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Vollständige E-Book-Ausgabe der 2016, in der Ueberreuter Verlag GmbH, Berlin, erschienenen Buchausgabe

E-Book © Ueberreuter Verlag GmbH, Berlin 2016
ISBN 978-3-7641-9113-9
Printausgabe © Ueberreuter Verlag GmbH, Berlin 2016
ISBN 978-3-7641-5080-8

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden. Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder Familien sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Cover-­ und Umschlaggestaltung: Ina Hattenhauer

www.ueberreuter.de

Die wichtigsten Personen

Nicola Mustermann, 12 Jahre, schreibt Songs, wo er geht und steht. Färbt sich die Welt mit lila Brillengläsern schön. Besucht zurzeit seinen Freund Max auf Lumpensand.

Max Lüders, auch 12 Jahre, Nicolas bester Freund und Praktikant in der Vogelschutzstation Lumpensand. Fliegt auf Federvieh, hat einen Möwenschrei als Klingelton.

Valentine Uhudel, 11 Jahre, genannt Vally. Kommt aus Wien und den Jungs vor wie eine ahnungslose Großstadt-Tussi. Sehr zu unrecht.

Dark Dönnerschlach, Leiter der Vogelschutzstation und Valentines Onkel. Beschäftigt sich viel mit Guano, zu Deutsch: Vogelkacke.

Krista Redder, Leiterin des Umweltamtes Lumpensand und Vermieterin der Schutzstation. Stammt aus einer alten Inselfamilie.

Johannes Blank, Geschäftsmann und Konzertveranstalter. Liebt den großen Auftritt und schätzt ein gepflegtes Äußeres.

Arfst Okke Labersen, genannt AOL. Inselreporter mit unterentwickeltem Gespür für Mode, aber gutem Riecher für die nächste Story.

Etwa 1000 Krabbentaucher, possierliche Seevögel, deren nächste Verwandte Trottellumme und Marmelalk heißen.

1. Kapitel
Samstag, 8. August, 18.38 Uhr

Im normalen Leben mochte Nicola Mustermann sich nicht besonders gern. Er fand sich einfach zu »un«: irgendwie ein bisschen zu un-sportlich, seine Haare ein bisschen zu un-stylebar, und wenn er versuchte, ohne Brille klarzukommen, sah er alles ein bisschen zu un-deutlich.

Aber jetzt war nicht das normale Leben. Jetzt war nicht die Zeit für »un«. Jetzt stand Nicola auf einer Open-Air-Bühne auf der Promenade von Lumpensand. Hinter ihm rauschten die Nordseewellen auf den Strand. Vor ihm lag der halbrunde Kurplatz, umstellt von Hotels, Cafés und Souvenirläden. Dort drängten sich bestimmt 200 Menschen und starrten ihn an. Mindestens. Wenn nicht 300. Und Nicola sah sie gestochen scharf, denn er trug seine nagelneue lila Sonnenbrille mit Korrekturgläsern, minus 5 Dioptrien stark.

»Moin! Wir sind Nicola und die Hochdruckgebeats aus Hamburg«, rief Nicola ins Mikrofon. Das hatte er zu Hause vor dem Spiegel geübt. Noch ein »un«: Nicola war meistens etwas un-sicher. Doch seine gut einstudierten Posen täuschten darüber hinweg.

Aus den Boxen wummerten die ersten Bassnoten, ein paar Takte später wippten alle mit, und auf allen Gesichtern, in die Nicola blickte, machte sich ein Lächeln breit. Denn das Publikum sah nicht einen kleinen, rundlichen Jungen. Sondern einen Typen, der saugut rappen konnte. Und hinter ihm: die Hochdruckgebeats, seine Band! Jule am Bass, Tom am Schlagzeug, David am Laptop. Sie machten ihre Sache super.Aber der Hingucker war Nicola. Wenn er sich zur Musik bewegte, sah er vollkommen locker und glücklich aus. Und das war er auch.

Der Song-Wettbewerb der Insel Lumpensand hatte Bands aus ganz Norddeutschland angelockt. »Dein Lied für Lumpensand« hieß die Ausschreibung zu der Veranstaltung. Der Song des Gewinners sollte jedes Mal gespielt werden, wenn die Fähre vom Festland im Inselhafen anlegte. Nicola hätte von dem Wettbewerb vermutlich nie erfahren, wenn nicht sein Freund Max ihm den Link zur Ausschreibung gemailt hätte.

Max Lüders war vor einem Jahr mit seinem Vater von Hamburg nach Lumpensand gezogen. Jetzt stand er im Publikum und sang aus voller Kehle den Refrain mit:

Kauf mir ein Ticket raus nach Lumpensand
Insgesamt die schönste Insel hier im Abendland.
Ey verdammt, es bringt mich glatt noch mal um den Verstand.
Lumpensand hat sich in mein Herz eingebrannt,
es entflammt. Lumpensand: Ich sprüh’s an jede Häuserwand!
Dann geh ich barfuß raus ins Deichvorland
Und zähl den Fischbestand am weißen Strand!

Der Applaus nach dem Song war so laut, dass sich später Anwohner beim Bürgermeister über die Lärmbelästigung beschwerten. Nicola strahlte, als er von der Bühne kletterte.

»Hey, ihr wart super!«, sagte Max.

»Danke, weiß ich«, grinste Nicola breit.

Noch ein »un«: Nicola kam manchmal ziemlich un-bescheiden rüber. Nur gute Freunde wie Max wussten, dass das größtenteils Fassade war. Nicolas Trick, seine Unsicherheit zu überspielen.

Die Hochdruckgebeats hatten die Bühne geräumt. Ein Scheinwerfer ging an, und ein sonnengebräunter Mann in Jeans und weißen Segelschuhen joggte zum Mikrofon. Am Gürtel trug er einen faltbaren Regenschirm, so wie ein Polizist seinen Schlagstock. Der Jogger mit dem Schirm rief: »Ein heeeeerzliches Dankeschön an alle Bands, die schon aufgetreten sind! Applaus, Applaus!«

Klatschen und Johlen aus dem Publikum.

»Wer mich noch nicht kennt, meine Name ist Big Joe Blank, ich bin – unter anderem, höhö – der Organisator des Wettbewerbs. Und ich habe die Ehre, unsere letzten Teilnehmer anzusagen. Es werden gleich die Brisenboys spielen, eine Band aus Lumpensand, echtes Inselgewächs!«

Johlen und Klatschen aus dem Publikum.

»Wir machen aus technischen Gründen zehn Minuten Umbaupause, dann geht’s weiter mit den Brisenboys! Applaus!« Big Joe Blank blieb grinsend auf der Bühne stehen, die Arme ausgebreitet, als wollte er die Menge vor sich segnen. Offenbar fühlte der Mann sich dort oben wohl. Sein Blick schweifte genüsslich über die Köpfe zu seinen Füßen. Dann fiel ihm wohl ein, dass er nichts mehr zu sagen hatte. Er winkte noch einmal ins Publikum, dann joggte er von der Bühne, wie er gekommen war.

»Komm, wir gehen mal kurz an den Strand, mir ist es hier zu eng«, sagte Max.

»Okay«, nickte Nicola. Er wusste, dass Max Menschenmengen nicht ausstehen konnte. Dass er sich das Gedränge vor der Bühne angetan hatte, nur um die Hochdruckgebeats anzufeuern, rechnete Nicola ihm hoch an.

Sie schoben sich zwischen den Zuschauern hindurch Richtung Seebrücke. Doch schon nach wenigen Schritten versperrte ihnen eine knallrote Windjacke den Weg. Darin steckte ein junger Mann. An den Füßen trug er Tennissocken und Sandalen, um seinen Hals baumelte ein Band. Auf das Plastikschild, das daran hing, hatte jemand etwas krakelig PRESSE geschrieben.

»Hi, ich bin von lumpenblog.com, dem Inselblog! Ich möchte dich interviewen«, rief die Windjacke Nicola zu.

»Äh, klar, meinetwegen, gerne«, stotterte Nicola. Ein Interview! Damit hatte er nicht gerechnet.

»Gut, erzähl mal was über deine Band. Wie heißt ihr noch mal?« Der Inselblogger richtete die Kamera seines Handys genau auf Nicolas Gesicht.

»Wir sind ›Nicola und die Hochdruckgebeats‹ aus Hamburg.« Das fing ja gut an: Der Typ hatte sich nicht mal den Bandnamen gemerkt!

»Und wer ist dieses Mädchen?«

»Das Mädchen? Das ist Jule, die Bassistin.«

»Nein, nicht die. Ich meine, wer ist Nicola?«

Nicola schoss das Blut in die Wangen. Natürlich, das musste ja kommen! »Äh, das ist kein Mädchen. Das bin ich.«

»Ach so. ’tschuldigung. Wieso hast du denn einen Mädchennamen?«

Nicola hasste diese Frage. Wieso stellte dieser Mensch sie nicht seinen Eltern? In Italien heißen ganz viele Jungen so, wollten sie ihm immer weismachen. Aber er hatte eine Antwort parat – dieselbe, die er schon gefühlte zehntausend Mal gegeben hatte: »Na, weil ich nie Cola trinke.«

»Hä?« Der Inselblogger ließ verwundert die Kamera sinken, einen Moment lang filmte er nur noch Nicolas Knie.

»Nie Cola. Ni-cola. Sonst noch Fragen?«

»Äh, ja … witzig! Was hat euch zu dem Song inspiriert?«

Damit konnte Nicola schon mehr anfangen. »Ich habe ›Ticket nach Lumpensand‹ geschrieben, weil mein bester Freund mir immer von der Insel vorgeschwärmt hat. Max wohnt nämlich auf Lumpensand, seit einem Jahr schon. Und so wie er es beschreibt, habe ich mir immer gewünscht, meine Eltern würden mit mir auch herziehen. Das Lied ist meine Liebeserklärung an die Insel.«

»Gute Antwort«, sagte der Inselblogger gönnerhaft und machte seine Kamera aus.

»Das Interview stelle ich heute nach der Siegerehrung online. Also falls ihr gewinnt, meine ich. Woran ich allerdings ganz fest glaube. Du machst dich echt gut auf der Bühne.« Der Blogger legte eine betont lange Pause ein, wobei er sich den Presseausweis auf der Jackenbrust zurechtrückte. »Kannst sogar singen.«

Nicola lächelte. »Danke für das Kompliment«. Doch da hatte sich der Inselblogger schon umgedreht und war grußlos davongegangen. Nicola blickte ihm kopfschüttelnd hinterher. Der Reporter war unhöflich und kurz angebunden gewesen. Und dann die Socken! Komische Figur.Aber immerhin, ihm hatte Nicolas Lied gefallen.

»Arfst Okke Labersen!« Max’ Stimme riss Nicola aus seinen Gedanken.

»Was für’n Ding?«

»Arfst Okke Labersen, so heißt der Typ. Arfst wie darfst, Okke wie Glocke«, erklärte Max. »Das ist Friesisch vom Feinsten. Darfst ihn aber gern AOL nennen, dann freut er sich.«

»AOL? Big Joe? Nee, klar! Die nehmen sich hier wohl ganz schön wichtig.«

»Leider ja«, sagte Max.»Aber immerhin berichtet AOL auf seiner Internetseite über alles, was auf der Insel passiert.«

»Was wahrscheinlich nicht rasend viel ist«, grinste Nicola.

»Auch wieder wahr«, sagte Max.

Es kratzte aus den Boxen, und Nicola sah zur Bühne. Dort stand die nächste und letzte Band des Wettbewerbs: die Brisenboys. Es war die einzige Band von der Insel, drei Gymnasiasten mit Keyboard, Schlagzeug, Gitarre, Seitenscheitel und gebügelten T-Shirts. Nicola kannte sie nicht. Aber schon nach ein paar Takten taten ihm die Ohren weh. Der Gesang war schief, die Gitarre verstimmt. Die Brisenboys schien das nicht zu stören, sie schmetterten ihren Song, als hörten sie nicht, wie schräg es klang. Dazu lächelten sie unschuldig wie Chorknaben und blickten versonnen knapp über die Köpfe der Zuschauer hinweg. Dass Nicola sie durch seine Sonnebrille ganz in Lila sah, machte die Sache nur einen winzigen Hauch erträglicher.

Oh Lumpensand,
mein Heimatland!
Dein Dünensand
ist mir bekannt!

Argh … Heimat und Dünen? Nicola verzog das Gesicht. Der Text war wirklich schwach. Schade. Andererseits – vergrößerte das nicht seine Chancen auf den Sieg? Vielleicht war es ja ganz gut, dass diese Band war, wie sie eben war. Hauptsache, den Brisenboys macht’s Spaß, dachte er. Er sah zu Max. Der hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu und zog ein Gesicht, als würden ihm ohne Betäubung sämtliche Zähne gezogen.

Der Sänger trällerte jetzt irgendetwas vom Himmel über Lumpensand. Dazu wackelte er mit dem Po und klatschte in die Hände.

Wackel, wackel, klatsch.

Wackel, wackel, klatsch.

Jetzt hob er die Hände über den Kopf.

Wackel, wackel, überkopfklatsch.

Wackel, wackel, überkopfklatsch.

Er reckte einen Arm noch höher und begann, mit großer Geste Richtung Himmel und Horizont zu winken.

Wackel, wackel, wink.

Wackel, wink, wack… irgendetwas brachte ihn plötzlich aus dem Rhythmus. Der Sänger stellte das Po-Wackeln ein. Er starrte mit halb offenem Mund zum Himmel, seine Augen weiteten sich.

»Achtung! Schietsturm!«, brüllte er und warf sich mit einer gekonnten Rolle rückwärts, die Nicola diesem Pinsel niemals zugetraut hätte, unter das Keyboard.

Die Musik brach ab. Nicola hörte über sich ein lautes Flattern. Er schaute nach oben – in einen riesigen Schwarm kleiner, schwarzweißer Vögel. Im selben Moment platschte ein Regen aus Vogelscheiße über Zuschauer, Band und Bühne. Ein weißer Kotsprotzer landete direkt auf Nicolas Brillengläsern, er sah nur noch schmierige Schlieren.

»Runter«, rief Max und zog ihn zu Boden.

2. Kapitel
Samstag, 8. August, 18.59 Uhr

»Alter, was war das denn?« Nicola war wieder aufgestanden und wischte sich die Brille an seinem T‑Shirt ab. Was die Sache kaum besser machte, da das Hemd ebenso bekleckert war. Wie auch seine Hose, seine Schuhe, seine Mütze. Die Attacke hatte höchstens eine halbe Minute gedauert, dann war der Spuk vorbei gewesen. Der Vogelschwarm war in Richtung Meer gezogen, hatte dort eine weite Rechtskurve gedreht und war dann aus Nicolas Blickfeld verschwunden. Er sah sich um. Überall hockten Menschen, halfen einander wieder auf die Füße und begutachteten ihre Kleidungsstücke. Wer Taschen- oder vielleicht sogar Badetücher bei sich hatte, weil er den sonnigen Tag bis zum Musik-Wettbewerb noch am Strand verbracht hatte, versuchte mehr schlecht als recht, sich von dem weiß-schleimigen Gesprenkel zu befreien, das nicht nur die Menschen, sondern auch die Bühne und die Dächer der umstehenden Häuser flächendeckend eingeregnet hatte.

Auf der Bühne waren die Brisenboys unter ihren Instrumenten hervorgekrochen. Der Sänger sagte irgendetwas ins Mikrofon. Doch Nicola verstand kein Wort, offenbar hatte die Kack-Attacke einen Kurzschluss in der Technik ausgelöst. Jedenfalls blieben die Lautsprecher stumm.

Jemand fasste ihn an der Schulter, Nicola fuhr herum. Es war nur Max.

»Alle alle.« Sein Freund lächelte schief.

»Alle? Was alle?« Manchmal war Max echt komisch.

»Alle alle, zu Deutsch: der Krabbentaucher. Gehört zu den Alkenvögeln, sozusagen der Pinguin der Nordhalbkugel. Kennst du Papageientaucher? Das sind nahe Verwandte. Trottellummen und Marmelalke auch.«

»Marmel… kann sein. Aber stopp, jetzt bitte keine Biostunde. Erklär mir lieber, was das gerade war. Irgendwie sieht hier keiner so richtig überrascht aus.«

Nicola blickte sich noch einmal um. Die Brisenboys waren inzwischen nicht mehr allein auf der Bühne, der Typ, der sich »Big Joe« nannte und als Veranstalter ausgegeben hatte, hatte sich dazugesellt und redete auf die nun nicht mehr ganz so gut gescheitelten Jungs ein. Als Einziger weit und breit war der Kerl nicht von oben bis unten vollgekackt. Kein Wunder, der Regenschirm hing auch nicht mehr zusammengefaltet an seinem Gürtel, er hielt ihn aufgespannt in der Hand.

Vor der Bühne parkte jetzt ein orangefarbenes Elektromobil der Lumpensander Müllabfuhr. Autos waren auf der Insel verboten, als Ersatz dienten batteriebetriebene Wägelchen, mit denen sonst Golfspieler von Loch zu Loch eiern. Dieses Exemplar war mit einem langen Saugrüssel ausgestattet. Eine Putzcrew in ebenso orangefarbenen Overalls machte sich mit Hilfe des Geräts daran, den Boden von Spritzern und Sprotzern zu befreien. Der abgesaugte Kot landete in einem großen Kanister auf dem Müllwagen.

»Stimmt«, sagte Max, »auf solche Schietstürme ist die Insel mittlerweile gut vorbereitet. Sie passieren seit ungefähr fünf Jahren, seit es die Kolonie gibt. Wir schätzen, es sind ungefähr 1000 Tiere. Habe ich dir nie davon erzählt? Die Vögel nisten eigentlich gleich vor unserer Station auf einem Felsen im Meer, keine 500 Meter vom Strand. Übrigens sehr ungewöhnlich, die sind eigentlich in der Arktis zu Hause. Viel weiter im Norden.«

Unsere Station. Max meinte vermutlich die Vogelschutzstation am anderen Ende der Insel, wo er seit letzter Woche ein Praktikum machte. Nicola musste lächeln. Wenn Max von Vögeln sprach, leuchteten seine Augen, als wäre er verknallt. Das war schon früher so gewesen, als sie beide noch in Hamburg gewohnt hatten. Da hatte es sich aber meist um kranke Kohlmeisen und verletzte Spatzen gedreht. Jetzt, wo sein Freund quasi Tür an Tür mit Möwen, Austernfischern, Kormoranen und, ja, auch diesen komischen Krabbentauchern lebte, war das offenbar noch viel heftiger geworden.

Max riss seinen Freund aus den Gedanken: »Warum die Viecher immer mal wieder solche Luftangriffe fliegen, weiß keiner genau. Wir erforschen das zwar, aber nicht einmal Dark weiß –«

»Dark?«

»Doktor Dark Dönnerschlach, ja. Das ist mein Chef, der leitet die Station schon seit 20 Jahren oder so. Keiner weiß mehr über Seevögel als er.«

»Dark Dönnerschlach. Das ist doch kein Name. Erst Arztlocke …«

»Arfst Okke!«

»… und dann Dark Dönnerschlach! Spielt der bei Star Wars mit, oder was?«

»Cola, hör auf zu lästern, okay? Dark ist ein ungewöhnlicher Name, mag sein.Aber wer Nicola heißt …«

Nicola grunzte. Sein Freund überraschte ihn immer wieder. Es war leicht, Max zu unterschätzen. Er war eigentlich immer zurückhaltend, oft erschien er sogar schüchtern. Aber in Wahrheit war er schneller im Kopf als die meisten, die Nicola kannte. Und als Nicola selbst.

»Okay«, beschwichtigte er, »Dark tappt auch im Dunkeln. Und weiter?«

»Na ja, viel mehr gibt es nicht zu sagen. Die Krabbentaucher kommen angeflattert, kacken alles voll und zwitschern wieder ab. Auch wenn du es noch nicht wusstest, das hat sich rumgesprochen. Es gibt Leute, die machen nur deswegen Ferien auf Lumpensand, die Kamera immer im Anschlag. Wer Glück hat, kann einen echten Youtube-Hit landen. Hättest du vielleicht in euren Songtext einbauen sollen, das – «

»Hallo?! Haaaaaallooooo?!«

Die beiden Jungen drehten sich um. Die Stimme kam, etwas dünn, von der Bühne, es war der Typ mit dem Regenschirm. Beziehungsweise jetzt ohne, denn er hatte das vollgekotete Teil auf einem der großen Lautsprecher abgestellt. Wieder ruderte er mit den Armen, diesmal nicht mehr wie der Papst, eher wie ein Torwart vorm Elfmeter. Die Verstärkeranlage hatte sich offensichtlich dauerhaft verabschiedet.

»Sehr verehrtes Publikum, ich bedauere den Zwischenfall. Es scheint, als hätten diese blöden Schei… unsere kleinen fliegenden Freunde einen Kurzschluss verursacht. Wir müssen den Wettbewerb leider an dieser Stelle abbrechen. Die Jury wird ein andermal tagen, denn jetzt wollen alle erst mal duschen! Das Ergebnis des Wettbewerbs wird dann baldmöglichst bekannt gegeben. Noch mal einen großen Applaus für unsere Lokalmatadoren, Applaus für die Brisenboys?! Bri! Sen!! Boys!!!«

»Na, toll. Und wer hat jetzt gewonnen?«, sagte Nicola mehr zu sich selbst.

»Noch keiner, hast du doch gehört«, sagte Max. »Geduld, Cola. Komm, wir gehen erst mal nach Hause, morgen ist auch noch ein Tag.«

»Ja, aber morgen ist meine Band nicht mehr da. Die müssen heute das letzte Schiff kriegen und zurück nach Hamburg. Soll ich etwa ohne die anderen zur Siegerehrung?«

Max sah ihn nachdenklich an. »Stimmt«, sagte er schließlich. »Ist schon blöd.«

»Komm«, Nicola zuckte mit den Schultern, »lass uns den dreien wenigstens Tschüss sagen.«

Zehn Minuten später hatten Nicola und Max sich von den Hochdruckgebeats verabschiedet. Die Band schipperte zurück ans Festland, und Nicola blieb auf der Insel. Nicht ganz freiwillig. Seine Eltern waren gestern für zwei Wochen in den Urlaub gefahren. Ohne ihn. Sie hatten eine Studienreise nach Österreich gebucht, Titel: »Barocke Beichtstuhlschnitzerei in Südosttirol«. Nicola, so fanden sie, sei derweil bei seinem besten Freund Max auf Lumpensand viel besser aufgehoben als bei ihnen und den Schnitzereien.

Das fand Nicola eigentlich auch. Nur wünschte er sich, sie hätten ihn vor dem Kauf ihres Flugtickets nach seiner Meinung zu der ganzen Sache gefragt. Dann hätte er ihnen erzählen können, dass Max in den ersten Ferienwochen gar keine Zeit für Besucher hatte. Sein Praktikum bei der Vogelschutzstation hatte er seit Monaten geplant. Und so ahnte Nicola schon jetzt, dass er seinen Inselaufenthalt wohl vor allem mit seiner Gitarre verbringen würde, statt mit seinem besten Freund.

»Wenigstens kommen wir noch rechtzeitig zum Abendbrot«, sagte der jetzt. »Und ich rechtzeitig ins Bett, morgen früh um halb acht lässt Dark antreten. Vogelkot sammeln.«

»Waaaaas … du sammelst Kacke ein? Toller Ferienjob, Max. Nee, echt: gratuliere!«

Doch Max fuhr offenbar ungerührt fort: »Ja, wir nehmen regelmäßig Proben von unserer Kolonie. Die untersucht Dark dann im Laborraum in der Vogelschutzstation. So hofft er, irgendwie den Grund für diese mysteriösen Schietstürme herauszufinden.« Er machte eine kurze Pause und sah Nicola herausfordernd an: »Am besten kommst du morgen mit, dann siehst du selbst, was wir da eigentlich tun.«

Nicola schnaubte. »Ich soll Vogeldreck von den Felsen kratzen? Um halb acht Uhr früh? Ganz bestimmt!«

»Na, du kannst es dir ja noch überlegen.« Max lächelte seinen Freund an. »Komm, jetzt gehen wir erst mal nach Hause.«

Und gemeinsam marschierten sie weg von der Bühne, der Strandpromenade, und dem Schlachtfeld, das die Krabbentaucher hinterlassen hatten. Sie gingen über die Hauptstraße des Dorfes in Richtung Salzwiesen, wo Max und sein Vater wohnten.

 

Dieser Aufsatz handelt von der Nacht, in der ich dachte, dass die Welt untergeht. Wenn meine Mutter gewusst hätte, welche Katastrophe da vom Meer her auf uns zurollt – sie hätte mich niemals losgeschickt. Aber sie ahnte es nicht. Ich ahnte es nicht. Niemand ahnte es. Dabei kenne ich Stürme, ich kenne auch schwere Stürme. Wer auf den Inseln lebt, wird mit Stürmen groß. In jedem Herbst, in jedem Frühjahr und manchmal dazwischen nagt das Meer am Land. Meist bleibt es dabei. Dann vertilgen die Wellen ein paar Meter Strand, der Wind nimmt ein paar Dachziegel mit. Nicht der Rede wert, so ist das eben hier draußen. Anderswo gibt es Schneelawinen. Oder Autounfälle. Schnee haben wir selten auf Lumpensand, Autos nie. Wie also hätten wir wissen sollen, dass diese eine Sturmflut schwerer werden sollte, als jede, die wir bisher erlebt hatten? Diese Flut hätte mich fast mein Leben gekostet. Es wäre ein frühes Ende gewesen. Ich war erst 14 Jahre alt.

3. Kapitel
Sonntag, 9. August, 5.58 Uhr

Am nächsten Morgen wurde Max bei Sonnenaufgang wach. Nicola schlief noch. Er lag auf einer Luftmatratze, der Inhalt seines Rucksacks neben ihm auf den Holzdielen verstreut – eine Hügellandschaft aus Socken, T‑Shirts, Badelatschen und Hosen, gespickt mit unzähligem Krimskrams. Max sah unter anderem:

eine Taucherbrille mit Schnorchel

einen gewaltigen Schlüsselbund

eine Riesentüte Erdnüsse mit Schale

ein Paar dicke, knallrote Kopfhörer

aus dem Chaos ragen. Max fand sein Zimmer eigentlich ziemlich geräumig. Aber seit Nicola gestern eingezogen war, schien es irgendwie geschrumpft zu sein.

Max blickte durch das Dachfenster nach draußen. Wieder ein wolkenloser Tag. Unter ihm im Garten flatterte die Wäsche an der Leine. Nach dem Schietsturm hatten Max und Nicola ihre dreckigen Sachen gleich in die Waschmaschine geworfen. Jetzt schlackerten sie blitzsauber in der Morgenbrise.

Max balancierte um Nicolas Klamottengebirge herum, schnappte sich Unterhose, Shorts und T‑Shirt aus dem Schrank und zog sich leise an. Er schlich Richtung Zimmertür, machte einen großen Schritt über Nicolas Kopfhörerkabel, das sich dort zwischen Schreibtischstuhl und Bücherregal verheddert hatte, verlor das Gleichgewicht – und: bäng! – stieß mit dem Fuß an Nicolas Gitarre, die neben der Matratze auf dem Boden lag. Bei seinen Auftritten benutzte er sie nie, aber Nicola brauchte sie zum Song-Schreiben. Jetzt schepperten ihre sechs Saiten einen verstimmten Akkord.

»Hey, super Song, Max!« Nicola setzte sich auf und sah seinen Freund aus verschlafenen Augen vorwurfsvoll an.

»Tut mir leid. Guten Morgen«, erwiderte Max.

Nicola rieb sich die Augen, riss den Mund auf, dass Max für einen Moment fürchtete, sein Freund würde sich gleich den Unterkiefer ausrenken, und lugte aus dem Fenster. »Ha hiha hoha hohich!«, sagte er.

»Ja, klar. Und jetzt bitte noch mal auf Deutsch?«

»Ich meine, das wird ja total sonnig heute!«, wiederholte Nicola. Diesmal ohne dabei zu gähnen. »Zu Hause in Hamburg ist das Wetter bestimmt nicht so schön.«

»Dann komm doch mit zu den Vögeln«, schlug Max vor. »Wir haben eine Hängematte, da drin kannst du einfach weiterschlafen.«

»Echt, so was gibt’s da?«

»Ja, es stehen ein paar ganz alte Bäume an der Schutzstation. Bestimmt 200 Jahre alt. Total selten so etwas auf den Nordseeinseln, darauf ist ganz Lumpensand stolz. An zwei Bäumen hat Dark eine Hängematte aufgehängt.«

»Hm, klingt nicht übel«, erwiderte Nicola. Nach einer kleinen Denkpause fuhr er fort: »Ich komme mit!« Dann durchwühlte er seinen Kleiderhaufen nach etwas zum Anziehen.

Die Holztreppe knarrte leise, als die Jungen ins Erdgeschoss hinuntertappsten.Aber sonst war alles ruhig in der »Villa Wattwurm«. Die fünf Gästezimmer in dem alten Reetdachhaus waren zwar komplett ausgebucht, doch vor halb acht ließen sich die Urlauber selten im Frühstücksraum blicken. Die schlummerten alle noch tief und fest. Max und Nicola schlichen in die Küche und rührten sich einen Kakao an.

Da hörten sie Schritte auf dem Flur.

»Oh Gott! Wie furchtbar!«

Max erkannte die Stimme seines Vaters.

»Verstehe. Oje.«

Offenbar telefonierte er. Und er klang nicht so, als hätte er Spaß an dem Gespräch.

»Na dann, gute Besserung!«, sagte Max’ Vater, als er im Türrahmen auftauchte. Er schob das Telefon in die Hosentasche. »Guten Morgen, ihr zwei! Frau Ircksen hat sich den Fuß gebrochen«, sagte er.

»Oh«, sagte Max.

Frau Ircksen hieß die Frau, die seinem Vater dabei half, für die Gäste das Frühstück zu machen. Das tat sie nun schon seit einem Jahr – seit Max’ Eltern sich hatten scheiden lassen, Max und sein Vater von Hamburg auf die Insel gezogen waren und Max’ Vater die »Villa Wattwurm« übernommen hatte. Frau Ircksen war unersetzlich. Vor allem jetzt, in der Hochsaison.

Vater Lüders hatte also ein Problem.

»Ich habe ein Problem«, sagte er nachdenklich.