Europa zu suchen. Doch Europa interessiert sich nicht für das Elend in Afrika, sondern für seinen eigenen Arbeitsmarkt. »Wirtschaftsflüchtlinge« können kommen, wenn die europäische Wirtschaft sie braucht. Ansonsten werden sie mit aller Härte abgewehrt.

Diese Politik wurde in den letzten Jahrzehnten immer weiter perfektioniert. Konnten Marokkaner in den neunziger Jahren noch ohne Visum nach Spanien, Türken früher ohne Visa nach Deutschland oder Ukrainer problemlos nach Polen reisen, ist jetzt längst alles dicht. Entsprechend schnellten die Zahlen »illegaler Einreisen« in die Höhe, was wiederum mit dem Ausbau des materiellen und personellen Grenzschutzes beantwortet wurde. Seit 2005 hat die EU darüber hinaus mit Frontex eine Institution geschaffen, die immer effektiver den »Schutz« der europäischen Grenzen insgesamt koordiniert. Mit Schiffen, Hubschraubern, Satelliten und schnellen Eingreiftruppen wird nun die europäische Grenze gegen die Jugend Afrikas oder die Kriegsflüchtlinge aus dem Irak und Afghanistan geschützt. Es ist ein Krieg, der sich überwiegend im Dunkeln der Nacht und weitab der öffentlichen Aufmerksamkeit abspielt, der nur schlaglichtartig beleuchtet wird, wenn im Mittelmeer zwischen Libyen und Italien gleich Hunderte Flüchtlinge auf einmal ertrinken.

Für dieses Buch haben KorrespondentInnen und RedakteurInnen der taz entlang der europäischen Außengrenzen recherchiert, von den spanischen Kanaren ganz im Westen über die italienische Insel Lampedusa und die griechisch-türkische Grenze bis hin zur Ukraine im Osten. Sie haben mit Flüchtlingen genauso wie mit Grenzschützern gesprochen, aber auch aufgespürt, wie die europäische Grenze bereits mitten in Afrika oder in den Flüchtlingslagern innerhalb der EU verteidigt wird. Dieser Krieg gegen Migranten wird in diesem Buch erstmals systematisch dargestellt und analysiert. Der Tod vieler Flüchtlinge wird seitens der EU systematisch in Kauf genommen und gehört zu den dunkelsten Kapiteln der »soft-power«-Weltmacht Europa.

Wir wollen es aber nicht dabei belassen, darzustellen und anzuprangern. Deshalb haben wir an den Schluss dieses Buches ein Manifest von Nichtregierungsorganisationen wie Pro Asyl, medico international und vielen anderen gestellt, das ein Europa der unbedingten Gastfreundschaft fordert. Um diesen Kontinent zu einem menschlichen Ort zu machen – einem Ort, an dem auch Platz für junge Afrikaner, verfolgte Iraner oder kriegstraumatisierte Afghanen ist.

Jürgen Gottschlich und Sabine am Orde

1

Europas Krieg gegen Einwanderer

Wie die europäische Wirtschaftspolitik Notlagen schafft, deren Opfer dann aufs schärfste bekämpft werden.

Von Jürgen Gottschlich, Istanbul

Johannes Klopka ist ein gestandener Mann. Er ist verheiratet, hat sechs Kinder und züchtet Tomaten. Lebte er in Holland oder Spanien, hätte er sicher ein leidliches Auskommen – doch Johannes Klopka lebt in Ghana, genauer gesagt in dem ghanaischen Dorf Kolucdor. Jahrelang hat er seine Tomaten in die Hauptstadt Accra verkauft. Das brachte nicht viel, doch die Familie kam zurecht. Doch damit ist es vorbei – und Klopka versteht die Welt nicht mehr: »Die Händler erzählen, in der Hauptstadt werden keine Tomaten mehr gegessen. Meine Tomaten verrotten auf dem Feld, ich weiß nicht, was ich machen soll.«

Tatsächlich ist den gut zwei Millionen Einwohnern von Accra natürlich keineswegs der Appetit auf Tomaten vergangen. Sie kaufen sie nur nicht mehr auf dem Gemüsemarkt, wo die Produkte aus der Umgebung der Hauptstadt angeboten werden. Stattdessen holen sie die Tomaten jetzt aus dem Supermarkt. Bereits geschält, praktisch in der Dose und zu einem Superpreis: für weniger als die Hälfte von dem, was sie für die Tomaten von Johannes Klopka bezahlen mussten. Dabei war der Gewinn des Tomatenbauers aus Kolucdor wahrlich bescheiden, seine Kinder mussten auf dem Feld mitarbeiten – praktisch umsonst. Trotzdem kann er mit den Dosentomaten nicht mithalten. Die stammen aus Frankreich, Spanien oder Holland, müssen zu hohen europäischen Arbeitskosten produziert, als Konserve verarbeitet und dann nach Afrika verschifft werden und kosten dennoch weit weniger als Klopkas Tomaten vom Feld nebenan. Des Rätsels Lösung hat einen Namen: Agrarsubventionen. Mit 55 Milliarden Euro subventioniert die EU ihren Agrarsektor im Jahr. Die mit Hilfe dieser gigantischen Summe produzierten Überschüsse, die regelmäßig jedes Jahr anfallen, werden entweder zu Butterbergen, Milchseen und Rinderhälftenstapeln, oder aber sie werden zu Schleuderpreisen exportiert.

Es ist Überschussware, vom europäischen Steuerzahler mitfinanziert, mit der die Agrarkonzerne auf dem afrikanischen Markt noch einen guten Profit erzielen können. Denn während der europäische Markt für Agrarprodukte aus Afrika praktisch dicht ist, stehen den europäischen Konzernen die Tore in Afrika zumeist weit offen. In Ghana seit 1992, als der Internationale Währungsfonds IWF die damalige ghanaische Regierung als Gegenleistung für einen dringend benötigten Kredit zwang, ihre Märkte für Importe von außen weit zu öffnen.

Was Johannes Klopka erleben musste, hatten etwa Geflügelzüchter in fast ganz Afrika schon schmerzhaft vor ihm erfahren müssen. »Hähnchen des Todes« werden die Hühnerschenkel genannt, die die riesigen europäischen Geflügelfarmen, die sogenannten »Hühner-KZs«, quasi als Abfallprodukt nach Afrika liefern. Es ist Ausschussware, die in Europa niemand mehr essen will und die den afrikanischen Geflügelzüchtern den Garaus macht.

Ein weiteres, besonders krasses Beispiel ist Baumwolle. Das weiße Gold wird vor allem in den ärmsten Staaten Afrikas südlich der Sahelzone angebaut. Für Burkina Faso ist Baumwolle praktisch das einzige Exportgut, die einzige Möglichkeit, etwas Geld zu verdienen für elementare staatliche Aufgaben wie Bildung oder Infrastruktur. Doch obwohl die Bauern für Hungerlöhne arbeiten, bleibt Burkina Faso immer wieder auf seiner mühsam gepflückten Baumwolle sitzen, trotz steigenden Bedarfs in China und anderen asiatischen Ländern. Der Grund ist derselbe wie bei den unverkäuflichen Tomaten und den Hühnern, die die afrikanischen Farmer nur noch selbst essen können: gigantische Agrarsubventionen, in diesem Fall vor allem in den USA.

350 Milliarden Dollar gegen afrikanische Bauern

Jedes Jahr pumpt die EU rund 55 Milliarden Euro in ihren Agrarsektor, weltweit bringen die großen Industriestaaten insgesamt 350 Milliarden Dollar an Agrarsubventionen auf. Dagegen steht eine afrikanische Wirtschaft – was in drei Vierteln aller Länder nach wie vor hauptsächlich Landwirtschaft bedeutet –, die durch subventionierte Billigprodukte aus Europa, den USA und Australien systematisch zerstört wird.

Was soll Johannes Klopka in Ghana tun, wenn er seine Tomaten nicht mehr verkaufen kann? Wovon sollen seine Kinder leben? Fast automatisch richtet sich der Blick auf die Weltregion, die zur Steigerung ihrer eigenen Profitraten seine Existenz zerstört hat. Er verkauft einen Teil seines Landes, von dem die Familie bislang gelebt hat, drückt den Erlös seinem ältesten Sohn in die Hand und schickt ihn auf die lange, gefährliche Reise nach Europa, damit er dort das Geld verdient, das die europäischen Dosentomaten ihm in seiner Heimat weggenommen haben. Der Sohn von Klopka hat keine Möglichkeit, in Accra zu einem Konsulat eines EU-Landes zu gehen, sich ein Visum zu holen und damit nach Deutschland, Frankreich oder Holland zu reisen – das würde er nie bekommen. Da eine legale Einreise nach Europa für ihn unmöglich ist, wird er somit zu einem »illegalen Migranten«.

Wenn er Glück hat, gelingt es ihm, mit einem Touristenvisum in die Türkei zu fliegen und von dort aus mit Hilfe eines »Schleppers« nach Griechenland zu gelangen. Wahrscheinlicher aber ist, dass er sich auf die gefährliche Reise durch die Sahara begeben muss, um irgendwo in Marokko, Mauretanien, Tunesien oder Libyen die nordafrikanische Küste zu erreichen. Das kann schon mal zwei Jahre dauern, viele Klopkas scheitern schon auf dem Weg dorthin, verdursten in der Wüste oder werden ausgeraubt und erschlagen. Doch Umkehren ist keine Alternative. Zu Hause wartet eine hungrige Familie, die quasi alles, was sie noch hatte, darauf gesetzt hat, dass der Sohn (nennen wir ihn John) den europäischen Arbeitsmarkt erreicht, um dann einen Teil seines Verdienstes nach Hause zu überweisen.

John ist sich dieser Verantwortung bewusst. Unterwegs erfährt er, dass das Volk in Tunesien einen Aufstand gewagt hat. Doch als er dort ankommt, ist die gute Gelegenheit, unbehindert in ein Boot zu steigen und nach Italien überzusetzen, bereits wieder vorbei. »Du musst nach Libyen«, wird ihm erzählt. Das ist sehr gefährlich, schließlich wird dort gekämpft, aber von der libyschen Küste fahren noch Boote in Richtung der kleinen italienischen Insel Lampedusa ab. Völlig überladen, zumeist wenig seetüchtig, sehen sich diese Boote einer hochgerüsteten Hightecharmada gegenüber, koordiniert von der neuen EU-Grenzschutztruppe Frontex (siehe dazu Kapitel 10), die ihnen den Weg nach Europa verwehren soll. Rund ein Viertel der Boote gerät bei der Überfahrt in Seenot, es kommt zu dramatischen Unfällen – das Mittelmeer zwischen Tunesien, Libyen, Malta und Italien wird zur Todeszone.

Sollte Johns Boot es dennoch bis Lampedusa schaffen, kommt er in die Mühlen einer europäischen Abschreckungspolitik, die Leute wie ihn in die Illegalität drängt und ihm jede offizielle Arbeitsmöglichkeit verwehrt. Trotzdem erträgt er alles, riskiert immer wieder sein Leben, um sich und seiner Familie eine Zukunft zu sichern, eine Zukunft, die ihm die völlig anonymen europäischen Agrarsubventionen zu Hause verbaut haben.

Wirtschaftsimperialismus schafft Wirtschaftsflüchtlinge

Geschätzt rund zwei Millionen Menschen versuchen jedes Jahr irgendwo zwischen den Kanaren, am westlichsten Punkt Europas, und der polnisch-ukrainischen Grenze ganz im Osten der EU die Barrieren der »Festung Europa« zu überwinden, um, wenn auch unter den schlechten Bedingungen eines Lebens in der Illegalität, Geld für ihre Familien zu verdienen.

Die Gründe für Migration sind vielfältig. Krieg und Bürgerkrieg sind nach wie vor die Hauptursache, dass Menschen ihre Heimat verlassen müssen. Doch Flüchtlinge aus Afghanistan und Irak, Somalia und anderen Ländern, deren Dörfer und Städte durch Krieg oder Bürgerkrieg verwüstet wurden, gehen meistens nicht weiter als in das nächstgelegene Nachbarland. Die meisten Flüchtlinge, verglichen mit der jeweiligen Bevölkerungszahl des Landes, leben in Pakistan, im Iran und in Kenia, wie die UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR in ihrem letzten Jahresbericht erst wieder vorgerechnet hat. Gemessen an der Wirtschaftskraft des Landes, nimmt Pakistan 41-mal so viele Flüchtlinge auf wie Deutschland. Die überwiegende Zahl der Menschen, die vor dem Krieg in Libyen geflüchtet ist, kam nicht nach Europa, sondern nach Tunesien – ein Land, das sich selbst erst noch neu organisieren muss und viele interne Probleme hat.

Ein anderer Fall sind die »Wirtschaftsflüchtlinge«, wie die Bürokratie sie verächtlich bezeichnet – etwa Menschen wie John Klopka. Sie werden »Wirtschaftsflüchtlinge« genannt, um damit anzuzeigen, dass sie nicht vor staatlicher politischer Verfolgung fliehen mussten und daher keinen »legalen Grund« haben, in Europa an die Tür zu klopfen. Dabei sind sie tatsächlich Wirtschaftsflüchtlinge, nur in einem ganz anderen Sinn. Sie mussten emigrieren, weil die wirtschaftliche Ausbeutung durch ungerechte Handelssysteme ihnen ein würdiges Leben in ihrer Heimat unmöglich gemacht hat.

Natürlich ist auch das schnelle Bevölkerungswachstum in Afrika ein Problem, das zur Migration beiträgt. Als Europa im 19. Jahrhundert in einer vergleichbaren Situation war, wanderten Millionen Menschen nach Nordamerika, Südamerika und Australien aus; eine Möglichkeit, die Afrikanern heute verwehrt ist. Doch trotz des Bevölkerungswachstums wäre es nach Meinung einschlägiger Experten durchaus möglich, die Menschen angemessen zu ernähren. Und dadurch den Migrationsdruck erheblich zu vermindern. Dass trotzdem nach Informationen der Welternährungsorganisation FAO heute wieder achtzig Länder, die vorher ihre Bevölkerung durchaus ernähren konnten, drohen in die Armutsfalle abzurutschen, hat nach Auffassung von Jean Ziegler mehrere Ursachen. Der 76-jährige Schweizer Soziologe und weltbekannte Globalisierungskritiker Ziegler war jahrelang UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung und berät heute den UNO-Menschenrechtsrat. Er macht verschiedene globale Ursachen für die zunehmende Verelendung vieler Länder und den daraus resultierenden Migrationsdruck aus.

Einmal die hohe Verschuldung etlicher sogenannter »Drittweltländer«. Da Schuldenerlasse zwar häufig diskutiert, zumeist aber nicht durchgesetzt werden, zwingt der Internationale Währungsfonds diese Länder als Gegenleistung für Kredite, ihre Märkte zu öffnen und ihre Landwirtschaft auf Exportgüter umzustellen, damit sie mit den so erwirtschafteten Devisen ihre Schulden beim IWF und den internationalen Großbanken bedienen können. Auf der Strecke bleibt dabei die Nahrungsmittelproduktion für die einheimische Bevölkerung.

Nach der Finanzkrise 2007 sind viele Hedgefonds in die Spekulation mit Agrarrohstoffen eingestiegen. Die Folge sind explodierende Preise für Grundnahrungsmittel wie Mais, Reis und Getreide. Nach Angaben der Welternährungsorganisation sind die Preise für eine Tonne Getreide von 2010 bis 2011 durchschnittlich von 110 Euro auf 270 Euro gestiegen. Reis und Maispreise in Mexiko und Südostasien explodierten und führten bereits zu ernsten Ernährungskrisen. Ziegler meint, dass rund 37 Prozent dieser Preissteigerung auf den Spekulationsprofit zurückgehen, »eine mörderische Spekulation, aber absolut legal«.1

Vor allem in Afrika kommt in den letzten Jahren noch ein weiterer Faktor hinzu: das sogenannte »landgrabbing«. Internationale Großkonzerne, aber auch Länder wie China oder die reichen Ölstaaten vom Golf sind dazu übergegangen, in afrikanischen Ländern Millionen Hektar wertvolles Agrarland langfristig zu pachten, um dort hocheffizient mit neuesten technischen Methoden Lebensmittel anzubauen, die entweder größtenteils in das jeweilige Land exportiert oder in Biosprit umgewandelt werden. Während korrupte Regierungen dafür viel Geld einstreichen, werden die Bauern, die in der Regel keine eingetragenen Besitzrechte für ihr Land haben, von selbigem vertrieben.

Das größte Übel ist nach Auffassung von Ziegler und vielen anderen Experten aber nach wie vor das extreme Agrardumping der EU und den USA. Durch die horrenden Subventionen von Produktion und Export von Lebensmitteln in den OECD-Industrieländern werden die Bauern Afrikas in den Ruin getrieben. »Man findet heute auf jedem Markt in Afrika europäische Obst-, Gemüse- und Fleischkonserven, die um ein Drittel billiger sind als die lokalen Produkte«, sagt Ziegler.2 »Der Bauer nebenan, der unter den härtesten Bedingungen 15 Stunden am Tag samt Frau und Kindern arbeitet, hat dagegen keine Chance, das Lebensnotwendigste zu erarbeiten. Wenige Bauern dieser Erde arbeiten unter so schwierigen Bedingungen wie die Wolof im Senegal, die Bambara in Mali, die Mossi in Burkina Faso oder die Bashi in Kivu. Doch das europäische Agrardumping zerstört ihr Leben.«3 Nüchterne Zahlen der nicht gerade für ihre linksradikale Haltung bekannten Weltbank bestätigen diesen Zusammenhang. »Wenn die EU und die USA ihre Agrarsubventionen auch nur teilweise herunterfahren würden, könnten die Länder der Dritten Welt ihren Handel um 24 Prozent steigern – das wäre ein zusätzliches Einkommen für die ländliche Bevölkerung von 60 Milliarden Dollar«, stellt ein Bericht 2010 fest.

Aminata Traoré, Schriftstellerin und ehemalige Kulturministerin von Mali, beschrieb die Situation auf dem Weltsozialforum in Nairobi 2007 so: »Europa schickt uns seine Hühnerbeine, seine Gebrauchtwagen, seine abgelaufenen Medikamente und seine ausgelatschten Schuhe. Und weil eure Reste unsere Märkte überschwemmen, gehen unsere Bauern und Handwerker unter.«4 Und in dem preisgekrönten Dokumentarfilm Let’s make money von Erwin Wagenfelder sagt der Landwirtschaftsminister von Burkina Faso, Laurant Sedago: »Wenn ihr weiterhin unsere Baumwollernten ruiniert, könnt ihr noch so hohe Mauern um Europa bauen, wir werden dennoch kommen.«5 Was sollen die Menschen auch sonst tun.

Die Fischer und das leere Meer

Am offensichtlichsten ist der Zusammenhang zwischen europäischem Wirtschaftsimperialismus und der Migration nach Europa in der Fischereipolitik. Bereits seit den achtziger Jahren sind die Meere Europas heillos überfischt – rund 88 Prozent aller Bestände sind davon betroffen. Doch statt den Fischfang einzuschränken und die europäischen Fangflotten zu reduzieren, sucht Europa sich einfach neue Fanggründe. Um in lukrativen Gewässern fischen zu können, die häufig innerhalb der 200-Meilen-Zone von Küstenstaaten liegen, schließt die EU Fischereiverträge mit diesen Ländern ab und kauft sich Fangrechte. Mit insgesamt sechzehn Staaten weltweit gibt es solche Fischereiverträge, die wichtigsten und lukrativsten liegen vor der westafrikanischen Küste von Marokko bis Guinea-Bissau und Liberia. Die Folgen sind dramatisch.

Wenn die Fischer aus den Außenbezirken der senegalesischen Hauptstadt Dakar in den frühen Morgenstunden in ihre schmalen langen Holzboote steigen und ihre kleinen Außenborder anwerfen, wissen die meisten schon, dass sie am Abend kaum das Geld für das Benzin verdient haben werden. Obwohl sie immer weiter hinausfahren, bleiben ihre Netze meistens leer. Vor zehn oder gar zwanzig Jahren war das noch ganz anders. An den Küsten des Senegal wimmelte es geradezu vor Fischen, denn die 500 Kilometer lange Atlantikküste ist ein Fischparadies. Vor dem Senegal trifft der kalte Kanarenstrom auf den warmen Äquatorialstrom und vermischt sich mit kaltem Auftriebswasser. Die Folge davon ist ein sehr nährstoffreiches, mit viel Plankton durchsetztes Meer, ein idealer Lebensraum für Hunderte Fischarten.

Doch statt in die Netze der senegalesischen Fischer wandern die Fischbestände heute in die stählernen Bäuche riesiger Fischfabriken. Bis zu 200 000 Kilo Fisch ziehen diese Megatrawler täglich aus dem Wasser, modernste Sonargeräte orten jeden Schwarm und dirigieren die gigantischen Fangnetze immer an die richtigen Plätze. Die einheimischen Fischer haben dem nichts entgegenzusetzen. Für den Senegal ist das keine Kleinigkeit. Rund 15 Prozent aller Arbeitsplätze des Landes hängen am lokalen Fischfang. Natürlich verhält die EU sich völkerrechtlich korrekt. Sie hat ein Fischereiabkommen mit der senegalesischen Regierung abgeschlossen, laut dem das Geld, das Brüssel zahlt, nachhaltig im Sinne der Bevölkerung verwendet werden soll. Schaut man hinter diese wohlmeinenden Floskeln, zeigt sich jedoch ein ganz anderes Bild. Die EU zahlt den sieben westafrikanischen Staaten, mit denen sie Verträge abgeschlossen hat, jeweils zwischen 30 und 100 Millionen Dollar pro Jahr. Was auf den ersten Blick viel erscheinen mag, entpuppt sich jedoch als Peanuts, sobald man sich das Gesamtbild des weltweiten Fischereigeschäfts anschaut. Fisch wird immer mehr zu einem seltenen Gut, in knapp vierzig Jahren, schätzt Greenpeace, könnten die Weltmeere leer gefischt sein, wenn es so weiter geht wie jetzt. Entsprechend steigen die Preise. Allein die spanische Fischindustrie setzt im Jahr 1,8 Milliarden Euro um. Die spanische Fischereiflotte ist die größte Europas und setzt immer gewaltigere schwimmende Fischfabriken ein.

Das Nachsehen haben die Fischer in den westafrikanischen Staaten. Ihre Existenzgrundlage wird gleich doppelt zerstört: einmal, weil sie selbst kaum noch etwas fangen können, darüber hinaus aber auch, weil durch die hemmungslose Überfischung die Fischpopulationen auf Jahre hinaus zerstört werden. Selbst, wenn die schwimmenden Fischfabriken weiterziehen, ist für den alten Mann am Meer vor Dakar nichts mehr zu holen. Es wirkt da schon wie Hohn, wenn europäische Entwicklungshilfe Netze für lokale Fischer bereitstellt. Profitieren von den Fangverträgen kann nur die europäische Fischindustrie; die westafrikanischen Regierungen, die die Verträge abschließen, sind entweder korrupt oder stehen unter dem Zwang, Devisen erwirtschaften zu müssen, um ihre Schulden zu bedienen. Die 86 Millionen Euro, die Brüssel jährlich etwa an Mauretanien zahlt, machen allein 15 Prozent des Staatshaushaltes aus. Bei den Fischern kommt davon nichts an. Arme Länder sind eben leicht unter Druck zu setzen.6

»Krieg gegen junge Afrikaner«

Wen kann es da wundern, wenn die Fischer aus Mauretanien und dem Senegal statt zu verhungern ihre Boote mit Flüchtlingen beladen, um die Kanarischen Inseln anzusteuern? Wer will den Fischern in Tunesien Vorwürfe machen, wenn sie ihre Boote für Flüchtlingstransporte verkaufen, um mit dem Geld die Kredite zurückzuzahlen, die sie für den Kauf des Bootes aufgenommen haben, mit dem sie aber keinen Fisch mehr fangen können, weil das Meer leer ist? Für die EU sind sie dennoch Schlepper, also Kriminelle, die verfolgt werden müssen. Denselben Ländern, deren Meere spanische Fischfabriken leer fischen, haben Spanien und die EU-Grenzschutztruppe Frontex Vereinbarungen abgepresst, die es der spanischen Küstenwache erlauben, bereits in deren Hoheitsgewässern Flüchtlingsboote aufzuspüren, zu verfolgen und aufzubringen. Damit ist Spanien gemeinsam mit Frontex so erfolgreich, dass heute kaum noch ein Flüchtlingsboot auf den Kanaren ankommt.

Die bereits zitierte malische Schriftstellerin Aminata Traoré bringt diese Politik auf den Punkt: »Die menschlichen, finanziellen und technologischen Mittel, die Europa gegen die Migrationswellen aus Afrika einsetzt, sind in Wahrheit die Werkzeuge eines Krieges zwischen dieser Weltmacht und jungen Afrikanern aus Stadt und Land, deren Recht auf Bildung, wirtschaftliche Betätigung, Arbeit und Nahrung in ihren Herkunftsländern unter der Knute der strukturellen Anpassung vollkommen missachtet wird. Als Opfer makroökonomischer Entscheidungen, für die sie in keiner Weise verantwortlich sind, werden sie gejagt, aufgespürt und gedemütigt, sobald sie einen Ausweg in der Emigration suchen«.7

Dieser »europäische Krieg« gegen sogenannte »illegale Migranten« aus aller Welt ist zumindest teilweise ausgelöst durch die beschriebene Wirtschaftspolitik der EU und anderer Industriestaaten. Er widerspricht nicht nur den gerne hochgehaltenen europäischen Werten, sondern ist doppelt zynisch, weil er die Opfer der eigenen Politik erneut und zum zweiten Mal bedrängt, einsperrt und nicht selten in den Tod treibt. Der Kampf um den Erhalt und Ausbau des europäischen Reichtums – der nach wie vor sehr ungleich verteilt ist – beginnt auch Jahrzehnte nach dem Ende des Kolonialismus immer noch weit im Vorfeld der »Festung Europa«: nämlich mitten in den Ländern, aus denen die Menschen kommen, die sich notgedrungen auf den Weg zu uns machen. Er setzt sich an der direkten europäischen Außengrenze fort und trifft selbst diejenigen, die es gegen alle Widerstände schaffen, nach Europa hineinzukommen.

Dieser »Krieg« gegen Einwanderer findet weitgehend im Dunkeln statt, organisiert und koordiniert von der europäischen Grenzschutzagentur Frontex. Schlaglichtartig deutlich wird er nur dann, wenn schwere Unglücke vor den europäischen Küsten Hunderte Menschenleben fordern. Dieser »Krieg« wird geführt mit Schiffen, Flugzeugen, Satelliten, Geländewagen und Wärmebildkameras, aber auch mit diplomatischer Erpressung und einer Bürokratie, die Einwanderer jahrelang wegsperrt mit dem Ziel, sie zu demütigen und zu entmutigen. Dieses Buch soll dazu beitragen, insgesamt mehr Licht in dieses dunkelste Kapitel europäischer Politik zu bringen.

2

Wo alles begann

Spanien war das erste Bollwerk Europas im Kampf gegen die irreguläre Einwanderung.

Von Reiner Wandler, Madrid

Der Auftritt des Oberst der Guardia Civil Mariano Jorge hatte etwas Prophetisches: »Es wird immer Wege geben, ins Land zu kommen. Jemand, der Tausende von Kilometern hinter sich gebracht hat, ist nicht durch einen Zaun aufzuhalten. Das hat die USA an der Grenze mit Mexiko nicht geschafft, warum soll es hier gelingen?«, fragte der Verantwortliche für die Südgrenze Spaniens in Algeciras an der Meerenge von Gibraltar.

Das war 1995. Spanien hatte drei Jahre zuvor auf Druck der Europäischen Union, dem das Land Ende der achtziger Jahre beigetreten war, eine Visumspflicht für Marokkaner verhängt. Wer bereits im Land war und keine Papiere hatte, wurde legalisiert, die Grenzanlagen und die Überwachung der Meerenge von Gibraltar wurden verstärkt. Die Folgen ließen nicht lange auf sich warten: Bei gutem Wetter kamen fortan Tausende in kleinen Holzbooten mit Außenbordern, einer »Patera«, oder im größeren Schlauchboot über die Meerenge von Gibraltar, die Oberst Mariano Jorge mit seiner Truppe undurchlässig machen sollte. »Brüssel und Madrid glauben, alles mit Polizei regeln zu können«, beendete damals Oberst Mariano Jorge das Gespräch und sagte ein völliges Scheitern dieser Politik voraus. Er sollte Recht behalten.

Die NGO Deux Rives (»Zwei Ufer«) mit Sitz im nordmarokkanischen Tanger schätzte um die Jahrtausendwende die Zahl der Marokkaner, die jährlich das Land verließen, auf 200 000. Die Gründe: 70 Prozent der Marokkaner waren unter dreißig Jahre alt, jährlich drängten 250 000 neue Arbeitskräfte auf den Markt. Rund 30 Prozent der Marokkaner waren arbeitslos, darunter Hunderttausende Jungakademiker. Wer einen Job auf dem Bau oder in der Industrie fand, verdiente um die 300 Mark monatlich. Heute liegt der Mindestlohn bei knapp über 200 Euro. Auch ansonsten hat sich nichts geändert, eine Lösung der sozialen Probleme ist nach wie vor nicht in Sicht. Eine Umfrage ergab, dass 75 Prozent der marokkanischen Bevölkerung das Land verlassen würden, wenn sich ihnen die Möglichkeit böte. Neben Marokkanern wanderten schon damals verstärkt Menschen aus Schwarzafrika auf diesem Weg nach Spanien ein. Ein einträgliches Geschäft für die Schleppermafias: 3000 Mark kostete damals die Überfahrt in einer Patera.

Die Reise ins vermeintliche Paradies Europa ist ein gefährliches Unterfangen. Die Strömungen auf der Meerenge sind für die kleinen Boote unberechenbar. Es wurden immer wieder Leichen an der spanischen und marokkanischen Küste angeschwemmt. »Bis zu 700 Menschen verlieren jedes Jahr ihr Leben«, schätzte ein Sprecher von Deux Rives 2001, als dieser Weg nach Europa noch einer der beliebtesten war. Genaue Angaben über die Zahl der Opfer jener ersten Flüchtlingswelle kann keiner machen. Denn es interessierten nur diejenigen, die in Europa ankamen.

Eines der wenigen bekannten Gesichter aus der Zeit dieser Tragödien ist Miki Achahkar aus dem nordmarokkanischen Al-Hoceima. In einer der ersten Pateren, die sich 1992, kurz nachdem Spanien auf Druck der EU die Visumspflicht für Marokkaner eingeführt hatte, auf den gefährlichen Weg über die Meerenge von Gibraltar gemacht hatten, saß auch sein Sohn. Das kleine Boot kenterte damals, der erst 17-jährige Abdasalam, sein dritter Sohn, ertrank in der Strömung. »Ich hab’ versucht ihn zurückzuhalten«, sagt der gebrochene Vater, »aber er wollte unbedingt zu seinem älteren Bruder in Europa.« Hier habe er doch keine Chance, hätte er gesagt. Miki Achahkar, über den die spanischen Zeitungen damals berichteten, kann sich an das Datum gar nicht mehr erinnern. Er hat es verdrängt, aber für ihn ist damals die Zeit stehengeblieben. »Ich erfuhr es aus dem spanischen Fernsehen«, erzählt er, später traf ich auch einen der Überlebenden. Von insgesamt 24 Migranten, die damals in dem kleinen Boot versucht hatten, die spanische Küste zu erreichen, überlebten nur vier.

Einer von ihnen ist Hassan. Er erinnert sich an die Schrecken der Überfahrt als wäre es gestern gewesen. »Wir waren um Mitternacht in der Nähe von Ceuta losgefahren. Eine Stunde später, mitten auf der Meerenge, wuchsen plötzlich die Wellen.« Ein Brecher von »mindestens dreieinhalb Metern« erfasste die Patera und brachte das Boot zum Kentern. Drei Stunden trieben die Schiffbrüchigen dort, wo Atlantik und Mittelmeer zusammenfließen. »Wir klammerten uns verzweifelt an das Boot. Das Wasser war kalt. Langsam ließen die Kräfte nach«, erinnert sich Hassan, der mit ansehen musste, wie einer nach dem anderen in den schwarzen Fluten verschwand. Es sind Szenen, die sich für ewig in sein Gedächtnis eingegraben haben. »Irgendwann kamen große Lichter auf uns zu«, beschreibt Hassan das letzte Bild des Filmes, der immer wieder in seinen Alpträumen abläuft. Es war die Expressfähre von Ceuta hinüber an die spanische Küste. Hassan wachte im Hospital Punta de Europa in Algeciras wieder auf. Ein paar Tage später wurde er in seine Heimat abgeschoben.

Ceuta und Melilla – Europa in Afrika

Spanien war von Anfang an eine der wichtigsten »Frontlinien« im Kampf Europas gegen die illegale Einwanderung. Millionenbeträge wurden entlang der Küste in mit modernster Technik ausgerüstete Überwachungstürme investiert. Hunderte Uniformierter und ziviler Streifenpolizisten, mit Nachtsichtgeräten und Radar versehene Boote der Guardia Civil und mehrere Hubschrauber beobachten ständig die Südgrenze der Europäischen Union. Insgesamt wurden für dieses »Integrierte elektronische System zur Außenüberwachung« (SIVE) bei Baubeginn 260 Millionen Euro veranschlagt. Professor Mehdi Lahlou, Spezialist in Migrationsfragen aus Casablanca, sieht darin eine Geldverschwendung. Mit dem gleichen Betrag, so rechnet er vor, ließen sich in Afrika 24 000 Pumpen bauen. »Damit könnten 500 000 Hektar bewässert werden. Pro Hektar wären dies fünfzehn Arbeitsplätze. Dies würde den Migrationsdruck deutlich vermindern«, war er sich bereits 2004 sicher. Gehört hat auf ihn keiner. Das Drama ging weiter.

Kaum war die Meerenge von Gibraltar dicht, suchten sich die Flüchtlinge neue Wege. Ceuta und Melilla, die beiden spanischen Exklaven an Afrikas Nordküste, wurden immer beliebter. Tausende von Flüchtlingen, vor allem Schwarzafrikaner, versammelten sich in den Wäldern rund um die beiden Exklaven und warteten geduldig auf eine Chance, die Grenze zu überwinden. Sie lebten in improvisierten Zelten aus Ästen und Plastikfolien. Schnell wurde der Zaun von zwei auf drei Meter erhöht und eine Fahrstraße für die Grenzpolizei gebaut. Das Ganze wurde mit Wärmedetektoren und Lichtschranken bestückt. Undurchlässig war die Anlage dennoch nicht. Davon zeugten die Auffanglager auf der anderen Seite, in den Garnisonsstädten Ceuta und Melilla. Hier wurden diejenigen, die den Zaun überwunden hatten, zusammengepfercht. Vor allem Melilla sorgte für Schlagzeilen, denn die Flüchtlinge hatten sich zusammengetan und organisierten im Sommer und Herbst 2005 Massenstürme auf den Grenzzaun.

Benadou und Benjamin gehörten zu denen, die es geschafft hatten. »Es war ein langer, harter Weg«, erzählten die beiden 2005 im Lager von Melilla. Keine Grenze konnte sie auf ihrem langen Weg aufhalten. Wie zum Beweis zeigt der drahtige junge Mann seine Handflächen. Sie sind voller halb verheilter Wunden. Der Nato-Draht, der die drei Meter hohe Grenzbarriere krönt, hat sich tief ins Fleisch der beiden Afrikaner geschnitten. »Wir banden mit Plastiktüten Äste zu einer Leiter zusammen und kletterten daran hoch. Oben lässt du dich dann über den Stacheldraht rollen und plumpst nach unten«, erzählt Benjamin. Die andere Leiter wird nachgeholt und am zweiten Zaun, auf der anderen Seite einer Betonpiste, auf der die spanische Grenzpolizei patrouilliert, angelegt. Die gleiche Operation wiederholt sich. Völlig erschöpft, mit unzähligen Wunden und zerfetzten Klamotten endet der Sprung dann in Melilla. »Das ist ganz schön gefährlich. Du kannst dir was brechen oder dich gar tödlich verletzen«, weiß Benadou.

Benjamin und Benadou haben Tausende von Kilometern zurückgelegt. Sie kommen aus dem gleichen Stadtteil in Douala, einer Stadt an Kameruns Atlantikküste. Sie sind in die gleiche Schule gegangen und haben zusammen auf den gleichen Plätzen gebolzt. Schließlich schmiedeten sie zusammen Pläne, denn nach der Oberschule und jahrelangen Gelegenheitsjobs sahen sie keine Zukunft »in allem, was wir irgendwie können« – vom Bau bis zur Kfz-Werkstatt, vom Säckeschleppen bis zum Lkwfahren. Denn »was in Europa eine gute Arbeit ist, bringt bei uns nichts ein«. Benjamins Vater ist Automechaniker, der von Benadou installiert Klimaanlagen. Der Lohn: 25 Euro – im Monat.

»Es war am 22. Dezember 2000, als wir aufbrachen«, erzählt Benadou. 100 Euro hatte jeder in der Tasche und eine fixe Idee im Kopf: »Irgendwo dort im Norden Afrikas liegt eine Stadt, die Melilla heißt und zu Europa gehört.« Von Douala ging es durch ganz Kamerun bis nach Nigeria, von dort in den Niger. Sie nahmen Kollektivtaxen oder fuhren per Anhalter auf Lkws oder gingen ganz einfach zu Fuß. Immer wieder arbeiteten sie, um ihr Erspartes zu schonen. Schließlich leisteten sie sich einen Taxifahrer, der sie im Niger in die Wüste brachte. 15 Kilometer vor der libyschen Grenze setzte er sie ab. Der schwierigere Teil der Reise begann.

Zu Fuß ging es durch die Sahara in das Reich von Oberst Muammar al-Gaddafi. Ein Jahr und sechs Monate sollten sie dort bleiben. »Wir brauchten Geld und arbeiteten auf dem Bau, oder was sonst so anfiel.« Nur ungern denken sie an diese Zeit zurück. Zum ersten Mal in ihrem Leben mussten sie erfahren, was Rassismus ist. »Die Libyer behandelten uns wie den letzten Dreck«, erzählt Benadou. Zum Arbeiten für billiges Geld waren sie im arabischen Land willkommen. Für mehr jedoch nicht. So hielten sie sich getrennt von den Einwohnern auf, um keine Probleme zu haben. Dennoch lernten beide etwas Arabisch.

»Nachdem wir umgerechnet 50 Euro zusammengespart hatten, ging es nach Algerien«, fährt Benadou fort. Wieder setzte sie jemand vor der Grenze ab, wieder ging es zu Fuß durch die Sahara. In der algerischen Wüste laufen alle Migrationsrouten zusammen: Libyen, Mali, aus dem Niger, von überall her kommen die Schwarzafrikaner über die weitläufige Grenze. Nur die Stärksten schaffen es. Notdürftig angelegte Gräber in der Wüste zeugen davon. »Djanet, Illizi, Ouargla, in jeder dieser Städte hielten wir uns mehrere Monate auf.« Wieder fehlte es an Geld, wieder mussten die beiden arbeiten. Doch oft währte die Freude am Ersparten nicht lange, denn die Wüstenbewohner nehmen hohe Preise, um die Immigranten zu führen oder in einem Fahrzeug mitzunehmen. Andere machen es sich noch einfacher und holen sich die paar Scheine mit Gewalt. »Die Räuber sind viele und sie sind bewaffnet, da kannst du nichts machen«, erinnert sich Benadou an die Überfälle.