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Hildegard Knef

Der geschenkte
Gaul Bericht aus
einem Leben

Roman

edel EDITION ist ein Imprint der edel entertainment GmbH

© 2008 edel entertainment GmbH, Hamburg

Mit freundlicher Genehmigung der Funkturm Verlag GmbH

Erstveröffentlichung Fritz Molden Verlag, Wien-München-Zürich 1970

www.edel.de, www.moewig.de

Coverabbildungen: Ulrich Mack

Covergestaltung: Groothuis, Lohfert, Consorten | www.glcons.de

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

eISBN 978-3-8419-0040-1

Liebeserklärung an einen Großvater

Meiner hieß Karl, er war mittelgroß und genauso kräftig, wie er aussah. Er trug den Kopf sehr gerade, die Wirbelsäule auch, und er hatte einen großen Mund mit vielen Zähnen; er hatte sie noch alle 32, als er mit 81 Jahren Selbstmord machte. Sein Jähzorn war das Schönste an ihm, erstens weil er sich nie gegen mich richtete und weil er so wild und rasch kam, wie er verging, und wenn vergangen, wurde sein Gesicht warm wie ein Dorfteich in der Sommersonne und seine Bewegungen verlegen und einem fischenden Bären gleich.

Im Winter wohnten wir in der Sedanstraße in Schöneberg; die Sedanstraße war ein Berlin ohne Bäume, und er paßte gar nicht dorthin, er ging mit mir ununterbrochen spazieren und kaufte mir vor dem Mittagessen Anisbonbons, jedesmal gab es deshalb Krach, wenn wir zurückkamen.

Meine Großmutter war zart, zuckerkrank, und die Tragödie ihres Lebens war, daß sie Karl nicht liebte und daß er sie ängstigte. Er war polnisch-ostpreußischer Abstammung, er sprach selten über seine Familie, sehr mühsam fand ich heraus, daß sein Vater sämtliche Güter verspielt und versoffen hatte, daß seine Mutter während einer Schwangerschaft einen Nervenzusammenbruch hatte und die Tochter, die darauf zur Welt kam, sechzehn Jahre später verrückt wurde und regelmäßig jedes Jahr vier bis sechs Monate in einer Heilanstalt zubrachte, von der sie nach Entlassung sonnig die grauenhaftesten Geschichten zu erzählen hatte. Mein Großvater wurde ihr Vormund, und er litt, glaube ich, sehr darunter; sie zog sich manchmal auf einer Berliner Brücke (sie hatte einen starken Hang zu Brücken) splitternackt aus, und mein Großvater mußte dann zur Polizei, er versuchte das alles vor mir zu verbergen, aber ich bekam es natürlich doch heraus, sosehr sie auch alle flüsterten und immer wieder nachsahen, ob ich auch eingeschlafen war.

Im Sommer war alles anders, wir waren bei Zossen in seinem kleinen Haus – es war eigentlich eine glorifizierte Laube mit vier Räumen und einem gemütlichen Herd, auf dem die jungen Küken nachts warmgehalten wurden –, seinem großen Garten mit Obstbäumen und Kohl und Spargel und einem kleinen Teich, in den ich regelmäßig fiel und entweder von meinem Großvater oder unserem keiner auch nur entfernt bekannten Rasse angehörigen Riesenhund gerettet wurde. Was ich im Winter an Anisbonbons fraß, waren im Sommer, nur noch in weitaus größeren Mengen, Äpfel, mein Großvater vertrat den eigenwilligen Standpunkt, daß auch nach regelmäßigem Erbrechen noch genug Apfel im Körper zurückbleibt, um mich mit Kraft und ungestörtem Wachstum über den sedanstraßigen Winter zu bringen.

Schwierig wurde unser Leben, wenn Großmutter für jeweils zwei bis drei Tage in der Woche in unser Paradies kam. Ich durfte nicht mehr halbnackt herumrasen und wurde in Wolle gesteckt, Karl sollte sein Netzhemd nicht »öffentlich« tragen, Äpfel wurden als wurmfördernd verschrien, meine Ziege durfte ich nachts nicht mehr an mein Bett binden, und mein Lieblingskarnickel mußte in seinem Verschlag ein anständiges Karnickeldasein führen, das ganze sommerliche Leben wurde organisiert und weiblich ordentlich.

Der erste rasende Jähzornanfall meines Großvaters fand unfehlbar zehn bis fünfzehn Minuten nach der scheu-herzlichen Begrüßung statt, er zog sich anschließend brummend und vor sich hin redend auf seine hinteren Kohlbeete zurück, um wenig später braungebrannt und zufrieden auf dem Sofa zu sitzen, Omas Kaffee zu trinken und ihr von meinen unglaublich geniegleichen Äußerungen zu berichten – das war die schönste Stunde für mich, wir beteten uns gegenseitig an, über die uns trennenden sechzig Jahre hinweg. Ob ich nur ungeschickt oder bösartig war, wird keiner mehr ergründen, jedenfalls fiel immer etwas herunter, was zerbrechlich war, und damit war jedem aufkommenden Verständnis meiner Großeltern füreinander ein jähes Ende gesetzt.

Sonntags kam meine Mutter. Sie mußte arbeiten, sie war damals Sekretärin bei Siemens – mein Vater war sechs Monate nach meiner Geburt gestorben, und ich fand es bedeutend, eine Halbwaise genannt zu werden –, sie kam, und ich tat jedesmal so, als ob ich sie nicht erkannte, machte einen höflichen Knicks und sagte: »Guten Tag, Tante.« Meine Großmutter fing sofort an zu weinen und schnüffelte etwas von unnatürlichem Leben für ein Kind in dem Alter, meine Mutter hatte Tränen in den Augen, nahm mich auf den Arm und rügte meine Großmutter wegen der wollenen Kleidung, die ich bei der glühenden Hitze trug, zwischen der nunmehr beginnenden Auseinandersetzung bekam ich mein Sonntagsgeschenk von meiner Mutter und hörte meinen Großvater etwas von blöder Gefühlsduselei sagen. Montags fuhren Mutter und Großmutter nach Berlin zurück, und nach herzzerreißendem Abschied und langem Winken blinzelten Großvater und ich uns zu wie zwei Verschwörer, die ihrer illegalen Arbeit nun wieder ungestört nachgehen dürfen. Montags durfte ich ganz nackt im Garten laufen, bekam die Äpfel nachgeliefert, die ich während der Besuchszeit verpaßt hatte, und mußte mich meist bereits vor dem Mittagessen übergeben.

Meine Großmutter wurde dünner und nervöser, und ihre schönen sehr großen hellgrauen Augen wurden unruhig und ganz farblos. Manchmal wurde sie ohnmächtig, das machte Großvater hilflos und wütend. Sie wollte auf gar keinen Fall in ein Krankenhaus, als Begründung sagte sie: »In einem Krankenhaus werde ich sterben, das fühle ich.« Sie wollte auch keine Spritzen, sie taten in ihrem fleischlos gewordenen Körper weh. Als sie zu matt wurde, um sich wehren zu können, brachte meine Mutter sie dann doch in ein Krankenhaus, und wenig darauf starb sie. Ich wurde während dieser Zeit täglich in einen Kindergarten in der Sedanstraße gebracht, den ich zutiefst haßte, die immer freundlichen Schwestern, die ihre Freundlichkeit an alle regelmäßig verteilten, machten mich unglücklich; mir wäre es dann schon lieber gewesen, wenn sie mich angebrüllt hätten. Ich beteiligte mich nie an den Spielen, weinte zu meiner und der Schwestern Verzweiflung endlose Stunden hindurch und sehnte mich nach meinem Großvater und Zossen und Sonne. Eines Morgens sagte meine Mutter zu mir, daß die Oma nun im Himmel sei, und weinte dabei … der einzige, der bei der Trauerfeier nicht weinte, war mein Großvater, und das fand ich auch ganz richtig, denn die Kombination Himmel und Tränen war mir zu verwirrend. Er lachte auf der Fahrt zum Friedhof sogar einmal, und meine Mutter sagte später, er wäre schon immer so »roh« gewesen.

Meine Mutter kündigte bei Siemens, um sich mehr um mich kümmern zu können, denn »man kann das Kind nicht mit einem alten Mann aufwachsen lassen …«, und kaufte sich ein Zigarrengeschäft in der Nähe der Friedrichstraße. Sie war damals sehr schön, und viele Männer kamen, kauften Zigarren, um sie einige Meter vom Laden entfernt in einen Gully zu schmeißen – eines Tages beobachtete Mutter einen ihrer Stammkunden bei dieser Beschäftigung und sagte sich wohl, daß die Tabakbranche nicht das richtige für sie sei, daraufhin wurde mit vielen Schwierigkeiten ein Schokoladenladen gekauft, in dem sie und ich die Hälfte unserer Ware allein aßen, in dieser Zeit lernte sie Herrn Wulfestieg kennen und heiratete ihn – er hatte Asthma, und ich äffte seinen Husten immer nach, weil ich ihn nicht leiden konnte, und dadurch wäre schon beinahe die Verlobung geplatzt …

Am Hochzeitsmorgen freute ich mich vor allem auf Großvater – ich raste ihm entgegen und brüllte aus Leibeskräften: »Meine Mutter heiratet heute!« In der Aufregung übersah ich eine rundliche kleine Frau mit kleinem Kopf und kleinen braunen Augen, die er dann als Tante Emma vorstellte, der Hochzeitstag war für mich geschmissen, meine Mutter einen fremden Herrn, mein Großvater eine fremde Dame. Mutter schien auch nicht beglückt und sagte etwas wie: »Eine Schande, so kurz nach dem Tod von Mutter!« Er kam ganz traurig unter den Tisch gekrochen, unter dem ich maulte, und erklärte mir, daß ein erwachsener Mann eine Frau braucht, und das leuchtete mir ein.

Tante Emma war Köchin in Frankreich gewesen, die Verwandten sprachen möglichst nur im Flüsterton darüber, Frankreich war Bordell und Unzucht, und etwas Anständiges lernt ein deutscher Mensch dort eben nicht … Emma hatte es schwer mit allen, außer mit Großvater, der blühte auf, und ihre Betulichkeit tat ihm wohl, sie sprach sogar über seine etwas entstellte Nase – sie hatte während eines ostpreußischen Winters Frost gekriegt und lief bei Kälte lila an und platzte manchmal auf –, ein Tabu vorher und jetzt ein bemitleidenswerter, sehr zu pflegender und mit Nasenschützern zu versehender Körperteil. Sie wohnten, nachdem sie nach langem Hin und Her geheiratet hatten, in Zossen, und ich sah Großvater nur noch sehr selten, der Sommer wurde nun wie der Winter, und ich war dauernd krank, einmal so sehr, daß ich für ein paar Wochen zu Großvater und Tante Emma gebracht werden mußte, Großvater bestand darauf, denn frische Luft würde aus mir wieder einen kräftigen Menschen machen, die Äpfel erwähnte er vorsichtshalber gar nicht. Emma kochte Tauben für mich und küßte mich jedesmal vor und nach dem Essen, was mir ziemlich widerlich war, denn in unserer Familie wurde sonst nicht viel geküßt, nur zu Weihnachten und zum Geburtstag und zu Neujahr, da das alles bei mir innerhalb einer Woche stattfindet, hatte ich es verhältnismäßig schnell und etwas gedrängt hinter mir. Aber bis auf die Küsserei hatte ich Emma ganz gern und war traurig, als sie plötzlich auch in das städtische Krankenhaus kam und starb. Mein Stiefvater, den ich nun Papa nannte, sagte, es käme vom heißen Abschmecken, denn sie hatte Magenkrebs, und Kochen erschien mir für viele Jahre lebensgefährliche Beschäftigung.

Nun war Großvater wieder allein, und ich hoffte auf unser altes Sommerleben – umsonst, Großvater hatte Krach mit meinem »Papa«, und der »Umgang«, wie er es nannte, wurde mir verboten. Einmal, es war im ersten Schuljahr, zog mich jemand vor der Schule an meiner Mappe, und als ich mich erschrocken umdrehte, stand er da, dünn und alt geworden, mit sehr weißem Haar, und hatte zum erstenmal Tränen in den Augen; wir blieben den ganzen Nachmittag zusammen, und er kaufte mir ein Fahrrad. Als ich nach Hause kam, gab es Krach, meine Mutter sprach für Großvater, mein Stiefvater gegen ihn, und ich überlegte mir, wie lange ich radfahren müßte, um nach Zossen zu kommen.

Eines Tages hatte Großvater das einsame Landleben satt und zog mit Großtante Hulda – sie war eine der vielen Schwestern meiner Großmutter – in eine Wohnung in der Frobenstraße Nr. 13. Die Frobenstraße war ganz in der Nähe vom Nollendorfplatz, kein Baum, kein Park, nur Hochbahngetöse, Omnibuslärm und düstere Zimmer. Warum er gerade auf diese Wohnung verfiel, weiß ich bis heute nicht – vielleicht wollte er einen besonders dicken Strich unter sein früheres Netzhemddasein ziehen.

Tante Hulda sah aus, als wäre sie nie in ihrem Leben jung gewesen; sie war ganz klein und vertrocknet und unendlich geduldig, keiner konnte so zuhören wie Tante Hulda, und keiner hatte eine so sanfte Stimme – sie zwang einen mit dieser kaum hörbaren Stimme zur Ruhe und Duldsamkeit, selbst wenn man sich das halbe Knie abgerissen hatte und brüllend um Mitleid rang. Das war Tante Hulda, und Karl konnte sie eigentlich nie leiden, aber er konnte nun einmal nicht ohne ein weibliches Wesen in seiner Umgebung auskommen.

Das angenehme an der Wohnung war, daß ich sie mit dem Achter-Omnibus sehr schnell erreichen konnte, und nachdem endlich unterm Weihnachtsbaum eine knorrig-männliche Versöhnung zwischen Stiefvater und Großvater stattgefunden hatte, durfte ich einmal in der Woche bei ihm schlafen. Tante Hulda hatte Angst vor Menschen und hatte auf zwei Sicherheitsketten, Guckloch und kompliziertes Schlüsselverfahren bestanden. Nachdem ich freudvoll die immer finstere Treppe hinaufgefallen war und mir an der altmodischen Klingel die Finger beinah abgedreht hatte, wurde zwei Minuten lang gefragt, geguckt und geschlossen, und endlich konnte ich mich mit meinem Übernachtungsgepäck in die Wohnung stürzen.

Großvater sah nicht mehr so braungebrannt aus wie früher, aber gesund und gerade, und er schien die schwierigen Monate vergessen zu haben, sein Jähzorn tobte sich in gemilderter Form an Tante Hulda aus, die sich zwar darüber beklagte und mit einem leisen und langgezogenen »Kaaaaarl« die Dramen beendete, die aber bestimmt nach der langweiligen Ehe, die sie vor Jahren einmal geführt hatte, nicht gern auf Großvaters Raserei verzichtet hätte.

Ich schlief auf einem breiten, ausgelegenen Sofa unter einem »Regulator«. Er holte jede Viertelstunde schmerzlich ratternd Luft, um dann bei der ersten Viertelstunde einen, bei der halben zwei und der Dreiviertelstunde drei donnernde Schläge von sich zu geben – die volle Stunde wurde mit mehreren, nur der koreanischen Oper vergleichbaren wütenden Gongexplosionen in verschiedenen Tonarten bekanntgegeben. Ich flog fast jedesmal von meinem Sofa, Großvater hingegen schlief seelenruhig in seinem halbbesetzten Doppelbett weiter. Er klopfte jeden Abend mit der rechten großen Zehe gegen die untere Bettwand – sechsmal – und schwor darauf, daß er nur dadurch Punkt sechs erwachen könne. Tante Hulda stand erst um sieben auf, was Großvater für ungesund hielt. Er hatte dann bereits kalte Waschungen und Freiübungen gemacht, den Herd rauchlos zum Brennen gebracht, Brötchen geholt und Kaffee gekocht – Frühstück war lang, gemütlich, und meist las Großvater zum Abschluß die Fortsetzung des »Morgenpost«-Romans vor. Da ich die vorherigen nicht kannte, döste ich friedlich vor mich hin und fraß ungeniert die restlichen Brötchen mit Gänseschmalz. Dann brachte er mich zur Bushaltestelle, brachte den Berliner Verkehr durcheinander, indem er darauf bestand, dem seiner Meinung nach schwachsinnigen Schaffner die Wichtigkeit meiner Person zu erklären und ihn mit Nachhilfe eines kleineren Geldbetrages zu verpflichten, seine Enkelin am richtigen Platz, nämlich der Schule, abzuliefern. Alle Leute glotzten mich dann im Bus unverhohlen neugierig und morgenblöde an, und ich war froh, wenn ich ihnen und dem aufgeregten Schaffner entfliehen konnte.

Wir wohnten jetzt in Friedenau und hatten einen Schuhmacherladen in der Nähe der Wohnung, direkt am Bahnhof Wilmersdorf. Die Besuche in der Frobenstraße waren nicht mehr so regelmäßig – ich mußte im Geschäft mithelfen, und es machte mir Spaß, nur das Austragen der reparierten Schuhe hatte ich nicht gern, ich fürchtete mich in den kalten dunklen Hausfluren, auf den unübersichtlichen Hinterhöfen und vor den Menschen, die manchmal gleichgültig, manchmal barsch und gestört und manchmal freundlich und mit Trinkgeld die Türen öffneten.

Mein Bruder – oder, wie man so befremdend sagte, »Halbbruder« – wurde geboren. Der Tag war ausgefüllt. Ich lernte eine Welt ohne Großvater kennen. Ich vergaß ihn wochenlang, ich fing an, erwachsen zu werden, ich wurde treulos. Er veränderte sich nicht, hatte meine Veränderung erwartet und warf sie mir nicht vor. Eine weihnachtliche Geschenkkrise wurde überwunden, und wir fanden für Stunden zueinander und verließen uns wieder. Ich hatte mir ein Akkordeon gewünscht und bekam Skier – »Akkordeon macht eine schlechte Brust«, sagte er. Der Krieg kam und die Marken und Güterzüge mit Soldaten, die Söhne der Nachbarn wurden eingezogen, und mein Großvater sagte: »Wir werden den Tod der Juden büßen müssen.« Er wurde stiller. Dann kamen die Luftangriffe und das Suchen und das Hoffen … er wurde nicht ausgebombt, aber wir verloren dreimal hintereinander die Wohnung – am Anfang die Möbel, dann nur noch Koffer. Er kam nach den Angriffen zerzaust, versengt, mit einer Tüte voller Brötchen und etwas Kaffee und beklagte sich über Tante Hulda, die wieder im Keller leise gebetet und geweint hatte. Er hatte nie über seinen Sohn Kurt gesprochen. Er war schon Mitte der zwanziger Jahre nach Amerika ausgewandert, aber die Entfernung war durch den Krieg größer geworden, er wollte ihn gern noch einmal sehen, und eines Tages ging er mit mir in eine Kirche. Er saß ganz still da und schien genau zuzuhören, aber als wir weggingen, war er wütend – auf sich und »auf die Idioten, die dreiunddreißig etwas hätten tun sollen« – was, hat er mir nicht gesagt, und ich hätte es auch nicht genau verstanden. Ich hatte einmal mit dem Zeigefinger »Hitler ist doof« in den Sand geschrieben, um ihm eine Freude zu machen, aber er hatte mir weitere Zeichnungen dieser Art verboten, und so sprachen wir nicht mehr davon, und mit »davon« meine ich Hitler und Krieg und SS und Magermilch. Nur als ich in den BDM eintreten sollte, wehrte er sich mit Händen und Füßen, und meine sämtlichen Krankheiten wurden hervorgezerrt.

Ich habe meinen Großvater nie mit Männern in »männlichen Gesprächen« gesehen; er mochte Männer nicht, spielte nicht Karten und haßte alle Verbrüderungen – er war jetzt allein. Tante Hulda zog nach den verbeteten angstvollen Nächten in der Stadt zu ihrer verhärmten Tochter in Zehlendorf, meine Mutter wurde mit meinem Bruder auf ärztlichen Befehl evakuiert, und ich hatte einen Beruf oder eine Lehrstelle, die einmal ein Beruf werden sollte, und wohnte in Untermiete.

Ich besuchte ihn abends oder an Sonntagen, aber es war ein wenig Pflicht dabei und eine Sehnsucht nach der weichen Wärme vergessener Sommer, die ich nicht mehr wahrhaben wollte – Miete, Stipendium, Ehrgeiz, den Krieg vergessen, arbeiten, lernen; herauskommen aus Schuhmacherläden, Ledergeruch und Eintopf ohne Fett konnte ich nicht mit der Sehnsucht nach unseren Sommern, das wußte ich. Ich stürmte nicht mehr die vor Jahren schon düstere und jetzt vollkommen verdunkelte Treppe hinauf, die Klingel ging seit langem nicht mehr, und nach kurzem Klopfen öffnete er mir die Tür – froh und vorbereitet, Kaffee auf dem Tisch und selbstausgelassenes Schmalz im Glas und sogar Brötchen, etwas wäßrige, dunkle Kriegsbrötchen. Wir saßen an dem großen Tisch, ich auf dem alten Sofa unter der krächzenden Uhr, die Hängelampe war mit Tüchern verbunden wie ein verletztes Kuheuter. Erst mußte ich essen, und während ich kaute, fing er an zu erzählen … Ganz früher, als ich seine Worte noch nicht verstand, hatte er mir viel erzählt, und jetzt wieder: von seiner Jugend und den Masurischen Seen, über die man im Winter mit von Pferden gezogenen Schlitten rasen konnte, von dem Gymnasium, das er nach dem Zusammenbruch des Vaters in Holzpantinen besuchen mußte, und von den anderen, noch reichen Verwandten, die die plötzlich verarmten Kinder auf ihre Güter holten, um sie dort auf den Feldern schuften zu lassen und in die Dorfschule zu stecken … er hatte nichts vergessen, und sein Haß und seine Trauer waren so frisch wie damals, als er vor diesen Verwandten nach Berlin flüchtete. Dann sang er leise ein polnisches Lied, das ich oft von ihm gehört hatte und das er mir nie übersetzt hatte. Er trank nicht gern Alkohol, aber nach dem polnischen Lied gab es immer Rotwein, das war schon früher so gewesen, dann kam Fliegeralarm, und wir gingen in den Keller – er räumte erst auf, öffnete die Fenster, damit sie durch den Luftdruck nicht gleich zerplatzen sollten, und packte ein paar Brote und eine Thermosflasche ein, der Luftschutzwart tobte vor der Korridortür, die Flak raste, und manchmal fielen auch schon die ersten Bomben, er ließ sich nicht hetzen, weder von den zeternden Deutschen vor der Tür noch von den brummenden Amerikanern am Himmel.

Und als die Russen nach Berlin kamen und die Stadt schon besetzt war, warfen zwei fünfzehnjährige Hitlerjungen ihre restlichen Handgranaten aus dem Fenster, und das Haus Frobenstraße 13 wurde mit Panzerkanonen zusammengeschossen. Mein Großvater überlebte und rettete sich aus dem brennenden, einstürzenden Haus. Mit einer zerrissenen Hose und angesengten Hausschuhen an den Füßen lief er nach Zehlendorf, viele Stunden lang, und suchte die Wohnung, in der ich zuletzt in Untermiete gewohnt hatte. Die Leute im Haus sagten ihm, sie hätten mich seit den Kämpfen nicht mehr gesehen, dann lief er nach Wilmersdorf und fand meinen Stiefvater; Stiefvater war lungenkrank geworden und von den russischen Besetzern, die er sosehr herbeigesehnt hatte, angeekelt.

Mein Großvater blieb bei ihm, sie lebten in einer halb ausgebombten Wohnung in einem Zimmer und haßten sich und warteten wochenlang auf eine Nachricht von meiner Mutter, von meinem Bruder, von meinem Onkel, von mir … Meine Mutter schien tot zu sein, das Dorf, in dem sie gelebt hatte, war von Engländern besetzt, und vorher hatte es tagelang Kämpfe gegeben.

Mein Großvater saß auf einem wackeligen Sessel an einem Fenster, das keine Scheiben mehr hatte, er trug eine zerrissene Hose und ein Jackett, das ihm zu weit war, er hatte angesengte Hausschuhe an den Füßen – so sah ich ihn wieder, als ich drei Monate später aus der russischen Gefangenschaft zurückkam; er hob ganz ruhig den Kopf und sagte: »Da bist du ja, mein Kind«, nahm meine Hand und schlief ein. Eine halbe Stunde später wachte er auf und sagte, daß er jetzt noch auf Mutter warten möchte. Zwei Wochen später hatte ich Premiere in der »Tribüne« – es war das erste Theater, das in Berlin spielte –, und vor der Vorstellung kam eine Frau auf einem verrosteten Fahrrad und brachte mir einen Brief; er war sehr dick und hatte keinen Absender und keine Anschrift. Er fing an: »Mein geliebtes Kind, ich bin zu alt, um die Grausamkeiten vergessen zu können und auch um dir noch nützlich zu sein …«, und er hörte auf: »… vielleicht wirst Du mich eines Tages verstehen und mir verzeihen …« Die Schrift war ganz klar und gar nicht zitterig.

Er hatte dann viele Schlaftabletten genommen, sich mit einem Taschentuch das Kinn festgebunden und das Laken über den Kopf gezogen.

2

Fräulein Weise war nicht so; sie war böse und hätte zur Warnung ihrer Schüler auch so heißen sollen. Sie trug Rosa, Rosa zu allen Jahreszeiten, und aus diesem Rosa quoll ein weißer, fettiger Fischkopf wie das weiße Fleisch aus einem gekochten Hummer. Ihre wäßrigen flachen Augen waren schnell und stechend, und ihr dummer Spott ließ jedes beginnende Interesse an ihrem Geschwafel ersterben. Sie trug auf all diesen rosa Gewändern ein Parteiabzeichen. Sie war unsere Klassenlehrerin und haßte uns alle ausgiebigst.

Man sprach viel vom Krieg und vom Vaterlandverteidigen, und als ich einmal fragte, gegen wen wir uns denn verteidigen sollten, da wir doch gar nicht angegriffen wurden, durfte ich zu meiner Freude und meiner Mutter Verzweiflung drei Tage nicht in die Schule gehen, der Blockwart sprach eindringliche Worte mit meinem Stiefvater, und ich mußte mich entschuldigen.

Jeden Morgen betrat sie, ohne uns eines Blickes zu würdigen, die Klasse. Die Bänke waren zu klein für uns, und wir zerrten unsere Gebeine hervor, um strammzustehen und Heil Hitler zu brüllen, mußten stehen bleiben, bis sie ein kreischendes Setzen zurückschrie. Erst dann sah sie sich um und uns an, als sei sie überrascht, überhaupt etwas Atmendes, Lebendiges zwischen den Bänken zu sehen. Ihr erster, nun plötzlich leiser und verwirrend-sanfter Aufruf galt fast immer mir, sie rief mich nur beim Nachnamen, Knef, säuselte es durch den Raum, und sie stellte mir eine Frage, die ich nie beantworten konnte, weil ich jeden Morgen von diesem Fischgesicht aufs neue verschreckt und hypnotisiert war, sie verwandte dann ungefähr fünf Minuten an die Beschreibung meiner Minderwertigkeit, und je älter ich in diesen Verdummungsjahren wurde, um so klarer wurde mir doch, daß sie bei der Gestapo ihre Lehrprüfung abgelegt haben mußte. Sie war unsere Deutsch-, Geographie-, Französisch- und selbstverständlich auch unsere Geschichtslehrerin – die Geschichte hat sie uns dann auch restlos verheimlicht, dafür um so mehr die Vorzüglichkeiten unserer Regierung gepriesen. Dinarische Rasse, nordische Rasse … die Wenden, die Slawen (minderwertig), die nordische Frau: breites Becken, breite Schultern, blondes Haar, blaue Augen – es lief an uns vorbei wie Bahnhofsschilder an einem Schnellzug: Rassen, Rassen, wohin man sieht, Rassen … wir mußten vortreten, unsere Rassenmerkmale beschreiben: »Ich bin nordisch, weil …«

Und was war mit Margot Wiener? Wir saßen auf derselben Bank in der Volksschule in Wilmersdorf, sie wohnte am Bayrischen Platz in einer überwältigend großen Wohnung mit einer Toilette im Flur und einer im Bad, ich hatte das nie zuvor gesehen, und sie hatte mir stolz erklärt, daß die Flurtoilette für Gäste sei. Margot war klein und dunkel und hatte große hellbraune Augen und konnte lachen wie eine Hyäne, war gutmütig wie ein gefütterter Bernhardiner – wo war sie? Sie war eines Tages verschwunden, und die Lehrerin in der Volksschule, die Fräulein Koch hieß und so lieb und sanft und nachsichtig war wie die Weise ekelhaft, hatte uns mit ihrer kleinen, sauberen Stimme erzählt, daß Margot plötzlich mit ihren Eltern umgezogen sei.

Ich bin nordisch, weil …

Biologiestunde und Fräulein Lerche, eine dünne vertrocknete Lerche, die unablässig von der Wichtigkeit einer an der Luft getrockneten Zahnbürste sprach, täglich einmal, und die immer nervös an ihrer Oberlippe herumkaute mit ihren langen gelben Zähnen. Ihr Vater muß ein Pferd gewesen sein, nicht nur wegen der Zähne, sie galoppierte auch so, wir rasten mit ihr durch den Grunewald, und sie spuckte aus ihrem gelben Gebiß die Namen der Bäume, manchmal auch Lärchen, und wir wieherten blöd, was sie mit einem resignierten Kauen an der Oberlippe abtat. Sie war nicht bös, und wir hatten sie ganz gern auf unsere junge, sadistische Art. Aber ich kann heute nur mit Anstrengung einen Nadelbaum von einem Laubbaum unterscheiden, und das hat nichts mit meiner Kurzsichtigkeit zu tun, und so war ihr Wirken an mir tragisch erfolglos …

Bei Fräulein Schulz war das anders – an sie werde ich mich wohl noch lange erinnern, wie an Fräulein Weise –, die war unsere Turnlehrerin. Das einzig hübsche in unserer Schule war unsere Turnhalle; sie hatte schöne große Fenster, einen blankgeputzten Parkettboden, und sie sah nicht nach Turnen, sondern nach fröhlichem Sport aus. Dieser Eindruck erwies sich in dem Augenblick als falsch, in dem Fräulein Schulz die Halle betrat, sie war ein verbackener Eierkuchen, vor Wochen in einer zu warmen Speisekammer vergessen. Ihr Gesicht war riesengroß und gelb, ihre verschwitzten Haare, die dunkelsträhnig um ihren großen Kopf hingen, die zu langen schwarzen, glänzenden Turnerhosen und die gebogenen, halb muskulösen, halb schwabbeligen Beine gaben ihr die Aura eines türkischen Ringers. Nachdem wir in Reihen oder »Riegen«, wie sie es nannte, angetreten waren, mußten wir wieder Heil Hitler schreien und die Hand heben – sie hob zurück. Dann hielt sie eine kurze Rede in einer rauhen, bellenden Hundestimme, die durch das Turnhallenecho vollends unverständlich wurde – Fetzen von »soldatisch« und »nacheifern« und »unserem Führer zeigen«. (Aber was?) Dann ging’s zum Reck; ich habe und hatte immer schwache Handgelenke und konnte weder Bauchwelle noch andere Wellen am Reck vollbringen, ohne herunterzufallen, einmal zwang sie mich mit ihrem Tambourstock, ich machte eine Bauchwelle beziehungsweise keine, denn auf halbem Weg sauste ich herunter und schlug mir einen Halswirbel heraus, der mir noch heute wie ein Dromedarhöcker aus den Abendkleidern steht. Sie war gar nicht erregt, sprach nur von soldatisch und Nacheifern und Körperstählen und gesundem Geist und gesundem Körper. Ich war ihr ein Dorn im fettversteckten Auge, ich war nicht im BDM, dafür hatten Großvater und eine Kinderlähmung, die ich als Siebenjährige gehabt hatte, gesorgt. Sie wollte mich stählen und meinte quälen, sie wollte mir zeigen, was »deutsch sein« heißt. Sie hat es so lange versucht, bis ich ihr beim sonnabendlichen Völkerballspiel meinen großen Medizinball in den Bauch donnerte, daß sie sich auf dem verstaubten Schulhof wand … Ich entschuldigte mich, sie ohrfeigte mich, aber das tat bestimmt nicht so weh wie der Medizinball auf den Eierstöcken.

Herr Rabe liebte Weber, Carl Maria von, und Oberon wird mir bis ans Grab widerlich sein. Er spielte Klavier wie ein Autofahrer in Gefahr, er hupte verzweifelt mit viel Pedal und sang düster vor sich hin blickend rätselhafte Texte. Bevor der Krieg anfing, kamen einmal englische Lehrer in unsere Schule und sahen sich den Unterricht bei uns an, wir mußten »Rosenstock, holder, blüh« im Ringelreihen tanzen, und er klatschte in die Hände, was er sonst nie tat, und vermittelte den Eindruck nationalen Glücks auch bei den Jüngsten …

Er war groß und hatte viel dunkles krauses Haar und wäre beim nordischen Unterricht der Weise glatt durchgefallen. Aber er glaubte an Sieg und Kraft durch Freude und an Weber und trug sein Parteiabzeichen auf einem verschabten grauen Anzug mit Lederecken auf den Ellenbogen. Außer Musikunterricht gab er auch einmal in der Woche Malstunde, es stand immer dieselbe trockene Geranie auf dem Katheder, die wir zeichnen sollten, wir mußten alles ganz genau und ordentlich wiedergeben, und er rannte mit einem Zirkel von Bank zu Bank und machte Vermessungsarbeiten wie ein Brückeningenieur. Er gab mir trotz der nie stimmenden Maße eine Eins im Zeichnen und gewann damit mein käufliches Herz, ich wollte Malerin werden, ich zeichnete Karl den Großvater, und Mutter – wenn sie Zeit hatte stillzusitzen – und Tante Hulda. Tante Hulda war schön faltig und zeichnete sich am leichtesten – sie besah sich meine Werke mit einer so unsäglichen Trauer ob ihrer Unschönheit, daß ich sie aus Mitleid als Modell aufgab. Ich schleppte meine Zeichnungen in die Schule in der Hoffnung, sie dem Rabe vorzeigen zu können und ein warmherziges Lob zu kassieren, rannte aber meistens in die Weise, die sich die Blätter besah und mir empfahl, mehr an Geschichtsunterricht und ihre Französischstunden zu denken und nicht mit diesem »Firlefanz« die Zeit zu vertun. Ran ging’s wieder an Odin oder Wotan und den Donnerregler Thor, an Siegfried und Kriemhild und diese sich endlos ausrottenden Helden des Nordens.

Nachmittags war Handarbeitsunterricht, wir strickten Socken für die Soldaten an der Front, und bevor wir uns an die Wollreste begaben, wurde eine Rede über die Notwendigkeit des Krieges und den Lebensraummangel des deutschen Volkes gehalten; da ich ein ehrliches Gedränge nur am Potsdamer Platz zur Weihnachtszeit und vielleicht noch im Freibad Wannsee im Juli bemerkt hatte, verstand ich die Sorge nicht ganz, hütete mich aber, Näheres zu ermitteln, ich war gewarnt, und Fragerei bringt Ärger, hatte ich als einziges in dieser Anstalt gelernt. Nur einmal kam ich noch vom Wege ab, das war in der Aula, als der weißhaarige Chemielehrer eine Rede zum VDA-(Verein-der-Auslandsdeutschen-) Tag hielt und das große Leid und Heimweh der in den Karpaten, an der Wolga, in Bessarabien und selbst in Südamerika ansässigen Deutschen beschrieb, die nichts so sehr herbeisehnten, als in unserem engbesiedelten Lebensraum auch noch zu siedeln – da fragte ich, warum sie nicht blieben, wo sie Platz hätten, und schon hatte ich die Schererei …

Die meisten in der Klasse wollten Lehrerin oder Krankenschwester an der Front werden – letztere hofften wohl auf einen dreißigjährigen Krieg –, sehr wenige wichen von diesen bei den Lehrern geschätzten Berufen ab. Da war Vera Ress, ein hübsches Mädchen mit Stupsnase, sie wollte Tänzerin werden und war verpönt. Nanette wollte auch malen, was uns fast befreundet machte, und eine wollte mit ihrem Vater, der Ingenieur war, nach China – wie sie dort hinkommen sollten und was genau sie dort vorhatten, gab sie nicht bekannt, aber die ganze Sache mit China war schon ein guter Einfall, und man soll dann auch nicht kleinlich werden. Eine kam täglich in einem zerschlissenen und bekleckerten Taftkleid zum Unterricht, sie liebte Johannes Heesters und ging jeden Abend in die Operette »Graf von Luxemburg«, woselbst er auftrat – uns behandelte sie wie hilflose Dorftrottel, weil wir selten ins Theater kamen, ich war erst einmal im Theater oder genauer in der Oper gewesen, »Fidelio«, und wäre fast eingeschlafen – die Dicke als Mann verkleidet erfüllte mich mit tiefer Trauer. Unsere Süchtige im Taftkleid hatte eine größere Krise, als Heesters in einem Film eine Liebesszene mit der Rökk gespielt hatte; ihre Aufsätze schrieb sie mit zittriger Greisenhand, und Tränen liefen über Taft und Hefte, und wir mußten sie vor ernsteren Schritten bewahren – sie wollte sich von einer Seitenloge am selben Abend auf die Bühne und Heesters zu Füßen werfen, ich hielt es zwar für einen effektvollen, aber nicht unbedingt leidenschafterweckenden Eintritt in des Angebeteten Leben.

In dieser Zeit fingen wir an, unter Weises Aufsicht die Klassiker mit verteilten Rollen zu lesen. »Die Klassiker« waren Schiller und meistens »Wilhelm Tell«. Mir fiel die arme Armgard zu, ich stand also vor der Klasse und begann mit »Hier weicht Ihr mir nicht aus, er muß mich hören«, als ich plötzlich ein warmes, freundliches Gefühl in der Magengegend spürte – wie eine weiche Wärmeflasche in einem eisigen Winterbett, und als ich bei »Barmherzigkeit, Herr Landvogt, Gnade, Gnade« landete, lag ich auf den Knien, und mir liefen die Tränen aus Nase und Augen, und ich kam vor Schluchzen nur mit Mühe zu den »Waisen, die nach Brot schreien«. Das Fischgesicht gebot der Darstellung Einhalt, verwies mich mit schneidender Stimme auf die letzte Bank und sprach von undeutsch-hysterischem Gebaren. Es war ein Alptraum, ich schämte mich in Grund und Boden, hoffte auf Erdbeben oder Luftangriff, um dem Hohn und dem Erschrecken über mich selbst zu entgehen … Bis auf die keifende Stimme blieb alles still, die anderen stierten mich an, als hätten sie in ihrer Mitte unbedachterweise eine Vogelspinne beherbergt. Meine restliche Zeit bei der Weise war Qual … ich hatte Angst vor den anderen und auch vor mir, denn ich wußte ja nicht, ob ich mich eines Tages wieder hinschmeißen und wegen der Waisen in Tränen ausbrechen würde, ich dachte an die Großtante, die sich auf den Brücken auszog, und wurde bedrückt.

Jede Nacht war Fliegeralarm, wir waren alle müde, hingen in den Bänken, durften nie zu spät kommen – »Die Soldaten an der Front dürfen auch nicht müde sein!« Bomben fielen kaum, man saß nur im Keller, hörte Kinderquaken, das Murmeln der Flak, hatte Zahnschmerzen oder auch keine, roch den feuchten Kellermief, betrachtete die Wasserrohre, schlief über unfertigen Schularbeiten ein, wachte bei Entwarnung wieder auf, schleppte die Koffer nach oben, schlief wieder ein, wurde geweckt durch zweiten Alarm oder den Wecker, trank dünnen, aufgewärmten Kaffee, aß zweimal wöchentlich Eipulver aufgelöst und verrührt, gekocht, gebraten, nach Leim schmeckend, Vierfruchtmarmelade auf Wasserbrötchen, manchmal Margarine, Trockengemüse, trug selbstgestrickten Pullover aus kratziger Kriegswolle – Schafen wachsen in schwierigen Zeiten Borsten –, gewendeten Mantel, Mappe unterm Arm und los, ran ans fröhliche Lernen zur verständigen, aufmunternden Weise.

Am Sonntag früh holte ich auf Marken den Liter Magermilch für Kleinkind-Bruder, und an einem solchen Sonntag traf ich Martin Witt, er ging in die Treitschke-Schule, hatte ein Fahrrad und trug Rollkragenpullover – beim Milchtopfschwenken lud er mich zum Radfahren am Montag ein, Seligkeit, die Weise sah sogar besser aus am Montagmorgen, um vier trafen wir uns beim Stadtpark und kicherten und trampelten auf den Rädern bis fünf, dann mußte er Schularbeiten machen und ich meinen Kleinkind-Bruder vom Kindergarten abholen. Der Dienstag hatte es in sich, ich saß kuhäugig vor Glück und traumverloren in meiner Bank – er hatte gesagt, ich könne radfahren wie ein Junge und hätte schönes Haar –, da machte sich Weises Sopran in meinen Träumen bemerkbar – »… während unsere Soldaten an der Front für uns sterben, haben bestimmte Mädchen unter euch nichts anderes zu tun, als sich mit radfahrenden Jünglingen unnütz die Nachmittage zu vertreiben.« … radfahrende Jünglinge … ich mußte an Jünglinge denken, die statt Beinen Räder mit Gummireifen haben, und ich fing an zu grinsen – da donnerte es: Kneeeef … der Hummer war wieder frisch gekocht, der Tadel in der Führungsmappe eingetragen, verwarnender Brief an Eltern geschrieben, kuhseliges Glück unselig, und vorbei.

Nachmittags war manchmal Kochunterricht, von der turnwütigen Schulz geleitet – viel zu kochen gab es nicht, und in dem halbdüsteren Keller, der eine Küche sein sollte, wurden Löffel unter dem Leitsatz »Wie bereite ich aus Graupen und Wasser ein bekömmliches Mahl für fünf Personen?« geschwenkt.

Ich war fünfzehn, und die Frage war, bleibe ich und mache ein Abitur, oder bleibe ich nicht. Ich blieb nicht und mußte zum Arbeitsamt, Pflichtjahr und Arbeitsdienst hingen über mir wie gelbe Gewitterwolken, und dann die Prüfung, die »mittlere Reife« – die Weise fragte verderbenden Blickes, der Rektor war dabei, ich kam durch die mündliche Prüfung, die schriftliche war ein Thema, das wir uns wählen konnten. Ich wollte ja Malerin werden und auch dem abgeschabten Rabe einen Gefallen tun, schrieb ein langes Werk über Dürer – seine Kohlezeichnung von der schiefäugigen Mutter hatte mich beeindruckt –, und als ich mein Werk in Schönschrift ablieferte und eine Nacht in dem Glauben ruhte, ein Genie zu sein, holte die rosarote Weise zu ihrem letzten Schlag aus, behauptete an diesem meinem letzten Schultag, ich hätte alles abgeschrieben aus einem bekannten Dürer-Buch und hätte damit gezeigt, daß ich einen unwürdigen Charakter besäße. Die schlichte Antwort auf ihre letzte Frage, was ich denn zu werden gedenke – Malerin –, entlockte ihr den lebensklugen Satz: »So was muß es auch geben«, und damit war ich entlassen.

3

Die Bernhardstraße war ein Hufeisen ohne Rundungen, ein Quadrat mit drei Schenkeln, eine Straße, die nach drei Himmelsrichtungen ging: nach Süden, nach Osten, nach Westen. Das unvollständige Quadrat wurde im Norden durch die Wexstraße vervollständigt. Die Wexstraße war eine laute, eine großstädtische Straße und lief vom Kaiserplatz bis zum Innsbrucker Platz. Die Bernhardstraße war Fußballplatz, Radrennbahn, ein Dorf mit achtzehn vierstöckigen Häusern.

Wir wohnten erst Nr. 5 in zwei Zimmern, einige Jahre später Nr. 6 in vier. Nr. 5 war gemütlicher. Beide lagen auf der Südseite, und an der Ecke der Süd- und Westseite lag unser Geschäft, es hatte zwei große Fenster und ein großes Schild, darauf stand »Besohlanstalt«, mein Stiefvater hatte etwas gegen das Wort Schuhmacherei. Die Polier- und Schleifmaschinen in unserer Besohlanstalt standen seitlich neben dem Eingang und machten einen Höllenlärm, neben dem Geschäft wohnte eine Klavierlehrerin, und mein Stiefvater hatte sich mit ihr geeinigt, nur nachmittags zu schleifen, sie mußte ihr Klavier alle vierzehn Tage stimmen lassen, und sämtliche Porzellanfiguren waren ein Opfer der Schleifmaschinen geworden, sogar die Tassen in der Küche tanzten ihr vom Tisch, wenn er die Maschinen anstellte. Sie war eine gutmütige, einsichtige Frau und gab vormittags Unterricht, so hörte man von 8 bis 1 »Gebet einer Jungfrau«, das »Wolgalied« und manchmal auch etwas aus dem »Vogelhändler«; dann klopfte Vater vorsichtig an die dünne Wand, sie klopfte zurück, und er übernahm die Nachmittagsgeräusche.

Gegenüber der Südseite lag der S-Bahnhof Wilmersdorf, ein Bahnhofseingang lag gegenüber vom Geschäft, und dadurch bekamen wir viel »Laufkundschaft«, wie mein Stiefvater das nannte, sie wollten in Eile einen Absatz oder gerissene Nähte repariert haben oder kauften bloß Schnürsenkel. Die feste Kundschaft kam aus der Bernhardstraße. Da war der Bäcker Sehmisch und seine Familie, sein Geschäft lag auf der Westseite, es war groß und sauber, und Herr Sehmisch sah so knusprig aus wie seine Brötchen. Über den Sehmischs wohnten die Neumanns, von ihrem Balkon konnten sie in unser Geschäft sehen und einen Teil vom Bahnhof; die Neumanns hatten eine Tochter, die hieß Edith und nahm Tennisunterricht, zweimal in der Woche ging sie mit einem weißen kurzen Rock, weißer Bluse und Tennisschläger zum Kaiserplatz, da war ein kleiner Tennisplatz, auf dem man im Winter Schlittschuh lief. Letzteres konnte ich nicht gut, weil ich immer kalte Füße dabei bekam, und ersteres überhaupt nicht, und ich platzte jedesmal vor Wut, wenn ich sie dienstags und freitags am Ladenfenster vorbeihopsen sah. Neben den Sehmischs war das Lebensmittelgeschäft und ein Bonbonladen, dann kam ein Fischgeschäft und die Wexstraße, auf der anderen Seite hatten zwei alte blaugefrorene Menschen, die auch im Sommer nach Winter aussahen, einen Milchausschank, dahinter war eine Leihbücherei.

Unsere Seite hatte bis auf einen Werkzeug-Ersatzteilladen gar keine Geschäfte, der Besitzer des Werkzeug-Ersatzteilladens lebte mit einer rothaarigen Frau nur zwischen seinen Ersatzteilen, wir sahen ihn fast nie. Mutter erzählte mir mal, er soll ein silbernes Korsett getragen haben, und von da an hatte ich Ehrfurcht vor ihm. Direkt am Bahnhofseingang lag der Zigarrenladen von den Gorczellanceks, sie mußten aber dann nach 1935 den Laden aufgeben, eine Familie Toedt zog ein, sie waren sanfte, stille Leute, und das Ganze mit den Gorczellanceks war ihnen sehr unangenehm. Die Gs wohnten noch einige Jahre in ihrer Wohnung am Cosimaplatz in Friedenau, und die Bernhardstraßenbewohner gingen nachts zu ihnen und brachten Eßwaren und Zeitschriften – die Gs waren stolz und ließen sich nicht gern etwas schenken, und so hatten wir langsam einen Teil ihres Geschirrs kaufen müssen und Handtücher und Bestecke, die halbe Straße hatte Sachen von den armen eingesperrten Gorczellanceks.

Eines Abends gingen meine Mutter und ich wieder zum Cosimaplatz, aber an der Ecke warnte uns eine Frau, nicht hinaufzugehen, sie waren abgeholt worden, oder sie sollten abgeholt werden, denn als die Gestapo morgens um 4 oder 5 klingelte, hatten sie sich mit ihren zwei Kindern vergiftet.

An der Ecke Wexstraße und Bernhardstraße war noch ein jüdisches Geschäft, ein Kurzwarenladen – sie hießen Kaufmann, und die Frau hatte sich die Haare ganz blond gefärbt und sagte immer zu Mutter, ihr würde man bestimmt nichts tun. Eines Morgens holten sie ihren Mann ab, sie flüchtete aufs Dach und fiel herunter. Um die Kaufmanns tat es allen sehr leid, sie waren seit Ewigkeiten in Berlin und hingen sogar die Hakenkreuzfahne zu Hitlers Geburtstag heraus – die dachten immer, das würde was nützen.

Frau Block war unsere Portiersfrau von Nr. 5, sie hatte keinen Mann, dafür zwei Töchter, Marianne und Lorchen. Frau Block war dickbusig und gemütlich und kochte den ganzen Tag Kaffee, das ganze Haus roch nach heißem, gemütlichem Kaffee. Wir saßen eines Sommersonntagmorgens auf unserem Balkon und sprachen nicht – nicht weil wir verfeindet waren, sondern weil man auf dem Balkon wegen der S-Bahn nicht sprechen konnte; wenn ein Zug stand, konnte man vielleicht noch nach Milch und Zucker schreien, bis der Gegenzug einfuhr und der Stationsvorsteher »Willllllmersdorf« brüllte, als wären die Passagiere taube Analphabeten, dann kreischte jemand »Abfaahhrn, Türen schliiiiießen, zuuuuuurückbleiben«, dann schnaufte der Zug, quietschte, stöhnte, pfiff und summte und rauschte nach Schmargendorf ab, das Ganze wiederholte sich auf der anderen Seite. Dann war eine Minute Ruhe, manchmal drei, und wir riefen alle gleichzeitig, was wir bis dahin an Gedanken dem städtischen Verkehr geopfert hatten. Just in diesem Moment der familiären Verständigung hämmerte es verzweifelt an unserer Korridortür – Stiefvater stand auf, rief dann Mutter, die lange Zeit draußen blieb, und als ich endlich auch wissen wollte, was los war, sah ich Frau Block auf der Treppe neben der Wohnungstür sitzen und bitterlich weinen … Lorchen hatte beim Milchholen ein Kind gekriegt – sie hatte sich schon seit langem gewundert, daß das zarte Lorchen so viel aß, aber sie hatte sich gedacht, das macht die Jugend, und nun das … Lorchen hatte sich eingeschnürt und alle vier Wochen rote Tinte in die Wäsche gegossen, das gerissene Luder, aber der Balg war nun mal da, ein Junge auch noch – und hätte Mutter vielleicht noch Babywäsche von meinem Halbbruder? Mein Stiefvater sagte: »Wer hätte das von Lorchen gedacht?«, und als ich mir meinen ersten Lippenstift kaufte und heimlich ins Kino trug und ein Skatfreund meines Stiefvaters mich verpfiff, sagte Mutter nur: »Denk an Lorchen«, aber Lorchen heiratete schließlich, und Ordnung und Glauben an Zucht und Sittlichkeit waren wiederhergestellt.

Frau Block, die wir alle Mutter Blocken nannten, war bei den späteren Bombenangriffen die Tapferste und Einfallsreichste in der Straße, sie kam mit Familie, und jeder hatte einen feuerfesten Kochtopf auf dem Kopf, darüber ein Kissen und das Ganze mit einem Riemen zusammengehalten. Als wir den ersten schweren Angriff auf Wilmersdorf hatten und eine Stunde lang die Bomben sausten, das Licht ausging und die Wände wackelten, da sagte Mutter Blocken immer wieder: »Solange man se hört, treffen se nich … « Am nächsten Abend hatte sie eine hübsche Gürtelrose, der Arzt sagte, sie solle beim nächsten Angriff schreien, es wäre besser für die Nerven; sie schrie nicht und kam aus den Gürtelrosen gar nicht mehr raus.

Als meine Mutter, Halbbruder auf dem Arm, und ich nach diesem ersten Angriff durch Glassplitter und umgekippte Wassereimer auf die Straße wateten, sahen wir, daß unser Dach brannte und daß das Haus auf der anderen Seite des Bahnhofs, in dem der Friseur Wedel wohnte, einstürzte; da merkte ich, daß Krieg war und daß es so bleiben würde für lange Zeit, und ich fing an zu weinen; in dem Feuerschein sahen wir auch, daß mein Halbbruder gar nicht so ruhig schlief, wie wir dachten, er war blau angelaufen und atmete kurz, stoßweise. Wir rannten durch herausgerissene Türen und Fensterläden und aufgeregte Menschen und fanden nach Stunden einen Arzt, der sagte, daß mein Halbbruder einen Herzanfall hätte und einen zweiten Angriff nicht aushalten würde, meine Mutter müßte weg – ich mußte und wollte in Berlin und in der Bernhardstraße bleiben – es war ein schlimmer Abschied für meine Mutter, für meinen Stiefvater und für mich.

Ich blieb in der Wohnung, bis sie ausgebombt wurde. Es war Silvester ’43/44, die Zimmer waren eisig kalt, die Fenster seit langem kaputt, Pappe davor, das Haus roch schon seit Jahren nicht mehr nach Mutter Blockens Kaffee, und Werner und Klaus, meine Radfahrfreunde, waren an der Front, und zwei aus der Straße waren in Rußland gefallen. In dieser Nacht kam ich nach Hause, auf dem Balkon hätte man sich endlich unterhalten können, stundenlang, die Züge fuhren selten und unregelmäßig, hinten auf dem Güterbahnhof stand eine Flak, die nur manchmal in Notfällen hilflos vor sich hin meckerte – Verdunkelung, der Stationsvorsteher brüllte das erstemal zu Recht sein »Willllmersdorf«. In dieser Nacht tastete ich die Treppen hinauf und sagte zu Stiefvater, daß ich ins Bett gehen würde, es war zu kalt, um zu warten, bis es zwölf war, und anstoßen hätten wir sowieso nicht können, Geschirr und Gläser waren längst kaputt, wir aßen auf Marken in Kantinen und Kneipen, und nach Feiern war keinem zumute. Ich zog meine Luftschutzsachen an, Trainingshose, zwei Pullover, Socken und ging ins Bett, Stiefvater hatte eine Idee, wir hatten noch ein Heizkissen, und wenn der Strom funktionieren sollte, könnte ich es für eine Weile behalten, ich schlief ein und wachte auf, weil mein Bett brannte, gleichzeitig hörte ich das sanfte, stete Surren, das wir alle so gut kannten – eine Bombe und danach noch eine und noch eine, und ich schrie Alarm und schrie und schrie – unsere Sirenen waren beim letzten Angriff kaputtgegangen, und keiner in der Bernhardstraße hatte es gemerkt, und als wir unten am Kellereingang ankamen, traf ein Volltreffer unser Haus, und wir waren verschüttet. Man hat uns ausgegraben, und wir bedankten uns beim Heizkissen.