Warum hat er sich nur zu diesem Besuch bei den Eltern überreden lassen? Vincent hat es in England inzwischen zu einer beachtlichen Karriere, einer Frau und zwei kleinen Töchtern gebracht. Doch einmal in der französischen Provinz und in seinem alten Kinderzimmer angekommen, ist er sofort wieder der unsichere Junge von früher. Die Eltern, der Bruder, alle gehen ihm auf die Nerven. Und auch über die alten Freunde hat er schnell ein Urteil gefällt: Fanny ist bieder geworden und ausgerechnet mit Olivier zusammen, Étienne einfach von der Bildfläche verschwunden. Bis Vincent die Frau seines Bruders, die er noch nie ausstehen konnte, zufällig in der Stadt trifft und sie ihn endlich mit der Wahrheit konfrontiert …

 

Blondel versteht es meisterhaft, Geschichten rund um eine der reizvollsten Fragen überhaupt zu erzählen:Was wäre gewesen, wenn?

 

Deuticke E-Book

 

JEAN-PHILIPPE BLONDEL

 

This is not a love song

 

Roman

 

Aus dem Französischen

von Anne Braun

 

 

Deuticke

 

Die Originalausgabe erschien erstmals 2007 unter dem Titel This is not a love song im Verlag Robert Laffont, Paris.

 

 

www.centrenationaldulivre.fr

 

 

ISBN 978-3-552-06319-8

© Éditions Robert Laffont, S.A., Paris, 2007

Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe

© Deuticke im Paul Zsolnay Verlag Wien 2016

Umschlag: Lübbeke Naumann Thoben, Köln Foto: © Ashraful Arefin

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

 

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen

finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/ZsolnayDeuticke

 

Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

 

 

 

ICH schnappte nach Luft.

 

Ich sah mich im Spiegel: Ich verkörperte ziemlich gut den Archetypus von Überraschung. Hochgezogene Augenbrauen, große Augen, der Körper mitten in einer Bewegung erstarrt.

 

Als ich den Mund öffnete, um »Was?!« zu fragen, fing sie an zu lachen. Sie hat ein ansteckendes Lachen, meine Frau. Eine runde, klangvolle Welle, die aus dem Bauch aufsteigt und nach und nach in herzlichen, leichten Kaskaden aus ihr herausperlt.

 

Kopfschüttelnd wischte sie sich über den linken Augenwinkel. Dann erklärte sie mir, das sei bestimmt nicht der Auftakt zu einer Trennung oder der Vorwand für ein amouröses Abenteuer. Sie brauche einfach nur eine kleine Auszeit. Mit mir habe das nichts zu tun. Sie halte es nur für eine gute Idee, mit den Mädchen für eine Woche zu ihren Eltern zu fahren – Sarah sei sehr gern bei ihren Großeltern, und Iris, mein Gott, Iris sei noch ein Baby, und es würde ihr sicher gefallen, in ihrem Sportwagen auf der Strandpromenade spazieren gefahren zu werden, und abends wäre immer jemand da, der auf die beiden kleinen Monster aufpasse, während sie selbst auch mal wieder richtige Ferien machen könne, ohne ans Kochen oder an die Wäsche denken zu müssen. »Sei mir nicht böse, aber ich träume davon, mich eine Woche lang um nichts kümmern zu müssen. Eine Woche, in der ich abends in Ruhe lesen kann. Ich habe das Gefühl, als hätte ich seit einer Ewigkeit keinen Roman mehr gelesen. Eine Woche, in der ich allein spazieren oder abends allein ins Kino gehen kann. Wie eine Thalassotherapie-Kur, nur ohne Thalassotherapie. Und ohne Kur. Verstehst du? Okay, aber jetzt steh nicht länger da wie ein Ölgötze, das passt nicht zu dir.«

 

Da habe ich mich wieder bewegt.

 

Obwohl ich der Form halber protestierte, begriff ich sehr wohl, was sie meinte. Die letzten Monate waren sehr stressig gewesen. Iris mit ihren sechs Monaten schlief noch immer nicht durch, sie lebte einen verkehrten Rhythmus, war nachts aktiv und tagsüber ein Murmeltier – ein Albtraum für die Eltern. Susan hatte sich von ihrem Job als Finanzanalytikerin beurlauben lassen, das schien uns vernünftig. Und das war es vermutlich auch, doch es gab Augenblicke, in denen meine Frau alles dafür gegeben hätte, im Büro vor ihrem PC zu sitzen, statt mit unserer Kleinsten in Babysprache zu plappern und wie ein Zombie durchs Haus zu rennen. Und ich hatte in letzter Zeit sehr viel gearbeitet. Die Cafés Bleus florierten. Was mit zwei schicken Fastfood-Restaurants begonnen hatte, die qualitativ hochwertige Sandwiches und Biokuchen auf der Speisekarte hatten, war auf dem besten Weg, sich zu einer Kette von Filialen zu entwickeln. Mein Name und der meines Teilhabers, James, wurden immer häufiger erwähnt. Wir verkörperten zunehmend das Symbol für sozialen, liberalen und europäischen Aufstieg. Ein Geschenk des Himmels für die New Labour: ein Franzose und ein Engländer, gemeinsam auf gastronomischem Eroberungsfeldzug auf dem britischen Markt. »Les Cafés Bleus – oh mon Dieu« war unser Slogan, und auf unserem Werbeplakat war eine hübsche junge Frau mit rot geschminkten Lippen zu sehen, die sich genüsslich auf einem Stuhl räkelt und eine Hand an ihrem Dekolleté, die andere auf einem Sandwich liegen hat. Diese Plakate waren inzwischen in ganz London zu sehen. Und auch anderswo.

 

Dieses Anderswo hat uns dieses Jahr ziemlich in Anspruch genommen. Die Nachfragen nach Franchise-Unternehmen. Und die landesweite Expansion. Leeds, Nottingham, Exeter, Hull, Edinburgh, Liverpool. Die Filialen schossen wie Pilze aus dem Boden.

 

Normalerweise machten wir im August Ferien, zwei Wochen an einem mehr oder weniger kalten Meer, entweder in Frankreich oder in England, und in der dritten Woche war das eine oder andere in unserem Haus in Hampstead Heath zu tun – dem Haus, das ich anfangs gar nicht wollte, als es noch von Susans Eltern finanziert worden war. Doch mittlerweile hatte ich mich daran gewöhnt, umso mehr, als ich inzwischen die Möglichkeit sah, das Geld früher als geplant zurückzuzahlen – vielleicht sogar schon in zwei oder drei Jahren, wenn alles so weiterlief wie bisher.

 

»Und ich?« – »Was du?« – »Was soll ich machen, während du weg bist?« – »Was du willst, Schatz, du bist doch schon ein großer, selbständiger Junge.« – »Und wenn ich auch eine Woche Urlaub machen würde?« – »Klar, warum nicht?« – »Du weißt genau, dass das nicht geht.« – »Ich weiß gar nichts.« – »Mit den Cafés und allem.« – »Du hast mir erst neulich Abend erklärt, dass du neuerdings nicht mehr dauernd präsent sein müsstest, weil du etliche Aufgaben delegiert hast.« – »Ja, aber so einfach ist das nicht.« – »Und wenn du plötzlich eine Blinddarmentzündung bekämst?« – »Hä?« – »Was würdest du machen, wenn du eine Blinddarmentzündung hättest? Würdest du deine Geschäfte vom Krankenhaus aus erledigen?« – »Ich habe aber keine Blinddarmentzündung.« – »Stell dich nicht so an! Hör mal, wir sind nicht mehr in den Siebzigern. Du machst eine Woche frei, mit Handy und Laptop, von denen du dich sowieso kaum noch trennen kannst, und machst jeden Abend einen Check-up oder meinetwegen auch alle zwei Stunden, wenn du es anders nicht aushältst.« – »Und das sollen Ferien sein?« – »Stopp! Ich nehme die Kinder für eine Woche mit, und du bist acht Tage lang Junggeselle. Glaub mir, alle anderen Männer, die ich kenne, würden sich danach die Finger lecken, also tu nicht so scheinheilig … Hey, weißt du, was du machen könntest? Deine Eltern besuchen! Gut, sie kommen manchmal her, aber wir sind praktisch nie bei ihnen oder immer nur auf einen Sprung auf dem Weg in oder aus den Ferien … Das wäre doch eine gute Gelegenheit, sie mal etwas länger zu sehen.« – »Super, ich kriege mich vor Begeisterung gar nicht mehr ein.«

 

Sie drückte mir einen schiefen Kuss auf den Mund. Und murmelte, ich solle ausnahmsweise mal nicht nur an mich selbst denken. Meine Eltern würden sich bestimmt sehr freuen. Ich entgegnete, sie würden sich garantiert mehr freuen, ihre Enkelinnen zu sehen. Susan zuckte mit den Schultern. Das glaube sie nicht, meinte sie. »Stell dir mal vor, wie es wäre, wenn die Mädchen, wenn sie groß sind, zehn Jahre lang immer nur für ein paar Stunden bei dir vorbeikämen!« In diesem Moment fing Iris in ihrer Babywippe an zu wimmern, und Sarah rief aus dem Wohnzimmer, die Fernbedienung des DVD-Players sei kaputt. Ich seufzte und sagte, ich könne es kaum erwarten. Zehn Jahre ohne ihr Heulen und Gejammer, obwohl sie alles haben und im Wohlstand aufwachsen, genau, das wären richtige Ferien. Susan schmunzelte. Ich auch. Nein, das Thema war für mich erledigt.

 

Ich dachte an meine Mutter.

 

Meine Mutter in ihrem Teakholz-Liegestuhl, in ihrem Gärtchen hinter dem Haus. In ihrem Sommerkleid mit dem Blümchenmuster in Gelb, Grün und Orange, den Strohhut auf dem Gesicht. Sie schwitzt schnell unter den Achseln, und das riecht man. Sie schnarcht leise. Eine ihrer Sandalen ist auf den Boden gefallen. Ihre Brust hebt und senkt sich. Die Beine machen ihr zu schaffen. Sie hat fünfzehn Kilo Übergewicht. Sie ist alt.

 

Susan und meine Mutter verstehen sich glänzend. Das verblüfft mich immer wieder. Sie unterhalten sich mit sichtlichem Vergnügen in einem Kauderwelsch aus englischen und französischen Wörtern. Sie lachen oft. Susan kräuselt vor Vergnügen die Nase, während sie sich Himbeeren in den Mund steckt. Meine Mutter, neben ihr, hat eine kleine gelbe Plastikschüssel in der Hand, in der sie die gepflückten Himbeeren sammeln wollte, doch weil Susan alle auffuttert, bleibt die Schüssel hoffnungslos leer.

Susan ist die Tochter, die meine Mutter nie hatte, und meine Mutter ist für Susan die Mutter, die sie zum Glück nie haben wird. Susans Mutter ist das krasse Gegenteil von meiner. Distinguiert, auf ihr Äußeres bedacht, ohne jedoch zu übertreiben, eine perfekte Gastgeberin und Expertin für gesellschaftliche Umgangsformen. Das Einzige, was sie gemeinsam haben, ist, dass sie beide in ihre Enkelinnen vernarrt sind und ihnen absolut alles durchgehen lassen.

 

Als wir geheiratet haben, dachten wir, die Feier und das Aufeinanderprallen unserer beiden Familien würden ein Albtraum werden, doch erstaunlicherweise ging alles gut. Wir hatten die xenophobe Überheblichkeit und die fehlende Verständigung unterschätzt. Susans Eltern sahen großzügig über alle Fauxpas meiner Eltern hinweg, weil sie sie als »typisch französisches Verhalten« deuteten. Meine Eltern fanden Susans Eltern »sehr exotisch«. Sie haben sich ständig angelächelt und so getan, als täte es ihnen schrecklich leid, dass sie die Sprache des anderen Elternpaars nicht genügend beherrschten, um eine Unterhaltung zu führen. Sie trennten sich in bestem Einvernehmen und sahen sich danach logischerweise nie wieder.

 

Susans Eltern haben Geld. Hatten sie schon immer. Sie sind seit Generationen Juristen, und wenn einer der Söhne mal aus der Art schlägt, dann nur, um bei einer der großen Banken in der Londoner City zu arbeiten. Meinen Eltern dagegen sieht man ihre kleinbürgerliche Herkunft schon von weitem an. Ihre Großeltern waren Hausangestellte, ihre Eltern Arbeiter, und sie selbst haben es immerhin bis zu Angestellten gebracht – mein Vater hat die soziale Leiter sogar so weit erklommen, dass er eine eigene Sekretärin hatte, in der regionalen Niederlassung der SERNAM, dem Gütertransportunternehmen der französischen Eisenbahn SNCF.

 

Als Susan mich zum ersten Mal fragte, wie ich meine Eltern finde, mit welchem Adjektiv ich sie beschreiben würde, sagte ich: »Vorhersehbar.« Als ich noch zu Hause wohnte, haben mein Bruder und ich oft gewettet, was Mama antworten oder wie Papa reagieren würde – das konnten wir ohne Worte. Und wir behielten jedes Mal recht. Susan dagegen findet sie »herzlich«. Vor allem meine Mutter, Hélène.

 

Hélène und Jean – meine Eltern. Und Jérôme, mein Bruder.

 

Schon als ich an sie dachte, an die Mitglieder meiner vorhersehbaren Familie, verspürte ich einen kleinen Stich im Herzen, was mich irgendwie gerührt und überrascht hat. Überrascht deshalb, weil mir früher so oft vorgeworfen wurde, ich sei kein Familienmensch und würde mich vor Familienfesten drücken. Meine Freunde und Bekannten seien mir wichtiger, die Welt, die ich mir selbst aufgebaut hatte. Doch das musste sein. Ich musste die Chance ergreifen, um nicht so zu werden, wie ich mal zu werden drohte: ein sympathischer Drückeberger. Ein Schmarotzer, den man insgeheim verachtet. Innerhalb von zehn Jahren hat sich alles verändert. In den letzten zehn Jahren habe ich es zu etwas gebracht.

 

In letzter Zeit bin ich sogar zum Liebling meines Schwiegervaters avanciert, der überall damit prahlt, dass er es war, der mir in den Sattel geholfen hat. Der, durch den die Medien auf mich aufmerksam wurden. Es stimmt, inzwischen bin ich auf Erfolgskurs. Vor zwei Wochen war ich auf dem Titelblatt eines bekannten englischen Wirtschaftsmagazins abgebildet. Zusammen mit James, beide im schwarzen Anzug und mit rotem Hemd. Er hatte mir einen Arm um die Schultern gelegt. Eine sehr schöne Pose – meine Idee. Ich hatte mich an ein Polaroid-Foto von Étienne und mir erinnert, vor etlichen Jahren. Elf, zwölf vielleicht.

 

Ich sah Étienne plötzlich wieder vor mir – wie er mit seinem spöttischen Grinsen auf einem gelben Sofa liegt –, und da merkte ich, dass der Vorschlag meiner Frau doch auf fruchtbaren Boden gefallen war. Eine Woche ohne die Kinder und ohne Ehefrau bei meinen Eltern. Zurück zum Start. Den bisher zurückgelegten Weg abschätzen. Sich darüber freuen, was man alles geschafft hat. Sich insgeheim auf die Schulter klopfen. Ein kurzes Zwischenspiel der Selbstgefälligkeit und mit aufgeblähtem Selbstbild. Warum eigentlich nicht? In den Cafés Bleus geht es im Sommer immer eher ruhig zu, wenn die Londoner Geschäftsleute ihren Jahresurlaub nehmen – James würde alle anfallenden Entscheidungen treffen, wie ich es im letzten Jahr für ihn getan habe, als er im August nicht da war.

 

Sieben Tage Freiheit! Sieben Tage, um Bilanz zu ziehen. Die Gelegenheit, abends auszugehen, in einer altvertrauten Stadt, und all die Menschen wiederzusehen, mit denen ich meine Kindheit und Jugend verbracht hatte. Mit meinem Bruder durch die Bars ziehen. Die Eltern ins beste Restaurant der Stadt einladen. Fanny über den Weg laufen und vielleicht sogar mit ihr einen Kaffee trinken gehen – sich endlich in Ruhe aussprechen. Mit Étienne am Kanal entlangschlendern und die Gespräche dort wiederaufnehmen, wo wir sie abgebrochen hatten.

 

Ich war natürlich nicht so dumm zu glauben, dass alles Friede, Freude, Eierkuchen sein würde, in ein sanftes, goldbraunes Licht gebadet, und dass die spitzen Ecken und Kanten so stumpf geworden wären, dass sie nicht mehr wehtun konnten. Ich war nicht so naiv, als dass ich nicht geahnt hätte, dass mir meine Eltern mit ihrer Behäbigkeit auf den Geist gehen würden oder mein Bruder mit seinem Lokalpatriotismus. Oder dass Fanny eventuell gar keine Lust haben könnte, mich zu sehen. Und dass Étienne Wichtigeres zu tun hatte und mich abwimmeln würde.

 

Doch wie üblich siegte die Neugier wieder einmal über alles andere.

Neugier, Voyeurismus – das Bedürfnis, mich davon zu überzeugen, dass ich glücklicher war als all jene, die ich dort unten zurückgelassen hatte.

 

Als sich meine Frau am Abend mit einem zufriedenen Seufzer im Bett umdrehte und ihre Muskeln sich entspannten, murmelte ich, ich hätte mir ihren Vorschlag durch den Kopf gehen lassen, und es sei vielleicht gar keine schlechte Idee. Ich würde für eine Woche nach Frankreich fahren, zu meinen Eltern.

 

Damit würde ich ihnen sicher eine Freude machen.

 

Das war vor drei Wochen gewesen. Morgen ist Samstag. Ich werde nach Frankreich fahren, allein. Aber darüber denke ich im Moment lieber nicht nach. Jetzt muss ich schlafen.