Werner Bohleber

Was Psychoanalyse heute leistet

Identität und Intersubjektivität,
Trauma und Therapie,
Gewalt und Gesellschaft

 

Impressum

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Klett-Cotta

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Destructiveness, Intersubjectivity,

and Trauma. The Identity Crisis of Modern Psychoanalysis«

© 2010 by Karnac, London, England

© Werner Bohleber 2010

First published by Karnac Books Ltd, represented by Cathy Miller Foreign Rights Agency,

London, England

German language edition © Klett-Cotta 2012

Für die deutsche Ausgabe

© 2012 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Roland Sazinger, Stuttgart

Unter Verwendung eines Fotos von arquiplay 77-fotolia.com

Datenkonvertierung: Koch, Neff & Volckmar GmbH, KN digital – die digitale Verlagsauslieferung Stuttgart

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94725-0

E-Book: ISBN 978-3-608-10266-6

Vorwort von Peter Fonagy

Werner Bohleber zählt zu den wichtigsten intellektuellen Vertretern der heutigen Psychoanalyse. Durch seine intellektuelle und klinische Kompetenz und seine organisatorische Fähigkeit hat er nicht allein die Entwicklung der deutschen Psychoanalyse während des vergangenen Vierteljahrhunderts entscheidend mit geprägt, sondern er tritt auch in der internationalen psychoanalytischen Community für Ausgewogenheit und geistige Offenheit ein, die unverzichtbar sind, wenn die Psychoanalyse in ihrer pluralistischen Form überleben und gedeihen soll. Als Herausgeber einer der wichtigsten psychoanalytischen Fachzeitschriften ist es Bohleber gelungen, die zukunftsträchtigen Entwicklungen der modernen Psychoanalyse zu erkennen und aufzugreifen. Seine fundierte philosophische und psychologische Bildung ermöglichte es ihm, sich eine differenzierte und integrative Sicht einiger der komplexesten und auf dem psychoanalytischen Feld strittigsten Themen zu erarbeiten.

Für das vorliegende Buch sind wir Werner Bohleber zu Dank verpflichtet. Besser, als es jeder anderen Monographie gelungen ist, stellt es die moderne Psychoanalyse in ihrem Kontext vor. Weil der Autor mit der Vielfalt psychoanalytischer Konzepte und einem weiten Spektrum des modernen philosophischen und sozialwissenschaftlichen Denkens vertraut ist, ermöglicht er es dem Leser, sich rasch ein Bild von den tektonischen Verschiebungen zu machen, die in der psychoanalytischen Theoriebildung der vergangenen 25 Jahre zu verzeichnen waren. Nur selten begegnet man einem Autor, der in den großen Traditionen der europäischen Philosophie so sehr zu Hause ist, dass er deutlich erkennt und überdies klar vermitteln kann, welchen Einfluss diese auf das Subjekt-Objekt-Verständnis im psychoanalytischen Diskurs Europas sowie Nord- und Südamerikas ausgeübt haben. In seinem Buch legt er dar, wie die Entwicklung der klinischen Theorie und die klinische Praxis durch das intersubjektive Feld beeinflusst wurden. Indem er die Bedeutung untersucht, die der Identitätsbegriff in seinem sozialen, kulturellen und entwicklungspsychologischen Rahmen sowie im klinischen Setting der Psychoanalyse besitzt, kann er diesen tiefgreifenden aktuellen Wandel unseres psychoanalytischen Verständnisses vor dem Hintergrund zentraler Entwicklungen der Philosophie des Geistes aufzeigen. Der Horizont von Bohlebers Denken ist wahrlich beeindruckend.

Doch dies sind lediglich die Themen der ersten drei Kapitel dieses außergewöhnlichen Buches. Bohlebers Spezialgebiet ist das Trauma, und er zählt zweifellos zu den bedeutendsten Traumatheoretikern unter den heute praktizierenden Psychoanalytikern. Seine Arbeiten zum Trauma zeugen von derselben historischen Kennerschaft wie der erste, dem Intersubjektivitätsbegriff gewidmete Teil des Buches. Man kann den integrativen Ansatz, den Bohleber hier vertritt, mit Fug und Recht als eine der ausgereiftesten psychoanalytischen Formulierungen des Traumatischen bezeichnen. Sein Modell trägt der für die moderne Psychoanalyse charakteristischen Ideenvielfalt Rechnung und besticht gleichzeitig durch Kohärenz, kristalline Klarheit und Überzeugungskraft. Bohleber ordnet die Kontroverse über traumatische Erinnerungen in den Rahmen dieser Diskussion ein und erläutert die aktuelle Debatte über den Wiedergewinn von Erinnerungen ausgewogen und differenziert. Gleichermaßen luzide erörtert er das Konzept der Dissoziation, das von psychoanalytisch orientierten Autoren, denen die verheerenden Folgen genuiner Traumata nicht vertraut sind, eher einem Schattendasein überlassen wurde. Die drei Kapitel über Trauma, Erinnern und Dissoziation bilden nicht nur eine ausgezeichnete, sondern wahrscheinlich die beste Einführung in die psychoanalytische Traumaforschung, die der Leser finden kann. Der von Bohleber vertretene integrative Ansatz verbindet kreative Einsicht mit Gelehrsamkeit. Zum Beispiel ist die Beschreibung der Dissoziation als eine Form der Selbstregulation ein substantieller theoretischer Fortschritt und zugleich ein fundamentaler klinischer Beitrag.

Der dritte Teil des Buches ist vielleicht der ehrgeizigste. Auf bewundernswerte Weise führt Bohleber hier die Konzepte der Identität und des Traumas zusammen. Gegenstand dieser Kapitel sind die destruktivsten Kräfte der europäischen Kultur. Das Konzept kollektiver verkörperter und intergenerationeller Phantasmen tritt in Bohlebers Erforschung der unbewussten Phantasiesysteme zutage, die dem nationalistischen und antisemitischen Gedankengut in Deutschland während der vergangenen 200 Jahre zugrunde lagen. Bohleber zeigt, wie jene unbewussten Phantasien, die dem Antisemitismus als Nährboden dienten, an die frühen Bindungsbeziehungen anknüpfen. Die Idealisierung einer von fremden Elementen unberührten Reinheit und die unbewusste Phantasie der Verschmelzung mit einem mütterlichen Primärobjekt stützten die nationalistische und rassistische Ideologie, die heute kaum weniger als in den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts Anlass zur Besorgnis gibt. Diese Überlegungen sind für die Auseinandersetzung mit dem Terrorismus unserer Tage genauso wesentlich wie für den Versuch, die Vergangenheit zu verstehen. Bohleber arbeitet die unbewussten Phantasien heraus, die dem Fundamentalismus und Terrorismus zugrunde liegen. Indem er aufzeigt, dass unbewusste Phantasien in ähnlicher Weise auch in der religiösen Heilsgewissheit und in den Phantasien von einem idealen Staat wirksam sind, kann er erhellende Parallelen zwischen Nationalisten, Antisemiten und islamistischen Extremisten ziehen.

 

Der theoretisch solide fundierte psychoanalytische Ansatz, den Bohleber in seinem hochintelligenten Buch vertritt, lässt für die Zukunft der Disziplin hoffen. Hier erweist sich die Relevanz der Psychoanalyse für einige der schwierigsten intellektuellen Probleme unserer Generation, zum Beispiel für die Beschaffenheit des bipersonalen Feldes, die Auswirkungen interpersonaler Gewalt auf die Entwicklung des Menschen, die Ideologien, die solche Gewalt zulassen und womöglich anheizen, und die kulturellen Kräfte, die im Unbewussten wirken und jeden von uns zu einem potentiellen Täter oder Opfer machen. Bohlebers Buch ist ein Solitär, das Werk eines der kreativsten psychoanalytischen Denker unserer Generation. Zugunsten einer ausgewogenen Darstellung verzichtet es auf Rhetorik und Extrempositionen. Aus ihm sprechen ebenjene Werte der Psychoanalyse, die es hochhält, um der Idealisierung und der dahinter verborgenen Destruktivität Widerstand zu leisten.

 

(Übersetzung: Elisabeth Vorspohl)

Einleitung

Die Arbeiten in diesem Band behandeln unterschiedliche Problemkreise und Fragestellungen, die alle durch ein Thema zusammengehalten werden, nämlich wie sich die Gegenwart und das in ihr situierte Individuum in der psychoanalytischen Reflexion spiegelt und wie die Psychoanalyse Probleme dieser Gegenwart mit ihren Mitteln zu verstehen sucht. Zwar war für Freud die Klinik der Mutterboden der Psychoanalyse, aber sie war für ihn stets mehr als eine therapeutische Methode. Die psychoanalytische Durchdringung kultureller Phänomene und gesellschaftlicher Katastrophen zählte für ihn ebenfalls zu ihrem Gegenstandsbereich. Darin sind ihm seine Schüler und spätere Psychoanalytiker in unterschiedlicher Weise und Ausrichtung gefolgt. Einige haben sich ganz auf den klinischen Bereich beschränkt, während andere gesellschaftliche und kulturelle Fragestellungen als psychoanalytisches Untersuchungsfeld mit eingeschlossen haben. Aber unabhängig davon, ob jemand sich nur klinisch ausrichtete oder den Horizont breiter absteckte, es war immer auch die geschichtliche Situation oder der geschichtliche Horizont, der Themenstellungen für eine psychoanalytische Reflexion dringlich gemacht hat. Nicht zuletzt war es die psychoanalytische Bewegung selbst, die sich infolge des traumatischen Bruchs der Vertreibung aus Wien und Berlin durch den Nationalsozialismus ihrer Identität als Theorie und Praxis in anderen kulturellen Räumen neu versichern musste.

Meine eigenen Überlegungen konzentrieren sich auf drei Bereiche:

  1. Die Psychoanalyse ist in der Zwischenzeit weit über 100 Jahre alt und hat einige Entwicklungsschübe ihrer Theorie und ihrer klinischen Praxis hinter sich. Außerdem hat sich der Gegenstandsbereich der Psychoanalyse ausgeweitet, sowohl was die Störungen des Individuums betrifft als auch die Methoden der Behandlung. Man kann diese Entwicklungen rein inneranalytisch beschreiben und zu verstehen suchen, aber eine feinere Betrachtung erhellt, dass sich in ihnen auch gesellschaftliche und geistig-kulturelle Veränderungen niederschlagen. Individualisierungs- und Demokratisierungsprozesse in den westlichen Gesellschaften haben Stellung und Selbstverständnis des Individuums nachhaltig verändert, was sich auch in den neueren Konzeptionen der therapeutischen Beziehung widerspiegelt. Zwar ist es zuallererst Aufgabe der Gesellschaftswissenschaften und der Philosophie, diese Veränderungen einem Verstehen zuzuführen, aber deren Ansätze und Analysen haben auch die psychoanalytische Theoriebildung beeinflusst, die ihrerseits durch die Untersuchung unbewusster Prozesse wesentliche Beiträge leisten kann.

  2. Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts mit den beiden Weltkriegen, dem Holocaust und anderen nationalsozialistischen Verbrechen, den Vertreibungen und Flüchtlingsströmen brachten für die Menschen unermesslich viel Leid, Zerstörung und Verluste mit sich, wodurch der Begriff des Traumas zu einer Signatur dieses Jahrhunderts wurde. Die Auswirkungen des Traumas auf das Seelenleben des Menschen haben die Psychoanalyse seit ihrem Beginn beschäftigt. Geschichtliche Ereignisse ebenso wie Gewalt in gesellschaftlichen Institutionen und in Familien sind mit ihren traumatischen Auswirkungen bis heute eine Herausforderung für die Psychoanalyse, ihre Konzeption des Traumas immer wieder neu zu überdenken, und zwar nicht nur mit seinen Folgen für das Individuum, sondern auch als kollektives Trauma in seinen Auswirkungen für Gesellschaften und für die Generationenfolge.

  3. Durch die Ideologien des 20. Jahrhunderts, deren Irrationalität und Destruktivität ganz offensichtlich unbewusste Motivationen zugrunde lagen, wurde auch die Psychoanalyse herausgefordert, zu ihrem Verständnis beizutragen. Die Psychoanalyse muss die Eigenständigkeit des Sozialen beachten, was aber ihr Vermögen nicht schmälert, die Anziehungskraft, die nationalistische Ideologien unterschiedlicher Spielart und Radikalität auf den Einzelnen ausüben können, und die außerordentlich starken Affekte, die mit ihnen verbunden sind, auf unbewusste Faktoren zurückzuführen und psychologisch zu erklären. Historiker und Politologen haben bisher bei der Erklärung dieser Phänomene die Affekte kaum berücksichtigt. Aber der Pogrom fängt bekanntlich in den Köpfen an. Im 21. Jahrhundert bekommen wir es nun mit einer neuen ideologischen Variante zu tun, nämlich mit dem religiösen Fundamentalismus und dem ihm entstammenden Terrorismus.

Mit diesen drei Problembereichen ist das Feld skizziert, auf dem sich die Beiträge in diesem Band bewegen. Deren Fragestellungen und Inhalte möchte ich im Folgenden kurz zusammenfassen.

I.

Die Psychoanalyse stellt sich heute einem unvoreingenommenen Betrachter als eine nahezu unübersehbare Vielfalt von theoretischen und behandlungstechnischen Ansätzen dar. Ihren Pluralismus kann man fast schon sprichwörtlich nennen. Je nach Standpunkt und Auffassung von Wissenschaft stecken darin Risiken oder Chancen und es werden entweder schwer überbrückbare Divergenzen betont oder es wird nach Konvergenzen von Konzepten und einer gemeinsamen Basis gesucht. Unabhängig davon kann man feststellen, dass sich in den letzten Jahrzehnten alle psychoanalytischen Schulen in unterschiedlichem Ausmaß intersubjektiv geprägten Konzepten geöffnet haben, so dass manche von einer intersubjektiven Wende der Psychoanalyse sprechen, die allerdings unterschiedlich weitgehend vollzogen wurde. In das Konzept der Gegenübertragung wurde die Subjektivität des Analytikers als Erkenntnisinstrument integriert, die Übertragung des Patienten auf die Person des Analytikers wurde auf die Übertragung auf die analytische Gesamtsituation ausgedehnt und Konzepte wie projektive Identifizierung und Enactment avancierten zu leitenden Begriffen in der Behandlungstheorie der Psychoanalyse. Außerdem hat sich durch die intersubjektive Öffnung die Rolle des Analytikers als klinische Autorität und als objektiver Beobachter des analytischen Geschehens in der Behandlung gewandelt. Analytische Erkenntnisgewinnung erfolgt heute weitgehend auf der Basis der unhintergehbaren intersubjektiven Realität von Analytiker und Analysand in der analytischen Situation, wobei radikale intersubjektivistische Ansätze allerdings nicht nur die Unvermeidlichkeit einer gegenseitigen reziproken Beeinflussung betonen, sondern auch die Möglichkeit einer objektiven Erkenntnis der psychischen Realität des Patienten ausschließen.

Blickt man auf die angrenzenden Wissenschaften, so kann man auf die Anstöße für diese Weiterentwicklungen verweisen, die aus der Bindungstheorie, aus der empirischen Säuglings- und Kleinkindforschung oder neuerdings aus den Neurowissenschaften kommen. Die Entwicklungsforschung hat gezeigt, wie das kindliche Selbst von Anfang an aus wechselseitigen Regulations- und Anerkennungsprozessen in der Primärbeziehung hervorgeht. Die modernen Forschungen zu den frühen Mentalisierungsprozessen zeigen ein Selbst, das sich nur über den spiegelnden Durchgang durch die Psyche des Primärobjektes bilden kann. Es bedarf eines Anderen, um sich selbst zu erfahren. Eine solche Konzeption der Entstehung des Selbst hat Parallelen im philosophisch-sozialwissenschaftlichen Denken. Damit ist eine Reflexionsebene angesprochen, nämlich die gesellschaftlichen, kulturellen und geistig-philosophischen Strömungen der jeweiligen Zeit, zu der die Wandlungen in der psychoanalytischen Theorie und Technik in Beziehung gesetzt werden können. Der Horizont des Verstehens wird dadurch erweitert und macht durchsichtig, dass die Psychoanalyse auf die veränderte Stellung des Individuums in der gesellschaftlichen Entwicklung reagiert und in ihrer Theoriebildung Impulse aus Richtungen der Sozialwissenschaften und der Philosophie aufnimmt, die ihrerseits eine intersubjektivkonstruktivistische Wende durchlaufen haben.

Vor diesem Hintergrund möchte ich noch einige Anmerkungen zu neueren interaktiv-intersubjektiven Konzepten in der Psychoanalyse machen. In der Ein-Personen-Psychologie mit ihrem intrapsychischen Fokus stand das Ich bzw. das Selbst im Mittelpunkt der Erkenntnis, es wurden Struktur- und Triebkonflikte und Abwehrbewegungen des Ichs oder die Dynamik von Selbst- und Objekt-Repräsentanzen beschrieben. Denkt man hingegen in intersubjektiven Kategorien, so müssen nicht nur im Sinne einer Zwei-Personen-Psychologie zwei Akteure beschrieben werden, die interagieren, sondern die Interaktion selbst, die sie bestimmt und die theoretisch nicht hintergangen werden kann. Eine Begegnung ist stets mehr als die Wirkung, die sie für die sich Begegnenden hat. Mit dem Aufkommen intersubjektiver Begrifflichkeit taucht auch der Begriff des Subjekts und der Subjektivität in der psychoanalytischen Diskussion auf, um die personale Ganzheit der Akteure zu bezeichnen. Damit erscheint ein altgedientes philosophisches Konzept mehr oder weniger unreflektiert auf der Bühne psychoanalytischer Theoriediskussion. In der Gegenübertragungsanalyse avancierte die Subjektivität zu einem Erkenntnisinstrument. Das traditionelle Subjekt-Objekt-Paar der Erkenntnisgewinnung wurde vom Subjekt-Subjekt-Verhältnis abgelöst, um die intersubjektive Wechselseitigkeit psychoanalytischer Prozesse zu betonen. Ein weiteres Begriffspaar ist die aus der Philosophie übernommene Dialektik von Selbst und Anderem. Damit wird ein Selbst beschrieben, das aus den Interaktionen mit einem Anderen, zunächst mit dem Primärobjekt, entsteht und das auch im weiteren Leben auf den Anderen angewiesen bleibt.

Auch die psychoanalytische Situation wird nun anders konzipiert als in der Zeit des intrapsychischen Paradigmas. Sie wird zur prototypischen Situation intersubjektiver Begegnung, und eine Vielfalt von Begriffen und Konzepten wird eingeführt, um das Intersubjektive zu erfassen. So finden wir z. B. »Begegnung«, den »Augenblick der Begegnung«, »Gegenseitigkeit«, das »Zwischen«, das »bi-personale Feld«. Solche Begriffe können eine große Faszination ausüben, bleiben aber in ihrem Gebrauch oft theoretisch weder ausreichend durchdacht noch konzeptuell hinlänglich verankert. Wird z. B. in den modernen Theorien das Selbst stets in intersubjektive Situationen eingebunden und ist daraus nicht herauslösbar oder wird das intersubjektive Feld als unhintergehbares Ganzes konzeptualisiert, so verschwindet ein wie immer begrenzt autonom und als Einheit gedachtes Selbst/Subjekt aus der Theorie. Konsequenterweise wird dann ein als einheitlich gedachtes Selbst durch die Konzeption eines multiplen Selbst ersetzt, dessen Anteile in jeweils unterschiedlichen interaktionellen Situationen verankert und eingebunden sind. Unschwer findet man darin postmodernes Denken mit seiner Dekonstruktion des Subjekts wieder.

Mit diesen Problemen befassen sich die ersten drei Kapitel dieses Buches. Im 1. Kapitel wird die Gefahr diskutiert, über dem Vorrang des Intersubjektiven das Individuum und seine Eigenständigkeit bzw. Autonomie aus dem Blick zu verlieren. Aus einer intersubjektiven Perspektive wird die analytische Beziehung als ein aufs Engste verflochtenes psychisches System oder ein gemeinsam konstruiertes intersubjektives Feld bzw. eine intersubjektive Matrix verstanden. Darin avanciert die präsentische Beziehung als eine Bedeutung schaffende Begegnung zum zentralen Element der therapeutischen Situation. Übertragung und Gegenübertragung werden zu Spezialfällen einer umfassenderen intersubjektiven Beziehung, sie wird zur Grundkategorie und das Subjekt wird zum kontingenten Effekt von Kontexten reduziert. Es ist hilfreich, sich bei der Diskussion nicht zu sehr auf die aktuellen Entwürfe einer relationalen Psychoanalyse zu beschränken, sondern die Kategorie der intersubjektiven Theorien weiter zu fassen. So fallen südamerikanische »bi-personal field«-Theorien ebenso darunter wie kontinentaleuropäische, vor allem französische und deutsche Theorien, die phänomenologische oder fundamentalontologische philosophische Traditionen von der Beziehung von Selbst und Anderem in ihren psychoanalytischen Ansätzen mit aufnehmen.

Im 2. Kapitel zeichne ich nach, wie sich die Entwicklung der klinischen Theorie in den Leitmetaphern spiegelt, die zur Beschreibung des analytischen Prozesses und der analytischen Haltung benutzt werden. Freuds Metapher von der Position des Analytikers als eines undurchsichtigen Spiegels steht am Anfang, während heute intersubjektive Feldmetaphern und in der relationalen Analyse die Metapher der »Verhandlung« zwischen Analytiker und Analysand im Vordergrund stehen. Metaphern können in besonderer Weise geistige Vorgänge fassbar und beschreibbar machen. Sie führen stets unausgeschöpfte Bedeutungen mit sich. Es ist äußerst interessant zu sehen, wie klinische Weiterentwicklungen und deren theoretische Explikation sich mit dem unausgeschöpften Bedeutungsfeld der Leitmetaphern verbinden. Aber die Funktion von Metaphern ist ambivalent. Weil sie Wahrnehmungen und Denkwege steuern, können sie Aspekte des Ganzen, die außerhalb des metaphorischen Bedeutungsfeldes liegen, verdecken.

Im 3. Kapitel geht es um die Auswirkungen der gesellschaftlichen Veränderungen in der Spätmoderne auf die Konzeption der Adoleszenz und auf die psychoanalytischen Persönlichkeits- und Identitätstheorien. Durch den gesellschaftlichen Strukturwandel hat sich die Vorstellung einer stabilen, lebenslang festgefügten Identität verflüssigt oder aufgelöst. Lebensformen haben sich in den westlichen Gesellschaften enorm pluralisiert und Geschlechtsrollen flexibilisiert. Identitätsbildung endet nicht mehr in der Zeit der Spätadoleszenz, sondern bleibt offen und wird zu einem lebenslangen Projekt. Psychologisch gesehen sind diese Entwicklungen in sich ambivalent. Sie geben Wünschen nach Selbstverwirklichung verstärkten Auftrieb, werden aber gleichzeitig zu Anforderungen an den Einzelnen, die ihn zu überfordern drohen.

Objektbeziehungspsychologie, intersubjektive Theorien, Säuglingsforschung und Bindungstheorie haben in den letzten 40 Jahren bewirkt, dass seelische Entwicklung verglichen mit der traditionellen Ich-Psychologie immer weitergehender in einer interpersonalen Matrix verortet worden ist. Darauf bauen einige neuere psychoanalytische Persönlichkeitstheorien auf, die die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen für die Persönlichkeits- und Identitätsbildung zu berücksichtigen suchen. Eine der zentralen Fragen ist dabei die nach der Einheitlichkeit des Selbst. Können wir noch davon ausgehen, dass sich ein solches einheitliches Selbst bildet, oder müssen wir diese Vorstellung aufgeben und können nur noch von einem Ensemble multipler Selbstvorstellungen sprechen, deren Einheitlichkeit eine illusionäre, aber für den Einzelnen dennoch notwendige Vorstellung ist? Diese Fragestellung versuche ich mit einem modernen dialektischen Identitätskonzept zu beantworten, das Eriksons Identitätsbegriff weiterentwickelt.

II.

Im Mittelpunkt des zweiten Teils stehen Probleme der psychoanalytischen Traumatheorie, die sich durch die Menschheitskatastrophen des 20. Jahrhunderts für die Psychoanalyse dringlich gestellt haben. Im 4. Kapitel zeichne ich die Entwicklung der Traumatheorie nach, die lange im Schatten der psychoanalytischen Triebtheorie stand. Die Behandlung Überlebender des Holocaust erzwang die Beschäftigung mit dieser extremen Form der Traumatisierung und führte zur Entwicklung neuerer theoretischer Ansätze und zu veränderten Behandlungskonzeptionen. Weitere Anstöße kamen zu einem späteren Zeitpunkt durch den Vietnamkrieg und durch eine zunehmende gesellschaftliche Sensibilisierung für den sexuellen Missbrauch und die Misshandlung von Kindern. Die psychoanalytischen Traumatheorien haben sich auf der Basis zweier Modellvorstellungen entwickelt: der psychoökonomischen und der hermeneutisch-objektbeziehungstheoretischen. Um das Trauma, seine Phänomene und seine Langzeitfolgen angemessen zu begreifen, benötigen wir beide Modelle. Das psychoökonomische Modell fokussiert auf das Übermaß von Erregung und Angst, das seelisch nicht gebunden werden kann, sondern die psychische Textur durchschlägt. Beim objektbeziehungstheoretischen Modell stehen der Zusammenbruch der inneren tragenden Objektbeziehungen und der inneren Kommunikation sowie die Erfahrung gänzlicher Verlassenheit im Mittelpunkt, was bewirkt, dass das Trauma narrativ nicht integriert werden kann.

Thema des 5. Kapitels sind Probleme der Erinnerungsbildung bei Traumatisierungen und die Bedeutung des kollektiven Gedächtnisses. Lebensgeschichtliche Erinnerung und die Rekonstruktion der Vergangenheit haben in der gegenwärtigen klinischen Theorie der Psychoanalyse ihre zentrale therapeutische Funktion eingebüßt. Das Trauma und seine Erinnerung steht zu dieser Entwicklung quer. Traumatische Erinnerungen unterliegen nicht einer Transformation durch die Gegenwart, in der sie erinnert werden. Sie bilden einen mehr oder weniger abgekapselten Fremdkörper im psychisch-assoziativen Netz. Die dort herrschende psychische Dynamik und die Frage der Genauigkeit von Erinnerungen sowie deren Rekonstruktion im therapeutischen Prozess bilden einen Schwerpunkt dieses Kapitels. Ein weiterer liegt auf der vitalen Bedeutung, die der gesellschaftliche Diskurs über die historische Wahrheit von ›man-made disasters‹ für die betroffenen Individuen und die Gesellschaft hat. Oft setzt hier ein Nicht-wissen-Wollen ein, um sich nicht mit dem Verbrechen, dem Grauen und dem Leid der Opfer konfrontieren zu müssen. Verbrechen zu erinnern entwickelt eine besondere Dynamik. Ich beschreibe diese sowie deren transgenerationelle Wirkungen für die deutsche Nachkriegsgesellschaft.

Im 6. Kapitel widme ich mich dem in der Psychoanalyse lange ausgegrenzten Konzept der Dissoziation. Zwar benutzte Freud anfangs diesen Begriff, gab ihn aber rasch zugunsten der Verdrängung auf. Erst die erneute intensive Beschäftigung mit Mechanismen traumatischer Erfahrungen und eine wieder erwachte Aufmerksamkeit für dissoziative Phänomene brachten das Konzept in die analytische Diskussion zurück. Dissoziative Selbstzustände reichen von sehr subtilen Ausprägungen bis zu schweren dissoziativen Identitätsstörungen. Dissoziative Bewusstseinsstörungen gelten nach dem gegenwärtigen Forschungsstand als eine spezifische Folge schwerer Traumatisierung in der Kindheit und im Erwachsenenalter. Dissoziation hat eine doppelte Funktion: zum einen eine Schutzfunktion angesichts einer unerträglichen Realität in der traumatischen Situation selbst, zum anderen ist sie auch ein pathologischer Versuch einer Selbstregulation. In dem Kapitel diskutiere ich anhand von klinischem Material diese dissoziativen Bewusstseinszustände, die Schwierigkeiten ihrer therapeutischen Behandlung sowie einige der Forschungsprobleme, die die Psychoanalyse bis heute mit diesem klinischen Konzept hat. Ich plädiere dafür, die Dissoziation als klinisches Phänomen wieder in den psychoanalytischen Theoriekorpus zu integrieren.

III.

Für Freud waren die Entwicklung der Kultur und des Einzelmenschen ineinander verflochten. In der Menschheitsgeschichte und in kulturellen Phänomenen, wie der Religion, fand er – wie Spiegelungen – die dynamischen Konflikte zwischen Ich, Es und Überich wieder, die er beim Individuum studiert hatte. Heute sind wir mit direkten Rückschlüssen vom Individuum auf die Gesellschaft weitaus zurückhaltender geworden. Wir können beide nicht mehr als Bereiche ansehen, die sich ineinander spiegeln, sondern müssen die abstrakten Steuerungsmechanismen gesellschaftlicher Prozesse berücksichtigen, die anonym und damit anders in die Lebenswelt eines Menschen eingreifen als Personen. Aber es gibt einen Bereich, nämlich die Massenideologien des vergangenen Jahrhunderts, zu deren Verständnis die Psychoanalyse unmittelbar einen Beitrag leisten kann, vor allem wenn es zu erklären gilt, wie sie Macht über die Vorstellungswelt von Menschen gewinnen konnten.

Zunächst geht es im 7. Kapitel um Gewalttaten Jugendlicher und darum, was die Psychoanalyse aus ihrer klinischen Erforschung zum Verständnis dieser Phänomene beitragen kann. Ein Aspekt wird besonders beleuchtet: die Anfälligkeit spätadoleszenter Jugendlicher für radikale und destruktive Ideologien, was durch die islamistischen Attentäter nachhaltig demonstriert worden war. In diesem Kapitel analysiere ich adoleszente Gewalttaten an einem anderen Beispiel, nämlich dem Massaker an der Columbine High School. Dadurch dass wir heute über das gesamte Aussagematerial und die Tagebücher der Attentäter verfügen, können wir die Vorgänge und die Motive der Täter relativ gut nachzeichnen. Eine traumatische Kindheit, Kränkungen und Entmutigungen in der adoleszenten Entwicklung, die schließlich in eine Sackgasse und Isolation geriet, führten zum Überborden destruktiver Phantasiewelten, die sich aus nazistischen und sozialdarwinistischen ideologischen Versatzstücken speisten, und endeten in der ultimativen Tat.

Im 8. Kapitel untersuche ich die Interdependenz von Nationalismus und Antisemitismus. Die Vorstellung der Nation ist eine Mischung von fact und fiction, die besonders in Deutschland durch die Definition als ethnisch homogene Gemeinschaft phantasmatisch stark aufgeladen war. Als dynamisches Kraftfeld und als organisierende Phantasie formte das idealisierte Bild der Nation den Juden als negatives Gegenbild. Auch wenn man Daniel Goldhagens These eines eliminatorischen Antisemitismus nicht zustimmt, stellt sich doch die Frage: wie kann man die zunehmende Radikalisierung des Antisemitismus in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. und dann vor allem im 20. Jahrhundert erklären? Gibt es eine mentale Disposition, die sich aus unbewussten Quellen speist und die antisemitische Vorstellungen psychisch organisiert und zu ihrer Radikalisierung beiträgt? Kollektive Phantasmen speisen sich aus Körpervorstellungen und aus familialen Repräsentanzen. Von da ausgehend erschließe ich aus den nationalistischen und antisemitischen Vorstellungswelten unbewusste Phantasiesysteme, in deren idealen und purifizierten Wunschvorstellungen die Neigung zum Extrem und zur Gewalt involviert ist: Es handelt sich erstens um die Phantasie, der Einzige zu sein, dem die mütterliche Zuwendung und Versorgung zukommt, der Rivale wird ausgeschaltet. Zweitens um die Phantasie, an einem reinen, idealen Zustand zu partizipieren, der durch keine Andersartigkeit gestört wird. Und drittens um die Phantasie, in einem organischen Ganzen aufzugehen, imaginiert als das Wiederfinden einer Union mit dem mütterlichen Primärobjekt, um damit eine abgetrennte und entfremdete Existenz zu überwinden.

Heute ist mit dem religiösen fundamentalistischen Terrorismus die Religion schlagartig auf die politische und gesellschaftliche Bühne zurückgekehrt, und zwar mit einer destruktiv-düsteren Seite. Sie fordert auch die Psychoanalyse heraus zu erklären, wie Glaubensgewissheit und Hass sowie apokalyptische Paradiesvorstellungen als Phantasie eines narzisstischen Idealzustandes und mörderische Gewalt zusammenwirken und psychologisch zusammengehören. Im 9. Kapitel untersuche ich den protestantischen und islamistischen Fundamentalismus und den aus ihm entstehenden Terrorismus. Ein Vergleich des Letzteren mit der Vorstellungswelt des radikalen deutschen Nationalismus und Antisemitismus fördert erstaunliche Ähnlichkeiten zutage. Die dort eruierten unbewussten Phantasiesysteme sind auch in dieser mentalen Welt mächtig und treiben das terroristische Handeln an. Allerdings bedarf es dazu noch mehr als nur einer das Denken und Handeln radikalisierenden Vorstellungswelt. Durch spezifische Gruppenpraktiken wird eine Transformation der Persönlichkeit des Einzelnen erzielt, die ihn in die Lage versetzt, terroristische Aktionen auszuführen.

I. Identität und Intersubjektivität