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Der völlig gestörte Jan-Uwe Fitz hat ständig Angst. Vor allem vor Menschen. Am meisten fürchtet er sich vor sich selbst. Hoffnung keimt auf, als er sich in eine Nervenklinik begibt. Verfolgen Sie seinen Weg in die Anstalt und wieder zurück. (Auf ein paar Verfolger mehr kommt es bei einem Paranoiker ohnehin nicht an.) Erfahren Sie alles über eine Welt, in der die Irren regieren – auf beiden Seiten. Stimmen Sie ab, wenn es wieder heißt: »Deutschland sucht den Super-Depri«.

Jan-Uwe Fitz lebt in Berlin und Limburg/Lahn. Er bloggt unter vergraemer.de und wird auf twitter als @vergraemer von über 25.000 Followern, nun ja, verfolgt.

Jan-Uwe Fitz

Entschuldigen Sie meine Störung

Ein Wahnsinnsroman

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Für meine vier Eltern, für meine Omi
und für Anke, die alles für mich ist.

1. Teil

1

Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, ich werde neuerdings von einer Wanderbaustelle verfolgt. Vielleicht laufe ich aber auch nur zufällig vor ihr her. Oder vielleicht ist alles nur ein großes Missverständnis. Ich weiß es doch auch nicht. Jedenfalls befinden sich seit geraumer Zeit dauerhaft drei Bauarbeiter in meiner Nähe. Der erste führt einen ohrenbetäubend ratternden Presslufthammer mit sich. Der zweite zieht eine Betonmischmaschine hinter sich her. Und der dritte tanzt ungelenk dazu. Presslufthammer-Sound scheint Musik in seinen Ohren zu sein.

Wo ich auch bin, die Wanderbaustelle ist nicht weit und lärmt. Es ist wohl weniger eine Wanderbaustelle als vielmehr eine Hinterherlaufbaustelle. Sehe ich die drei Bauarbeiter scharf an, schauen sie unschuldig pfeifend gen Himmel. Ich vermute, sie glauben, sie könnten mir etwas vormachen. Können sie auch.

Ich war schon mehrmals kurz davor, die Kerle zur Rede zu stellen, um endlich in Erfahrung zu bringen, warum sie mich verfolgen. Aber ich traue mich nicht. Ich spreche ungern Leute an. Auch dann nicht, wenn ich ein wichtiges Anliegen habe. Und wenn ich ihnen dann auch noch irgendetwas unterstellen muss, zum Beispiel, dass sie mich verfolgen, lasse ich es erst recht lieber sein. Ich weiß doch, wie das laufen wird:

»Warum verfolgen Sie mich?«

»Was? Wir wollten Sie gerade fragen, warum Sie ständig vor uns herlaufen.«

Dann stehe ich da und habe keine Antwort. Ich werde »Aber das mache ich doch gar nicht. Das ist alles ein großes Missverständnis« stammeln und mich anschließend verschüchtert aus dem Staub machen. Und wenn ich mir noch so sicher bin, dass ich nicht vor der Wanderbaustelle hergelaufen bin. Jedenfalls nicht mit Absicht. Aber ich muss gestehen: ein merkwürdiger Zufall. Und da die Bauarbeiter zu dritt sind und einmütig behaupten werden, ich sei vor ihnen hergelaufen und nicht umgekehrt, bringt es nichts, die Kerle vor Gericht zu zerren. Mir sind die Hände gebunden. Würden die Typen nur nicht so dicht auflaufen. Ständig fährt mir der Betonmischer in die Hacken.

Es gibt noch eine dritte mögliche Erklärung: Es ist alles ein göttlicher Plan. Die Wanderbaustelle und ich haben exakt den gleichen Lebensweg. Und ich nur das Pech, dass ich knapp vorneweg gehen muss. Schicksal. Wenn keiner Schuld hat, weder die Baustelle noch ich, dann kann ich die Herren noch so oft bitten, woanders hinzugehen – sinnlos. Ich muss mein Schicksal wohl einfach akzeptieren. Die Wanderbaustelle und ich sind durch ein unsichtbares Band miteinander verbunden. Wir sind füreinander bestimmt. Auf platonischer Ebene natürlich, Sie alte Sau.

Heute ist es dann passiert. Ich sitze in einem Straßencafé, die Bauarbeiter rühren am Nebentisch Beton, als plötzlich einer von ihnen neben mich tritt und schimpft: »Wissen Sie, jetzt reicht’s.«

»Was denn?«, frage ich betont unschuldig.

»Sie laufen seit drei Jahren vor uns her. Ich rufe die Polizei. Stalker-Schwein!«

»Nein, nein«, belehre ich ihn. »Das ist ein Missverständnis, ich laufe nicht vor ihnen her. Auch wenn man das vermuten könnte. Wir sind vielmehr füreinander bestimmt.«

Er sieht mich misstrauisch an, dann knurrt er: »Das Einzige, für das Sie bestimmt sind, ist meine Faust. Wenn ich Sie noch einmal sehe, gibt’s ein paar auf die Fresse.« Mir liegt die Frage auf der Zunge, wie viel »ein paar« sein wird, finde mich aber damit ab, dass ich das bestimmt schon bald erfahren werde.

Als ich heute Nacht wieder von dem ohrenbetäubenden Lärm des Presslufthammers aufwache und den Vorhang meiner Balkontür zurückziehe, stehen die drei Bauarbeiter auf meinem Balkon. Der Presslufthammer rattert, der Betonmischer dreht sich, und ein Bauarbeiter tanzt. Als er mich entdeckt, hält er abrupt inne und ruft: »Aha, Freundchen! Los, Tür aufmachen.« Zögerlich komme ich seinem Befehl nach.

»Sie schon wieder«, begrüßt er mich.

»Sie aber auch«, antworte ich geistesgegenwärtig und befürchte, in den nächsten Sekunden ›ein paar auf die Fresse‹ zu bekommen. Um Zeit zu gewinnen, frage ich: »Was machen Sie da eigentlich?«

»Wir verlegen neue Leitungen.«

»Auf meinem Balkon?«, hake ich verblüfft nach.

»Unter Ihrem Balkon«, korrigiert er mich.

»Unter meinem Balkon befinden sich alte Leitungen? Ich dachte immer, unter meinem Balkon befände sich nur der Balkon der Familie unter mir.«

»Das kann nicht sein. Unseren Plänen zufolge befinden sich unter Ihrem Balkon alte Leitungen.«

»Vielleicht beides. Weiß man’s?«, verlängere ich das Gespräch künstlich.

»Egal, ich verkloppe Sie jetzt erst einmal. Dann haben wir das hinter uns. Ich habe Sie gewarnt: Halten Sie sich nicht mehr in unserer Nähe auf.«

»Wollen wir uns nicht duzen?«

»Gern. Ich bin der Viktor.«

»Ich bin der Jan-Uwe.«

»Dann möchte ich doch lieber ›Sie‹ und ›Herr Fitz‹ sagen.«

»Bevor Sie mir eine reinsemmeln, bedenken Sie: Das ist mein Balkon, auf dem Sie da stehen. Ich wohne hier. Ich kann Sie gar nicht verfolgt haben.«

»Sie sind hier nur eingezogen, weil wir auf Ihrem Balkon arbeiten.«

»Außerdem zerstören Sie gerade mein Ein und Alles. Ich habe doch nur diesen Balkon.«

»Sie sind ja gestört. Freuen Sie sich doch lieber, dass Sie bald neue Leitungen haben.«

»Herrgott noch mal«, fahre ich den Presslufthammerbetreiber an, »können Sie nicht wenigstens nachts Ihren bescheuerten Presslufthammer ausschalten?«

»Lassen Sie meinen Kollegen in Ruhe. Wenn Sie mit jemandem streiten möchten, dann nehmen Sie mich«, stellt sich der tanzende Bauarbeiter schützend vor seinen Kollegen und hebt die geballten Fäuste vors Gesicht. Jetzt hüpft er wie ein Boxer leichtfüßig vor mir herum.

Der Presslufthammerkollege schaltet sich ein und brüllt:

»Mein Presslufthammer ist ausgeschaltet, mein Herr. Den Lärm bilden Sie sich ein.«

»Aber Sie brüllen doch auch dagegen an.«

»Ich bilde mir den Lärm auch nur ein.«

»Ich bilde mir Presslufthammergeräusche ausgerechnet in dem Moment ein, in dem ein Bauarbeiter direkt vor meiner Nase mit einem Presslufthammer meinen Balkon malträtiert?«

»Malträwas?«

»Intensiv bearbeitet.«

»Intensiv bewas?«

»Sie kennen das Wort ›bearbeitet‹ nicht?«

»Doch, ich wollte Sie nur hinhalten, damit die Fangschaltung Sie lokalisieren kann.«

»Wie?«

»Hier, sehen Sie.« Er öffnet sein Hemd und ich sehe, dass ein kleines Mikrofon mit einem grauen Klebestreifen an seiner Brust klebt.

»Sie zeichnen unser Gespräch auf?«

»Ja, ich brauche einen Beweis für Ihre Stalkerei. Ich habe Sie nämlich angezeigt. Ich möchte, dass Sie sich uns nur noch bis auf 50 Meter nähern dürfen.«

»Wie soll ich mich denn dauerhaft von Ihnen entfernen, wenn Sie auf meinem Balkon arbeiten?«

»Es gibt nette Hotels.«

»Wie ich Sie kenne, folgen Sie mir auch dorthin.«

»Warum sollten wir Ihnen folgen?«

»Wieso müssen Sie mich überhaupt in der Leitung halten?«

»Um zu sehen, wo Sie sich gerade befinden.«

»Ich stehe vor Ihnen.«

»Guter Punkt. Hm, das ist aber auch alles verwirrend. Übrigens: Das mit den Baustellengeräuschen, das sollte Ihnen Sorge bereiten. Ihr Gehirn spielt Ihnen einen Streich. Sie sind verwirrt. Ihr Hirn ergänzt automatisch die entsprechenden Geräusche, sobald Ihre Augen einen Bauarbeiter sehen, der mit einem Presslufthammer herumwackelt.«

»Wie bitte?«

»Was denn?«

»Was sagten Sie?«

»Was denn?«

»Nein, davor.«

»… der mit einem Presslufthammer herumwackelt.«

»Den ganzen Satz.«

»Ihr Hirn ergänzt automatisch die entsprechenden Geräusche, sobald Ihre Augen einen Bauarbeiter sehen, der mit einem Presslufthammer herumwackelt.«

»Genau. Das klingt hanebüchen.«

»Sie wollten doch, dass ich es noch einmal sage.«

»Ja, aber es klang schon beim ersten Mal hanebüchen.«

»So ist das Leben eben. Hanebüchen. Ich hab’s nicht erschaffen, mein Herr.«

»Sie wollen mir etwas über das menschliche Gehirn erzählen? Als Bauarbeiter?«

»Sie haben gefragt.«

»Das Problem mit Ihnen hat sich eh bald erledigt. Wenn Ihr Kollege weiter presslufthämmert, stürzen Sie in die Tiefe.«

»Sie meinen, wir sägen an dem Ast, auf dem wir sitzen?«

»Ja. Nur eben auf dem Balkon, auf dem Sie tanzen.«

»Hoffentlich lachen wir uns nicht einen Balkon ab. Haha. Ich sage Ihnen etwas: Das macht nichts, dann landen wir eben auf dem Balkon im sechsten Stock. Bei Ihnen sind wir ja auch nur gelandet, weil wir den Balkon im Achten durch hatten.«

»Das Haus hat kein achtes Stockwerk.«

»Sind Sie sicher?«

»Schauen Sie nach oben. Der Sternenhimmel. Kein Balkon.«

»Weil wir den weggemacht haben.«

»Da ist aber auch keine Wohnung.«

»Hm, dann meinte ich das mit dem achten Stock metaphorisch.«

Da verschwindet er auch schon aus meinem Sichtfeld. Keine Sekunde zu früh. Mitsamt Kollegen, Presslufthammer und Betonmischer stürzt er in die Tiefe und landet auf dem Balkon im sechsten Stock. Ich blicke aus meiner Wohnung herab auf die drei, die sich im Schutt wälzen. Der Anführer blickt zu mir hinauf und sagt »Hoppala. Entschuldigen Sie uns, wir haben zu arbeiten. Wir sehen uns vor Gericht.«

2

Seit geraumer Zeit besitze ich wieder einen Balkon. Er ist mein ganzer Stolz. Auch wenn ich ihn gestohlen habe. Bis gestern gehörte der Balkon meinem Nachbarn zur Linken. Was soll ich sagen: Die beiden waren ein Herz und eine Seele. Ich habe meinem Nachbarn seinen Balkon von Herzen gegönnt. Ich sehe gern glückliche Menschen mit Balkonen. Und diese beiden strahlten so ein Glück aus. Sie tollten und balgten sich, mal war der Nachbar oben, mal der Balkon. Der Nachbar warf ein Stöckchen, der Balkon lief hinterher und apportierte es. Na, gut, nicht wirklich, aber er versuchte es immerhin.

Wenn es um das Glück anderer geht, bin ich frei von Neid. Ich kann mit meinem Leben noch so unzufrieden sein – wenn ich sehe, dass ein anderer Mensch glücklich ist, freue ich mich für ihn. So wie für meinen Nachbarn, sobald er seinen Balkon betrat. Dann freute und freute ich mich, jubelte und klatschte wie ein Seehund im Zirkus immer wieder in die Hände. Ja, ich habe vielleicht etwas übertrieben.

Eines Morgens im Juni aber, ich beobachtete die beiden gerade beim neckischen Spiel miteinander, brach eine Welt für mich zusammen. Denn durch Zufall erhaschte ich einen kurzen Blick meines Nachbarn – und erschrak. Sein Lachen, das für mich immer ein Ausdruck von Freude war, verriet in Wahrheit Häme. Sein Blick sagte: »Ich-hab-nen-Balkon-und-duhu-nihicht! Nänänänä nää näää!« Wie konnte ich nur all die Zeit so blind gewesen sein? Oder war dieser Gesichtsausdruck neu? Plötzlich ergab alles Sinn. Das wohlige Räkeln meines Nachbarn auf seiner Balkonliege: ein »IchhabeeinenBalkonunddunicht«-Räkeln. Seine Siesta in der Mittagssonne: ein »Oh, die Sonne scheint, da nehme ich mal ein Sonnenbad auf meinem suderduperhuper BALKON.« Alles sollte mir sagen: »Ich habe einen Balkon und du nicht.« Und seine Cheerleader-Show: »B-A-L-K-O-N! BALKON! Yippiehyeah!« – auch sie eine Choreografie des Spotts. Im Kleingetanzten konnte ich lesen: Ätschibätschi, Fitz-Arsch! Konnte das wirklich sein? Dass alles nur dem einen Zweck diente: mich eifersüchtig zu machen? Weil ich armer Geselle bei strahlendem Sonnenschein mit einem Fenster und einer hässlichen Fensterbank vorliebnehmen musste?

Mit jenem Blick meines Nachbarn wurde alles anders. Der Neid in mir wuchs wie ein Geschwür. Tag für Tag wurde er größer. Und schließlich war er stärker als ich.

Eines Tages, mein Nachbar war gerade zum Einkaufen gegangen, schlich ich mich in einer Nacht- und Nebelaktion, die ich vorsichtshalber tagsüber und bei klarer Sicht durchzog, in seine Wohnung und flexte heimlich seinen Balkon ab. Dann tackerte ich das Teil flugs vor mein Milchglasfenster – fertig war der Wohngewinn.

Mein Nachbar guckte vielleicht verdutzt aus der Wäsche, als er auf seinen Balkon treten wollte, aber stattdessen in die Tiefe stürzte. Mir aber war es eine Genugtuung. In seinen Augen las ich deutlich: »Hä? Wieso falle ich? Habe ich nicht einen Balkon? Und wieso hast du jetzt einen? Und sonst so? Alles klar, alte Schlampe?« (Seine Augen sind sehr ausdrucksstark. Aber ich bin auch ein ausgezeichneter Augenleser.) Da schlug er auch schon auf, und (Vorsicht, nichts für schwache Nerven:) die ausdrucksstarken Augen quollen ein gutes Stück hervor.

Nun habe ich einen Balkon, aber keinen Nachbarn mehr, den ich damit neidisch machen könnte. Das mindert den Spaß ein bisschen. Und meinen Balkon kann ich vorerst auch nicht betreten, weil ich ihn in der Eile zu weit oberhalb meiner Balkontür befestigt habe. Ich wollte eben schnell fertig werden, bevor mich jemand sieht, und bin dabei vielleicht einen Tick zu sorglos vorgegangen. Um meinen Balkon zu erreichen, benötige ich einen Fahrstuhl. Im Nachbarhaus haben sie einen. Wenn niemand guckt, klaue ich den.

3

Es klingelt. Ich öffne die Haustür, und zwei Polizisten nicken mir freundlich zu.

»Guten Tag, Ricksche von der Mordkommission. Das ist mein Kollege Drews.«

»Guten Tag, die Herren Wachtmeister«, antworte ich verängstigt bibbernd. Autoritäten beeindrucken mich nicht sonderlich, aber Menschen an meiner Haustür machen mir Angst, bei vielen handelt es sich um Besucher, und bei denen bin ich immer so unangenehm verklemmt. Obwohl ich sie verachte. Aber ich verachte mich eben noch einen Tick mehr. Entspannt bin ich nur, wenn der Pizzabote klingelt. Der geht in der Regel bald wieder. Es sei denn, ich gebe ihm zu wenig Trinkgeld. Dann droht er mir schon einmal damit, dass er ja jetzt weiß, wo ich wohne, und schaut drein, als sei er zu allem entschlossen.

Mein Verhältnis zu meinem Pizzaboten ist sowieso nicht das beste. Der Kerl arbeitete früher als Paketbote und gibt meine Pizza in der Regel bei meinen Nachbarn ab. Zum Bezahlen steht er dann aber doch vor meiner Tür:

»Guten Tag. Macht genau zwölf Euro.«

»Und wo ist die Pizza?«

»Habe ich bei Ihrem Nachbarn abgegeben. Hinterhaus. Oberstes Stockwerk.«

»Warum denn das, Sie Idi?«

»Sie waren nicht da.«

»Ich bin da. Sie kassieren ja gerade bei mir.« Und es klingt leicht verzweifelt.

»Als ich das erste Mal geklingelt habe, waren Sie nicht da. Ihr Nachbar war so freundlich, die Pizza anzunehmen.«

»Und der Abholzettel?«

»Liegt als Belag auf der Pizza.«

Ich bezahle missmutig und mache mich auf den Weg zu meinem Nachbarn. Er öffnet mir mampfend die Wohnungstür, drückt mir den leeren Karton in die Hand und bittet mich, ihn auf dem Weg zurück zu meiner Wohnung einfach in den Müllcontainern im Innenhof zu entsorgen.

»Alles OK?«, fragt mich einer der beiden Polizisten und weckt mich aus meinen Erinnerungen. Stimmt, ich habe ja Besuch. Mein angsterfülltes »Gulp!« hallt durch das Treppenhaus.

»Beeindruckende Akustik in Ihrem Treppenhaus«, sagt der Beamte links.

»Sie sind doch sicher nicht gekommen, um mit mir über die Akustik in meinem Treppenhaus zu reden …«, entgegne ich misstrauisch.

»In der Tat nicht. Wir untersuchen den Todesfall Ihres Nachbarn. Wissen Sie etwas darüber?”

»Nein, ich wusste nicht einmal, dass Nachbarn sterben können.«

Kurz überkommt mich das Gefühl, dass ich vielleicht ein bisschen überziehe. Das tue ich mit einem lauten »Pah!« ab, das sich für Menschen außerhalb meiner Gedankenwelt jedoch eventuell nicht sofort erschließt.

»Aber Sie sind sicher nicht hier, um mit mir über den Tod meines Nachbarn zu reden«, lenke ich schnell ab.

»Ääh, doch …«, entgegnet der Polizist und sieht mich fragend an.

»Oh, dann habe ich mich ververmutet. Und schauen Sie nicht so fragend. Wenn Sie eine Frage haben, stellen Sie sie.«

»Haben Sie ein Alibi für die Tatzeit?«

»Nein.«

»Wollen Sie eins?«

»Gern. Haben Sie eins für mich?«

»Fünftausend Euro, und wir behaupten, dass wir die ganze Nacht bei Ihnen gewesen sind.«

»Hm. Aber ich habe mit dem Mord wirklich nichts zu tun.«

»Sie wären nicht der Erste, dem wir heimlich Beweise unterjubeln. Lassen Sie uns mal in Ihre Wohnung?«

»Nein, Sie wollen mir doch nur Beweise unterjubeln. Haben Sie einen Unterjubelungsbefehl?«

»Ja.«

»Dann kommen Sie bitte herein.«

»Verdächtig, dass Sie sich so anstellen. Haben Sie etwas zu verbergen?«

»Mir gefällt nicht, dass Sie mir Beweise unterjubeln wollen.«

»Jetzt stellen Sie sich doch nicht so an, Herrgott. Bevor wir den Täter gar nicht fassen, nehmen wir lieber den Falschen fest.«

»Das kann ich gut verstehen. Eine Frage noch. Wenn Sie nachher gehen: Bekommen Polizisten eigentlich Trinkgeld?«

»Ja, und zwar nicht zu knapp.«

»Apropos: Was passiert denn eigentlich mit dem Balkon meines Nachbarn? Der ist doch jetzt ganz allein.«

»Das ist ja das Mysteriöse: Der Balkon ist spurlos verschwunden.«

»Was? Haben Sie ihn in Verdacht, den Mord begangen zu haben? Ich habe dem ja nie getraut, der liegt jetzt bestimmt an irgendeinem Strand und genießt seine Freiheit. Dieser Verbrecher. Ständig habe ich meinen Nachbarn gewarnt. Ständig!« Meine Stimme wird zu einem hysterischen Quieken.

»Nein, wir glauben, der Balkon wurde vom Täter entwendet.«

»Ach so.« Ich beruhige mich. »Ein Raubmord, um einen Balkon zu stehlen? Wer macht denn so was?«

»Nur einer. Deshalb sind wir ja hier.«

Ich lächle nervös. Der Polizist fügt hinzu:

»Schönen Balkon haben Sie da. Vielleicht ein bisschen zu hoch angebracht, was?«

»Ja, ist mir zugelaufen. Aber er fremdelt noch ein bisschen.«

»Das muss schwierig für Sie sein.«

»Ach, wissen Sie, das Vertrauen eines Balkons muss man sich mühsam erarbeiten. Dann hat man aber viel Spaß mit ihm.« Der Polizist nickt nachdenklich. Dann fragt er:

»Glauben Sie eigentlich an ein Leben nach dem Tod?«

»Nein, warum?«

»Na ja, wir Polizisten verdienen nicht viel, deshalb nehmen wir Zweitjobs an. Ich zum Beispiel arbeite auch als Drücker für die Zeugen Jehovas. Wenn wir schon bei den Leuten zu Hause klingeln, um sie wegen Verbrechen zu befragen, können wir sie auch gleich vom Eintritt in die Religionsgemeinschaft überzeugen. Wo die Tür schon mal offen ist.«

Ich lehne dankend ab, lasse aber seinen Kollegen in die Wohnung, damit er für die Stadtwerke den Stromzähler ablesen kann.

4

Mein Name ist Jan-Uwe Fitz, und ich habe Angst vor Menschen. Vor jedem. Vor Familienmitgliedern wie vor Fremden. Ich ertrage Artgenossen höchstens zehn Minuten lang. Allein die Aussicht, einen Menschen zu treffen, versetzt mich in Panik. Wenn ich allerdings eingeladen werde, dann erscheine ich auch, trotz meiner Ängste. Ich bin aber kein Held. Nur höflich.

Am liebsten werde ich schriftlich eingeladen, denn auf mündliche Einladungen reagiere ich mit einem Angstschrei. Von der Einladung bis zum Tag der Feier bin ich übernervös und panisch und kriege nichts auf die Reihe.

Kaum bin ich auf der Party, bin ich aber auch schon wieder weg. Eben nach zehn Minuten. Weil ich es keine Sekunde länger aushalte. Ich verlasse die Veranstaltung, ohne ein Wort zu sagen, denn wie sollte ich meinem Gastgeber glaubhaft erklären, dass ich es schlicht nicht mehr aushalte? Der wäre doch tödlich verletzt. Ich möchte aber niemanden verletzen. Den Mut, die Wahrheit zu sagen (»Nichts für ungut, Herr Paschulke, ich muss nach Hause, ich piesele mir gerade aus Angst vor den vielen fremden Menschen in die Hose«), bringe ich auch nicht auf. Es bleibt also nur die heimliche Flucht.

Die wenigen Minuten auf der Feier verbringe ich sehr intensiv. Ich stürze in die Wohnung, sage den Gastgebern schnell Hallo, dann geht es auch schon weiter an das Buffet, wo ich so schnell wie möglich so viel wie möglich in mich hineinstopfe.

Dann wird getanzt. Hektisch. Und schon bevor all die anderen loslegen. Schließlich habe ich nicht mehr viel Zeit. Die zehn Minuten ticken unbarmherzig herunter. Zwischendurch unterbreche ich abrupt meinen Tanz und spüre in mich hinein: »Was macht die Menschenangst? Geht’s noch?« Schließlich wird mich die Panik bald lähmen. Aber am besten nicht auf der Tanzfläche, wenn ich es vermeiden kann.

Um Zeit zu sparen, kaue ich das Essen vom Buffet auf der Tanzfläche. Bei meinem Tanzstil malmt mein Kiefer sowieso. So spare ich Energie. Natürlich kann es vorkommen, dass mir bei meinen gewagten Moves Essen aus dem Mund fällt, das ich in der Eile noch nicht hinunterschlucken konnte. Und mein Mund ist ja ziemlich voll. Nur wenn ich gleichzeitig tanze und esse, habe ich für beides Zeit. Nacheinander? Keine Chance. Zehn Minuten sind schnell vorbei. Der Einfachheit halber sollte ich direkt am Buffet tanzen. Aber das traue ich mich einfach nicht. Wie sieht das denn aus? Ich habe schließlich auch meinen Stolz.

Gerade kreise ich noch mit der Hüfte wie der junge John Travolta, da wird die Angst vor anderen Menschen auch schon übermächtig. Jetzt nichts wie raus. Höchste Zeit, heimlich zu verschwinden. Nun stellen Sie sich das mal nicht zu einfach vor, sich »heimlich« aus dem Staub zu machen, wenn Sie gerade noch wild und ausgelassen durch den Raum tanzten und Ihnen dabei Kartoffeln und Chicken Wings aus dem Mund purzelten. Aber ich bin gut. Ich bin ein sozialer Houdini. Ein gesellschaftlicher Entfesselungskünstler. Die Party, von der ich mich nicht heimlich verdrücken kann, muss erst noch gefeiert werden.

Entscheidend ist das richtige Fluchtfahrzeug. Den Taxifahrer, der mich hergefahren hat, habe ich selbstverständlich schon beim Aussteigen gebeten, er möge kurz auf mich warten:

»Ich gehe nur schnell ins Haus, esse, tanze und bin gleich wieder zurück. Lassen Sie den Motor laufen. Wir müssen dann schnell weg.«

Knapp zehn Minuten später stürze ich auch schon aus dem Hauseingang, hetze zum Taxi, reiße die Hintertür auf, springe auf den Rücksitz und befehle: »Los! Fahren Sie!« Das Taxi startet mit quietschenden Reifen.

Oft fragen mich Taxifahrer aufgeregt: »Was haben Sie denn getan? Was Kriminelles? Haben Sie etwas gestohlen?«

»Ja, mich von der Party«, antworte ich dann. »Ohne mich zu verabschieden.«

Damit ist das Gespräch normalerweise beendet, und die Taxifahrer bremsen von 100 auf 50 km/h herunter. Vor kurzem aber hakte ein besonders neugieriger Taxifahrer nach:

»War es so langweilig dort?«

»Nein, aber ich bin gestört. Ich halte es unter Menschen kaum zehn Minuten lang aus. Wenn Sie in zehn Minuten kurz anhalten könnten? Dann gehe ich den Rest zu Fuß.«

»Aber warum sind Sie wie von der Tarantel gestochen aus dem Haus gerannt?«

»Damit mich niemand zurückhält.«

»Warum sollte Sie jemand zurückhalten?«

»Weiß ich nicht«, gestehe ich. Da hat der Taxifahrer den Finger in die Wunde gelegt. »Ist so ein Impuls. Ich laufe immer ganz schnell weg, sobald ich die Tür erreicht habe. Vielleicht eine genetische Disposition.«

»Gehen Sie häufiger auf Partys?«

»Nein. Aber wenn, dann sehr früh nach Hause.«

»Wenn ich etwas zu feiern habe, bin ich froh um jeden Gast, der früher geht. Von mir aus auch gern heimlich. Ich käme nie auf die Idee, dem hinterherzurennen und ihn aufzuhalten.«

»Sie sind kein Maßstab. Taxifahrer sind alle Misanthropen.«

»Sind Sie vielleicht prominent? Oder besonders reich? Möchten die Gastgeber sich womöglich in Ihrem Glanz sonnen? Sind Sie besonders beliebt?«

»Hm … Woran erkennt man das denn?«

»Wenn Sie auf einen Menschen zugehen: Freut der sich?«

»Nicht besonders.«

»Ich bin mir sicher: Niemand holt Sie zurück. Sie können ganz entspannt nach Hause gehen.«

Wir fahren einige Sekunden lang schweigend durch die Nacht.

»Warum sagen Sie Ihren Gastgebern nicht einfach, dass Sie Angst vor Menschen haben – und Schluss. Die haben bestimmt Verständnis und lassen Sie nach Hause gehen. Oder Sie müssen gar nicht erst kommen.«

»Einmal habe ich das tatsächlich getan.«

»Und wie hat der Gastgeber reagiert?«

»Nicht sehr nett. Er hat umgehend die anderen Gäste zusammengetrommelt und mich vor ihnen verhohnepiepelt. Nee, nee. Ich verlasse Partys lieber heimlich. Das kann ich wie kein Zweiter. Eben auf der Party bin ich einfach unter einen Sessel geschlüpft und habe mich langsam zur Tür bewegt.«

»Hat sich niemand gewundert?«

»Ich bin sehr unauffällig gekrochen.«

»Also, wäre ich Gast auf der Party gewesen, hätte ich mir gedacht: ›Was macht denn der Sessel dort? Der wandert ja zur Tür? Steckt da jemand drunter?‹ Dann würde ich ihn anheben und darunterlugen.«

»Ha! Ich treffe natürlich Vorbereitungen. Vor einer Einladung bringe ich die Namen aller Gäste in Erfahrung und sende ihnen anonym Informationsmaterial zu, das die von mir geplanten seltsamen Ereignisse im Rahmen meiner Flucht rational erklärt.«

»Hä?«

»Gestern habe ich allen Gästen des heutigen Abends E-Mails geschickt, in denen von einer deutlichen Zunahme wandernder Sessel die Rede war.«

»Sie betreiben einen ziemlichen Aufwand für zehn Minuten Party.«

»Soll ich meine Flucht etwa dem Zufall überlassen?«

»Trotzdem: Ich würde mich wundern, wenn ein Sessel an mir vorüberzöge.«

»Nicht, wenn Sie vorher gelesen haben, dass das heutzutage völlig normal ist. Die Menschen sind so leicht manipulierbar. Sie nehmen selbst die hanebüchensten Ereignisse schnell als gottgegeben hin, solange man es ihnen nur geschickt genug verkauft. Schauen Sie sich zum Beispiel mal einen Reißverschluss an. Das Ding ist ein gottverdammtes Wunder. Aber niemand wundert sich mehr darüber. Weil er mittlerweile gang und gäbe ist. Oder ein Regenschirm. Ein Regenschirm ist auch ein Wunder.«

»Wieso ist ein Regenschirm ein Wunder?«

»Sie haben recht. Ein Regenschirm ist kein Wunder«, räume ich ein.

Wir schweigen wieder eine Weile.

»Und wenn jemand die E-Mail nicht gelesen hat?«, wendet er ein.

»Irgendjemand auf der Party hat sie garantiert gelesen. Und der wird alle anderen überzeugen.«

»Vielleicht haben Sie recht«, grübelt er. »Ich muss mir das gerade mal vorstellen: Ich stehe also mit einem anderen Gast auf einer Party. Ein Sessel zieht an uns vorüber. Ich wundere mich und frage meinen Gesprächspartner ›Zieht da gerade ein Sessel an uns vorüber?‹, und der beruhigt mich mit ›Ach das? Ist mir gar nicht mehr aufgefallen. Davon liest man doch heutzutage ständig.‹ Hm, Sie haben recht. Dann würde ich nicht mehr neugierig daruntergucken.«

»Und wenn ich mit dem Sessel an der Tür angekommen bin, krabble ich schnell hervor und renne aus der Wohnung.«

»Aber ich bleibe dabei: Sie sind ein seltsamer Gast.«

»Und Sie sind ein beknackter Taxifahrer. Man kann es sich eben nicht aussuchen«, entgegne ich, beleidigt ob des geringen Verständnisses, das der Mann für mich aufbringt.

»Bringen Sie denn ein Geschenk mit, wenn Sie nur so kurz auf der Party bleiben?«, lässt er nicht locker.

»Natürlich. Das gehört sich doch so. Meine Kinderstube ist tiptop.«

»Wollen Sie hören, was ich über Sie denke?«

»Wenn es positiv ist …«

»Sie haben nicht mehr alle Latten am Zaun. In zehn Minuten haben Sie den Wert Ihres Gastgeschenks auf keinen Fall reingesoffen und reingefressen. Und dann noch das Taxi. Was Sie Ihre Höflichkeit für ein Geld kostet.«

»Was soll ich denn machen?«, gebe ich ärgerlich zurück. »Ich kann mir meine Störungen ja nicht aussuchen, nicht wahr? Und die behandeln zu lassen, kommt mich noch teurer. Übrigens, wenn Sie hoffen, dass Sie wegen Ihres Interesses an meiner Person mehr Trinkgeld bekommen: Vergessen Sie es. Ich gebe nie Trinkgeld. Sie versaufen das nur und sind eine Gefahr für die anderen Verkehrsteilnehmer.«

Den Rest der Fahrt sagt der Taxifahrer kein Wort mehr. Ich dresche noch die eine oder andere Phrase wie »Ja, ja.« oder »Und sonst so?«, aber er ignoriert mich konsequent. Was nicht sonderlich schlimm ist, denn meine zehn Minuten sind sowieso vorbei. Ich bitte ihn, anzuhalten, gebe ihm kein Trinkgeld und gehe die letzten zwölf Kilometer zu Fuß.

5

Mein Verhalten hat einen Vorteil: Es spricht sich herum. Ich werde deshalb nur noch selten eingeladen. Eigentlich überhaupt nicht mehr. Mittlerweile verbringe ich die meiste Zeit in meiner Wohnung. Wenn ich vor die Tür gehe, dann nur, um den Müll hinunterzubringen. Ich will nicht angeben, aber ich glaube, es gibt keinen Deutschen unter vierzig, der in den letzten zwanzig Jahren weniger Menschen getroffen hat als ich. Manchmal nenne ich mich selbst liebevoll Kaspar Hauser light.

Aber sogar jemand wie ich kann den Kontakt zu anderen Menschen nicht komplett vermeiden. Es kommt sogar vor, dass ich berührt werde. Um das klarzustellen: Ich habe nichts gegen Berührungen – solange sie nur früh genug angekündigt werden und ich mich dementsprechend auf sie einstellen kann. Eine halbe Stunde vorher ist optimal. Und dann alle fünf Minuten eine Erinnerung. Sonst vergesse ich es am Ende wieder. Man hat ja heutzutage so viel um die Ohren.

»Herr Fitz, ich werde Ihnen in dreißig Minuten über die Wange streicheln.«

»Herr Fitz, Sie erinnern sich, dass ich Ihnen in fünfundzwanzig Minuten über die Wange streicheln werde?«

»Herr Fitz, Sie erinnern sich, dass ich Ihnen in zwanzig Minuten über die Wange streicheln werde?«

Und so weiter.

Fünf Minuten vor der Berührung bitte ich den potentiellen Anfasser, in einen minütlichen Erinnerungstakt zu wechseln. Und eine Minute vorher schließlich zu einem klassischen Countdown. Nun bitte im Sekundentakt von 60 auf 0 herunterzählen. Dann bin ich ready for Berührung, wie der Engländer sagt.

Für jemanden, der mich wirklich anfassen möchte, sollten dreißig Minuten Vorlaufzeit auch nicht zu viel verlangt sein. Wenn es der Person wirklich ein Herzensbedürfnis ist und nicht nur eine bedeutungslos dahingehuschte Oberflächlichkeit, kann ich doch erwarten, dass sie eine halbe Stunde ihrer Zeit erübrigt. Schließlich bin ich ja nicht derjenige, der hier jemanden anfassen möchte. Von mir aus können wir das mit der Berührung auch lassen.

Zugegeben, es gab Zeiten, da habe ich es mit den Berührungen lockerer genommen. Da habe auch ich mich nach Körperkontakt gesehnt und meinen Kopf in einer Warteschlange schon einmal schnurrend an die Schulter oder die Wange des Kunden vor mir gelehnt. Aber man verändert sich im Laufe seines Lebens. Heute brauche ich das nicht mehr. Außerdem: Um »nur mal eben so« angefasst zu werden, empfinde ich bei einer Berührung einfach zu viel. Selbst der kürzeste Körperkontakt löst ein Feuerwerk an Emotionen in mir aus. Dem hat der Berührende Rechnung zu tragen, indem er mir meine 30 Minuten Vorlauf gewährt.

Nun leben wir leider in schnelllebigen Zeiten. Nicht jeder ist bereit, eine halbe Stunde seiner Zeit für eine kurze Berührung zu opfern. Gerade wenn er einem lediglich die Hand schütteln möchte. Sonderlich verlockend ist es ohnehin nicht, mich anzufassen. So selbstkritisch bin ich. Ich kann verstehen, wenn der eine oder andere sagt: »Dreißig Minuten, bevor ich Ihnen Guten Tag sagen darf? Nein, danke. Dann haben Sie eben keinen guten Tag.«

Natürlich kommt es immer mal wieder vor, dass ein nichtsahnender Mensch Anstalten macht, mich kurz zu berühren. Weil er nichts von meiner speziellen touching policy weiß. Wenn ich das früh genug bemerke, ducke ich mich blitzschnell weg. Wie oft haben alte Damen, die mal eben meine Wange streicheln wollten, ins Leere gefasst. Das ist interessant: Besonders alte Menschen gehen über meine Bitte »Berühren Sie mich bitte erst in 30 Minuten. Aaab … jetzt« einfach hinweg. Ich kann es sogar verstehen: Vielleicht haben Sie Angst, in den dreißig Minuten zu sterben. Und dann haben Sie mich vorher nicht mehr gestreichelt.

Die halbe Stunde Gewöhnungszeit dient nicht nur meinem Wohl. Auch der Berührende selbst hat etwas davon. Denn werde ich überraschend berührt, zucke ich zusammen, als sei mir gerade eine Pershing in den Schritt gefahren. Damit kann nicht jeder umgehen, und viele empfinden es als Abwertung ihrer Person. Außerdem verliebe ich mich augenblicklich in jede Person, die mich berührt. Nur ein kurzer Körperkontakt, und mein Herz entbrennt in Leidenschaft. Das war schon immer so. Auch bei Bewerbungsgesprächen. Mein potenzieller Arbeitgeber gibt mir die Hand – und prompt blicke ich ihm verliebt in die Augen. Den Rest des Gesprächs können wir vergessen: Ich verschütte Kaffee, stottere und kichere albern. Verliebte verhalten sich nun einmal bescheuert. In meinem Fall so bescheuert, dass ich auf diese Art nie im Leben einen Job finden werde.

Haushaltshandschuhe sind eine Lösung. Sie schützen mich vor der direkten Berührung mit menschlicher Haut. Ich trage sie sogar beim Duschen, denn ich fasse auch mich selbst sehr ungern an. Beim Einseifen lässt es sich eben nur nicht immer vermeiden. Natürlich könnte ich das Duschgel auf dem Badezimmerboden ausgießen und mich darin wälzen. Dann wäre Einschäumen auch ohne Hände möglich. Allerdings … obwohl, warum eigentlich nicht?

Aber geben Sie einem Personalchef mal Ihre behaushaltshandschuhte Hand. Der stellt Sie erst recht nicht ein. Auch wenn Sie den Rest des Gesprächs über einen professionellen Eindruck machen.

Im Sommer in der U-Bahn ist besondere Vorsicht geboten. Wie leicht stößt man mit seinem nackten Knie (ich trage nun mal gern Shorts) gegen ein anderes nacktes Knie. Daher weise ich die anderen Fahrgäste schon beim Einsteigen darauf hin: »Bitte berühren Sie mich nicht. Sonst verliebe ich mich in Sie.« Hilft. Die meisten Passagiere achten peinlich genau darauf, jeglichen Kontakt mit mir zu vermeiden. Steigt jemand zu, vergesse ich allerdings schon einmal, ihn zu warnen.

»Hupps! Entschuldigung.«

»Ach, Scheißdreck. Jetzt habe ich mich in Sie verliebt. Können Sie nicht aufpassen?«