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Kathrin Hanke / Claudia Kröger

Heideglut

Kriminalroman

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Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2016

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Visions-AD – Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4970-3

Widmung

Für Vincent

Kathrin Hanke

Für Wolfgang und Edda

Claudia Kröger

Prolog:

Samstag, 4. April 2015

23:37 Uhr

Er starrte in die Flammen. Er hatte es nicht gewollt, doch nun war es passiert. Es war ein Missgeschick gewesen, eine Unachtsamkeit, Zufall. Oder vielleicht auch Schicksal. Je nachdem, ob man daran glaubte. Er hatte es bisher nicht getan. Dafür war sein erstes Leben zu mies gewesen und sein zweites in jedem Schritt von ihm vorhergeplant. Konnte ja sein, dass der Spruch »Das Leben ist wie ein Bumerang, irgendwann kommt alles zurück« doch stimmte. Er musste grinsen, und wenn ihn jemand in diesem Moment beobachtet hätte, hätte er sich bei dem Anblick gegruselt. Es war ein diabolisches, fratzenhaftes Grinsen, was nicht nur am Feuer lag, das auf seinem Gesicht auf diese ganz eigentümliche Art Licht und Schatten tanzen ließ. Er fühlte sich unerwartet gut. Irgendwie befreit. Von einem Schmerz befreit. Keinem großen, kurzen und heftigen Schmerz, sondern von einem eher kleineren, dafür immerwährenden. Ein Schmerz, wie ihn ein winziger Splitter verursacht, der sich nicht mit der Pinzette oder einer Nadel erwischen lässt. Einer, der sich Stück für Stück immer weiter ins Fleisch schiebt, bis es ihn hinaus zu eitern beginnt. Die Flammen, die er zu Beginn gar nicht beabsichtigt hatte, waren sein Eiter. Seine ganz persönliche Wunde hatte sich sprichwörtlich entzündet. Wieder musste er grinsen. Der Vergleich gefiel ihm. Er hatte das Gefühl, für ihn habe gerade ein drittes Leben begonnen, obwohl er es gar nicht geplant hatte.

Als es ihm zu heiß wurde, trat er langsam drei Schritte zurück. Dann drehte er sich ganz von den Flammen weg, die inzwischen auch die umliegenden Bäume erfasst hatten, stieg in sein wenige Meter entfernt stehendes Auto und fuhr davon. Nach mehreren Regentagen war es heute ausnahmsweise trocken, und er musste seine Scheibenwischer nicht anstellen.

Gedicht

Die Glocken läuten das Ostern ein

In allen Enden und Landen

und fromme Herzen jubeln darein!

Der Lenz ist wieder entstanden.

Es atmet der Wald, die Erde treibt

und kleidet sich lachend mit Moose

und aus den schönen Augen reibt

den Schlaf sich erwachend die Rose.

Das schaffende Licht, es flammt und kreist

und sprengt die fesselnde Hülle

und über den Wassern schwebt der Geist

unendliche Liebesfülle.

(Am Ostersonntag, Adolf Böttger)

1. Kapitel:

Ostersonntag, 5. April 2015

00:08 Uhr

Katharina von Hagemann fuhr nicht über die Autobahn nach Lüneburg zurück, sondern über die kleinen Ortschaften. Sie hatte ein Glas billigen Sekt zu viel getrunken und wollte eine Begegnung mit einer Streife vermeiden. Natürlich wusste sie als Kommissarin, dass sie besser nicht mehr hätte fahren sollen. Und sie wusste auch, dass ihr ebenso auf der Landstraße eine Streife begegnen konnte. Aber hier konnte sie wenigstens langsamer fahren und wurde nicht von anderen nächtlichen Heimfahrern mit der Lichthupe bedrängt.

Katharina pustete sich eine rote Locke aus dem Gesicht, warf einen kurzen Blick auf den Sitz neben sich und fühlte, wie ihr warm ums Herz wurde. Sie nahm ihre rechte Hand vom Lenkrad und legte sie sanft auf das Knie ihres Beifahrers. Bene schlief tief und fest neben ihr und kommentierte ihre Berührung mit einem kleinen Aufschnarchen. Katharina musste lächeln. Wenn sie ihm das erzählen würde, würde er es wie immer vehement abstreiten. Er wollte einfach nicht wahrhaben, dass er schnarchte. Er tat es auch nicht regelmäßig. Nur wenn er, was recht selten vorkam, Alkohol getrunken hatte. Als Barmann, der nahezu täglich mit alkoholischen Getränken zu tun hatte und nicht weniger häufig mit betrunkenen Gästen, gehörte es für ihn zu seinem Berufsethos, selbst keine harten Spirituosen zu sich zu nehmen. Das hieß nicht, dass Bene gänzlich auf Alkohol verzichtete. Doch trank er sowieso nur, wenn er privat unterwegs war, und hier ausschließlich mit Menschen, denen er vertraute. Als er jünger war, hatte er wohl häufiger einmal einen über den Durst getrunken – sehr viel wusste Katharina nicht über diesen Lebensabschnitt von Bene, da sie ihn erst vor etwa vier Jahren kennengelernt hatte und er nicht gern über seine Vergangenheit sprach. Sie hatte hier und da etwas aufgeschnappt, und ganz zu Beginn ihrer Zeit in Lüneburg hatte Benes Zwillingsbruder Benjamin Rehder, der gleichzeitig ihr Chef war, ihr in groben Zügen davon berichtet, aus Sorge, dass sie aus anderen Ecken falsche Informationen bekam. Auf jeden Fall wusste sie, dass Bene damals auf die schiefe Bahn geraten war, und er es in erster Linie Benjamin zu verdanken hatte, dass er nicht hinter Schwedischen Gardinen gelandet war.

Jetzt kamen sie beide gerade aus Hamburg, der Stadt, in der Katharina aufgewachsen war und die sie dennoch nicht als Heimatstadt empfand, was nicht zuletzt an dem schlechten Verhältnis zu ihren Eltern, insbesondere zu ihrem Vater, lag. Ihre Heimat war inzwischen das nur ungefähr 50 Kilometer von Hamburg entfernte Lüneburg, in das sie als Kind mit ihren Eltern manchmal Ausflüge gemacht hatte. Damals hatte sie die Heidestadt mit ihrem mittelalterlichen Stadtkern als friedvoll empfunden, wenn nicht sogar als langweilig beschaulich – heute wusste sie als Kommissarin, dass auch Lüneburg seine Abgründe hatte, die sie immer wieder vor Herausforderungen stellten, und alles andere als langweilig waren. Im Gegenteil waren sie oftmals sogar ziemlich nervenaufreibend. Und dennoch: Obwohl sie erst seit vier Jahren in Lüneburg lebte – auf den Tag genau so lange, wie sie auch Bene kannte, schoss es ihr durch den Kopf – fühlte sie sich in dem Heideort bereits tief verwurzelt und der Stadt mehr verbunden, als der, in der sie geboren und aufgewachsen war. Das lag in erster Linie an den Menschen, die sie hier kennengelernt hatte und die zu Freunden geworden waren. Aber es lag auch an Lüneburg selbst, der kleinen alten Hansestadt, die inzwischen eine angesehene Universitätsstadt war und trotz ihrer langen, bewegten Geschichte so pulsierend und jung geblieben war. Katharina hatte einfach das Gefühl, dass die Stadt selbst sie verstand. Sie konnte es nicht besser als mit diesen Worten beschreiben, aber Lüneburg passte sich, so kam es ihr vor, jederzeit an ihre persönlichen Launen an. Hatte sie gute Laune und wollte unter Menschen sein, ging sie einfach in der Innenstadt ein wenig flanieren oder setzte sich in eines der unzähligen Cafés. Hatte sie schlechte Laune blieb sie in ihrer kuscheligen Giebelhauswohnung. War sie nachdenklich gestimmt, setzte sie sich an die Ilmenau und schaute dem steten Fließen des Flusses zu. War ihr nach Kultur, fand sich immer irgendwo etwas Interessantes, und für weite Spaziergänge lud die nähere Umgebung sowieso jederzeit ein. Aus all diesen Gründen hatte Katharina sich auch anfänglich gesträubt, zum Osterfeuer an den Hamburger Elbstrand zu fahren. Bene hatte sie jedoch am Ende überredet, da seit diesem Jahr in Lüneburg eine neue Regelung für Osterfeuer galt, die unter anderem eine bestimmte Feuergröße vorschrieb, die die Feuer im Vergleich zu den letzten Jahren auf die Hälfte ihrer Größe reduzierten.

»Da kann ich mich auch alleine mit dem Feuerkorb auf irgendeinen Parkplatz stellen«, hatte Bene spöttisch gesagt, und weil es Katharina letztlich nicht wirklich wichtig gewesen war, hatte sie zugestimmt, mit ihm nach Hamburg zu fahren. Den Sekt hatten sie an einer kleinen Bude ausgeschenkt bekommen, und als Katharina jetzt durch die Dunkelheit fuhr, merkte sie einen aufsteigenden Kopfschmerz. So selten, wie sie Sekt trank, so wenig vertrug sie ihn. Sie durfte auf keinen Fall vergessen, vor dem Schlafengehen noch ein Aspirin zu nehmen, um einen Kater am nächsten Morgen zu verhindern.

Katharina gähnte. Sie fuhr gerade durch Vierhöfen. Zum Glück war sie gleich zu Hause und konnte schlafen. Sollte sie Bene noch kurz in der Grapengießerstraße absetzen? Er hatte gestern schon bei ihr übernachtet, und normalerweise vermieden sie es, zweimal hintereinander die Nacht miteinander zu verbringen. Warum eigentlich?, fragte sich Katharina, denn darüber gesprochen hatten sie nie. Es hatte sich einfach so eingebürgert. Dann würde sie das heute ändern. Sie hatte schlicht keine Lust, noch bei Bene rumzufahren, um ihn abzusetzen. Außerdem war es nach so einem netten Abend wie diesem schön, nebeneinander einzuschlafen. Katharina musste lächeln. Vor ein paar Monaten hatte sie noch ganz anders darüber gedacht. Da hatten sie eine unverbindliche, mehr oder minder auf Sex reduzierte Beziehung geführt. Doch dann hatte sie einen Fall zu klären gehabt, der nicht nur ihr, sondern auch Bene hart an die Nieren gegangen war: Benjamin Rehder war entführt worden, und sie beide hatten nicht gewusst, ob sie ihn je lebend wiedersehen würden. Noch jetzt musste Katharina schlucken, wenn sie daran dachte – sie hätte nicht nur ihren Chef verloren und Bene seinen Bruder, sondern beide auch einen guten Freund.

Katharina wurde aus ihren Gedanken gerissen. Ungefähr dort, wo ihrem Gefühl nach das Waldbad Westergellersen liegen musste, erregte ein hochflackerndes Licht ihre Aufmerksamkeit. Sie runzelte die Stirn. Natürlich konnte das noch eines der unzähligen Osterfeuer im Landkreis sein, aber die Flammen schienen ihr sehr hoch angesichts der neuen Begrenzung der Osterfeuer. Oder war das außerhalb der Stadt Lüneburg anders geregelt? Katharina wusste es nicht, und im Grunde war es ihr auch egal. Es war nicht ihre Aufgabe, dort nach dem Rechten zu schauen und höchstwahrscheinlich einige feucht-fröhlich feiernde Jugendliche aufzuscheuchen. Sie musste erneut gähnen und konzentrierte sich wieder auf die Straße.

09:21 Uhr

Benjamin Rehder schimpfte leise vor sich hin. Seit zehn Minuten kämpfte er nun bereits mit Geschenkpapier, Tesafilmabroller und Schleifenband und war mit dem Ergebnis dennoch unzufrieden. Zum wiederholten Male ärgerte er sich, dass er das Geschenk für seine elfjährige Nichte Leonie nicht direkt im Laden hatte einpacken lassen. Nächstes Mal würde er das tun, oder aber etwas schenken, was sich einfacher verpacken ließ, einen Spielekarton zum Beispiel. Gleichzeitig wusste er jedoch, dass es ihm auch beim nächsten Mal nur darauf ankommen würde, was seine Nichte sich wünschte, egal wie unförmig es war. Er liebte Leonie, als wäre sie seine eigene Tochter, und konnte ihr keinen Wunsch abschlagen, sehr zum Leidwesen von Juliane Lippert, Leonies Mutter. Juliane, die von allen nur Julie genannt wurde, war der Meinung, dass Leonie von den Großeltern, also Bens und Benes Eltern, bereits genug verwöhnt wurde. Und seit Bene vor vier Jahren unerwartet nach Lüneburg zurückgekehrt war, um festzustellen, dass er Vater einer damals bereits achtjährigen Tochter war, hatte auch er keine Gelegenheit ausgelassen, seinen kleinen Engel zu beschenken und glücklich zu machen. Ben lächelte bei dem Gedanken an seinen Zwillingsbruder. Nachdem Bene Jahre zuvor Lüneburg Hals über Kopf verlassen hatte, nicht ahnend, dass Julie von ihm schwanger war, hatte Ben ein Stück weit nicht die Vater- aber zumindest die Beschützerrolle für Julie und ihre Tochter übernommen. Er war nicht nur Leonies leiblicher Onkel, sondern zudem noch ihr Pate. Dass Bene sich nach seiner Rückkehr und nachdem er den ersten Schock über die unverhoffte Vaterschaft verdaut hatte, so gut in das Dasein des fürsorglichen Papas einfinden würde, hatte niemand vermutet. Auch wenn aus ihm und Julie nicht wieder ein Paar geworden war, kümmerten sie sich inzwischen beide in harmonischer Abstimmung um das Mädchen. Leonie wiederum nahm die viele Liebe, die ihr entgegengebracht wurde, gern entgegen und gab sie ebenso zurück. Sie war nicht nur ein hübsches Mädchen, sondern obendrein ziemlich aufgeweckt, und vor neuen Freundinnen machte sie sich gern einen Spaß daraus, dass es »ihren Vater gleich zweimal gab«, wie sie immer dann lachend betonte. Auch die Tatsache, dass Vater und Onkel fast den gleichen Namen hatten, fand sie urkomisch. Das konnte allerdings niemand so recht nachvollziehen, am allerwenigsten Benjamin und Benedict Rehder, die diese Namensgleichheit ziemlich nervig fanden und ihren Eltern schon immer Vorwürfe deswegen gemacht hatten. Für das gleiche Aussehen der Zwillinge konnte schließlich keiner etwas, für die Vornamen jedoch schon. »Aber Benjamin hat ein kurzes E und Benedict ein langes, ich weiß also gar nicht, was ihr habt«, wehrte ihre Mutter, Sigrid Rehder, jedoch stets ab, und die Söhne beließen es meistens mit einem Augenrollen dabei, denn ändern konnten sie es jetzt sowieso nicht mehr.

Heute hatte Julie, die nicht nur eine enge Freundin von Ben, sondern, wie es der Zufall wollte, auch noch die Nachbarin und mittlerweile gute Freundin von Katharina war, zum Osterbrunch eingeladen. Ben freute sich darauf. Er war nicht religiös, deswegen ging es ihm nicht darum, dass Ostern ein kirchliches Fest war. Er fand Ostern schlicht und ergreifend deutlich entspannter als Weihnachten, und seit seinem letzten schaurigen Weihnachtsfest, das er beinahe nicht überlebt hätte, sowieso. Doch Ostern hatte für ihn auch etwas mit dem Beginn der Sommermonate zu tun, der Zeit, in der alles neu zum Leben erwachte und die Umgebung immer grüner wurde. Außerdem würden Katharina und Bene auch dort sein sowie sein Freund Alexander. Das wunderte ihn zwar ein wenig, da Alex kein Familienmitglied war, aber vielleicht hatte Julie einfach freundlich sein wollen. Schließlich war Alex schon seit Schulzeiten Bens bester Freund, und als Alex neulich seinen Geburtstag etwas größer gefeiert hatte, hatte er Julie ebenfalls eingeladen. Nur seine und Benes Eltern würden heute fehlen. Sie genossen mal wieder ihr Rentnerdasein und verbrachten die Osterfeiertage auf Island.

20 Minuten später und etwas zu früh stand Ben vor der Tür zu dem Mehrfamilienhaus, in dem Julie mit Leonie wohnte, und klingelte. Der Summer ertönte sofort, und während er noch das Treppenhaus betrat, wurde bereits die Tür zu Julies Wohnung stürmisch aufgerissen. Leonie flog ihm freudig entgegen, als er oben ankam. »Hallo, Ben! Toll, dass du da bist!«

»Klar«, antwortete Ben grinsend und gab seiner Nichte, die für ihr Alter recht groß und nicht mehr viel kleiner war als er selbst, einen Kuss. »Ich muss doch schließlich Ostereier für meine Lieblingsnichte verstecken.«

»Haha«, antwortete Leonie ein wenig entrüstet, »für so einen Babykram bin ich ja nun langsam echt zu alt.«

»Ach ja, stimmt! Wahrscheinlich bist du also auch zu alt für dein Ostergeschenk. Das kann ich ja dann jemand anderem schenken, zum Beispiel …« Ben kam nicht dazu, den Satz zu vollenden, denn Leonies vor Vorfreude strahlende Augen hatten längst das große unförmige Paket entdeckt, das er hinter seinem Rücken in einer Tüte verborgen hielt, und nach dem sie jetzt griff. Er reichte es Leonie und sah ihr lächelnd hinterher, als sie damit in Richtung Wohnzimmer verschwand. Ben trat in die Wohnung und ging auf die Küche zu, wo er Julie vermutete. Außer ihm war sicher noch niemand da, weil es noch früh war. Als er die Küche betrat, sahen ihm jedoch vier Augen entgegen. Julie stand wie erwartet am Herd, und direkt daneben, in Bens Augen sehr dicht, stand Alexander.

»Hi!«, begrüßte sein ältester Freund ihn, trat auf Ben zu und nahm ihn in den Arm. Ben erwiderte die Geste, schlug Alexander freundschaftlich auf die Schulter und sah dann zu Julie. Täuschte er sich oder hatte Julie etwas betreten dreingeschaut? So, als hätte er sie bei irgendetwas ertappt? Er verwarf den Gedanken, nahm sie in den Arm und sagte fröhlich: »Hallo, Julie! Vielen Dank für die Einladung, und Fröhliche Ostern! Wenn es so schmeckt, wie es jetzt schon duftet, dann wird das hier wieder einmal ein Festmahl!«

»Schmeichler«, lächelte Julie und gab Ben einen Kuss auf die Wange. »Schön, dass du da bist!« Sie warf einen Blick auf die Küchenuhr. »Bene und Katharina werden bestimmt auch gleich rüberkommen, denn wenn ich mich nicht täusche, ist Bene schon bei ihr – oder immer noch«, fügte sie mit einem verständnisvollen Lächeln hinzu.

Die drei Erwachsenen gingen ins Wohnzimmer, wo Leonie auf dem Sofa saß, neben sich das große Paket von Ben. Gespannt sah sie ihre Mutter an. »Darf ich schon auspacken, Mama?«

Julie lächelte. »Na mach schon, Süße«, sagte sie. »Ist ja schließlich nicht Weihnachten, wo wir eine feierliche gemeinsame Bescherung machen.« An Ben gewandt sagte sie: »Etwas kleiner hätte es auch getan, Ben. Es ist Ostern, nicht Weihnachten und Geburtstag zusammen.«

Ben zuckte nur mit den Achseln. »Lass mich ihr doch eine Freude machen, ich hab schließlich nur diese eine Nichte.«

»Noch zumindest«, grinste Alexander. »Man weiß ja nie …« Ben wusste nicht recht, was er darauf erwidern sollte. Er hatte sich zwar längst damit abgefunden, dass seine beste Mitarbeiterin und sein Zwillingsbruder eine Beziehung führten, aber das enge Verhältnis der beiden in den letzten Monaten war dann doch etwas anderes als die lose Geschichte in den Jahren davor. Die Vorstellung, Bene und Katharina könnten eine eigene Familie gründen … Das Klingeln seines Handys riss Ben aus seinen Gedanken, und er war nicht unglücklich, dass ihm dadurch eine Antwort auf Alex’ Bemerkung erspart blieb. Als er die Nummer auf dem Display sah, stöhnte er jedoch – es war seine Dienststelle. Mit dem Handy am Ohr verschwand er in Richtung Flur. Als er zwei Minuten später wieder das Wohnzimmer betrat, sah er Julie entschuldigend an.

»Sag, dass das nicht wahr ist«, bedauerte Julie. »Du musst jetzt nicht schon wieder los, oder?«

»Doch, ich fürchte ja. Und so wie es aussieht, muss ich dir auch Katharina entführen, bevor sie überhaupt hier ist – Tobi ist im Urlaub, und wir haben einen Leichenfund, das möchte ich nicht mal eben schnell allein abwickeln. Es tut mir wirklich leid, das weißt du …«

Leonie sah ihn an, und ihr Blick spiegelte Verärgerung und Enttäuschung wider. »Och nö. Eigentlich finde ich es ja ganz cool, dass mein Onkel bei der Polizei ist, aber an so Tagen wie heute ist das einfach nur doof. Dann mach ich dein Geschenk jetzt doch noch nicht auf. Du versprichst, dass du später noch mal herkommst, und dann packe ich es aus. Versprichst du, dass du nachher wiederkommst?« Ben lächelte seine Nichte an. »Versprochen! Ich weiß aber nicht, wann das sein wird.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Okay, ich muss echt los. Sei nicht böse, Julie, ich hoffe, es dauert nicht lange, und dann komme ich auf jeden Fall mit Katharina zusammen wieder her.« Sein schlechtes Gewissen stand ihm so deutlich ins Gesicht geschrieben wie Julie der Verdruss. »Wenn ich darf«, setzte er hinzu.

Julies Miene entspannte sich, und sie grinste. »Hau schon ab, Herr Hauptkommissar. Wir kennen das ja schließlich von dir. Und wenn du nachher nicht kommst, bekommst du richtig Ärger, das verspreche ich dir!« In diesem Moment klingelte es an der Tür. Ben öffnete sie, sah in die strahlenden Gesichter von Katharina und seinem Zwillingsbruder und hatte nun endgültig ein mieses Gefühl – jetzt würde er den beiden auch noch den gemeinsam geplanten Tag verderben. »Tut mir leid, Katharina«, sagte er knapp, »schnapp dir eine Jacke – wir müssen los.«

Zitat

Ein dreifaches Gut-Schlauch!

(Schlachtruf der Ortsfeuerwehr Lüneburg-Oedeme)

2. Kapitel:

Ostermontag, 6. April 2015

10:17 Uhr

Benjamin Rehder saß an seinem Schreibtisch im Büro und blätterte seine Notizen vom Vortag durch. Viel hatte der Besuch des Tatorts gestern nicht ergeben. Bisher wussten sie nicht einmal, ob es wirklich ein Tatort war. Die Feuerwehr war zwar relativ sicher, dass es sich bei dem Feuer auf der kleinen Lichtung in dem Waldstück bei Westergellersen um kein natürliches handelte, sondern ging von Fahrlässigkeit oder sogar mutwilliger Brandstiftung aus, doch auch das musste noch nachgewiesen werden. Die Tatsache, dass man noch während der umfangreichen Löscharbeiten einen verkohlten Leichnam im mutmaßlichen Brandherd entdeckt hatte, verstärkte die Vermutung auf Brandstiftung, aber noch konnte niemand sagen, ob es sich bei der Leiche um eine vorsätzliche Ermordung oder um ein überraschtes Opfer des Feuers handelte. Vielleicht sogar um den Brandstifter selber? Zum jetzigen Zeitpunkt gab es weit mehr offene Fragen als klare Ergebnisse – bis auf Reifenspuren, etwas weiter von der Brandstelle entfernt, die jedoch zum Teil durch den Feuerwehreinsatz zerstört worden waren, hatten sie bisher nichts gefunden. Aus diesem Grund hatte Ben sich heute mit Katharina im Büro verabredet, obwohl damit auch der zweite Osterfeiertag dem Job zum Opfer fiel.

Sie hatten gestern beide länger am Fundort der Leiche zugebracht, als gedacht. Nicht, weil es schon so viel zu ermitteln gegeben hätte, sondern eher, weil sie lange warten mussten, bis sie ihn überhaupt hatten sichten können. Es war vertane Zeit gewesen, und Ben hatte sich darüber sehr geärgert, denn sein Versprechen Leonie gegenüber, später noch einmal vorbeizukommen, hatte er nicht halten können. Als sie die Fundstelle endlich begutachtet hatten, war es schon Nachmittag gewesen. Danach hatte Katharina ihn nicht wie geplant wieder mit zurück in die Münzstraße genommen, in der sie wie auch Julie und Leonie wohnte, sondern hatte ihn zu seinem Wagen gebracht, den er auf dem Kommissariatsparkplatz abgestellt hatte. Die Münzstraße lag in der Innenstadt, in der man nur selten einen freien Parkplatz ergattern konnte. Zumindest nicht, wenn man wie Ben, der weiter außerhalb im Stadtteil Ochtmissen wohnte, keinen Anwohnerparkausweis hatte. Natürlich hätte er seinen Wagen auch in einem der Parkhäuser abstellen können – eines war sogar direkt bei der Münzstraße –, doch das Geld konnte er sich sparen, da der Parkplatz vom Kommissariat gerade an Feiertagen angenehm leer und vor allem ebenso mitten in der Stadt lag. Ben hatte Katharina inständig gebeten, ihn behutsam bei Julie und vor allem Leonie zu entschuldigen, weil er nun doch nicht mehr vorbeikäme. Außerdem sollte Katharina seiner Nichte ausrichten, dass sie natürlich ihr Ostergeschenk trotzdem auspacken könnte. Dummerweise hatte er seiner Exfrau Simone zugesagt, am Ostersonntag gegen Abend bei ihr vorbeizukommen, weil sie seine Hilfe für irgendwelchen Papierkram benötigte. Zwar hatte er überlegt, Simone aufgrund der veränderten Tagesplanung abzusagen, doch dann hätte er das Treffen mit ihr nur vor sich hergeschoben, denn sie hatte es dringend gemacht, und er wollte es hinter sich bringen. Seit er sie kurz nach Weihnachten nach Jahren zum ersten Mal wieder gesehen hatte, waren sie nur wenige Male aufeinandergetroffen. Es gab einfach nichts mehr, außer der gemeinsamen Vergangenheit, was sie beide noch verband, und er wollte den Kontakt seinerseits so knapp wie möglich halten. Also war er vom Parkplatz des Präsidiums direkt zu Simone gefahren, die sich nach Jahren im Ausland vor einem halben Jahr in Hitzacker mit einem kleinen Schmuckladen selbstständig gemacht hatte und darüber eine kleine Wohnung bewohnte. Obwohl er gewusst hatte, dass Katharina ihn entschuldigen würde, hatte er ein schlechtes Gewissen gehabt. Darum hatte er vom Auto aus selbst noch bei Leonie angerufen und beteuert, dafür am Ostermontag zu ihr und Julie zu kommen. Und diesmal würde er sich auch durch nichts und niemanden davon abbringen lassen.

Während Ben noch seinen Gedanken nachhing, stand plötzlich Katharina in der Tür seines Büros.

»Guten Morgen, Ben!«, sagte sie fröhlich und legte eine Papiertüte vom Bäcker auf den Tisch. »Mit schönen Grüßen von Julie. Sie hat heute Morgen schon Brötchen geholt und mir netterweise ein paar vor die Tür gelegt.«

»Die waren wohl eher für ein gemütliches Frühstück für dich und Bene gedacht, oder nicht?«, fragte Ben, und hörte selbst, dass sein Ton ironisch klang, obwohl er es lustig gemeint hatte.

»Nein, wie du weißt bin ich ja gestern Abend noch bei den beiden rein gesprungen, als ich vom Tatort zurück war, und da hab ich schon erzählt, dass wir zwei heute arbeiten werden. Bene war da schon wieder bei sich zu Hause. Nur Alex war noch da.« Sie grinste. »Du darfst die Brötchen also einfach genießen, sie sind ausdrücklich für dich und mich bestimmt.«

»Danke«, erwiderte Ben und war froh, dass Katharina seinen falsch gewählten Tonfall übergangen oder schlichtweg nicht registriert hatte, was er sich allerdings bei ihr nicht vorstellen konnte. »War Leonie sehr sauer?«

»Quatsch! Ein bisschen enttäuscht vielleicht, aber sie kennt das doch inzwischen. Als ich gerade mit meiner großartigen ›Ben-Entschuldigungs-Rede‹ ansetzen wollte, hat sie mir sofort erzählt, dass du sie aus dem Auto angerufen und versprochen hast, dafür heute vorbeizukommen. Das solltest du dann allerdings nicht wieder absagen – mit Mädchen in Leonies Alter ist nicht zu spaßen. Die werden von null auf 100 zur Furie«, feixte Katharina. »Glaub mir, ich weiß wovon ich spreche. Ich war selbst mal so alt …«

»Nein, heute klappt es auf jeden Fall!«, erwiderte Ben und lächelte, dann wurde er ernst. »Ich denke mal nicht, dass wir hier heute bis zum Abend ausharren müssen. Apropos: Wie wäre es, wenn du schon mal bei der Spusi und in der Gerichtsmedizin nachfragst, wann wir mit ersten Ergebnissen rechnen können, während ich uns einen frischen Kaffee zu den Brötchen mache? Die Kollegen haben ja eigentlich auch Feiertag und wollen sicher schnell wieder nach Hause.«

Fünf Minuten später stellte er einen dampfenden Becher auf ihren Schreibtisch. Katharina verabschiedete sich gerade am Telefon von Frauke Bostel, der Leiterin der Gerichtsmedizin. Ben griff sich seinen eigenen Kaffee, biss genussvoll in eines der Franzbrötchen und sah Katharina erwartungsvoll an. »Und?«

»Tja, ich denke, wir sollten uns freuen, dass Tobi morgen aus dem Osterurlaub zurückkommt. So wie es aussieht, haben wir einen neuen Fall auf dem Tisch. Die Leiche aus dem Feuer bei Westergellersen ist zwar tatsächlich ein Opfer der Flammen, aber wir müssen nun herausfinden, ob es ein tragischer Unfall war, Selbstmord oder Mord.«

Benjamin Rehder legte sein Brötchen zur Seite und zog sich einen Stuhl an Katharinas Schreibtisch. »Das heißt, wir wissen gar nichts. Gibt es schon irgendwelche Hinweise auf die Identität des Opfers?«

»Nein. Frauke konnte mir bisher lediglich sagen, dass es sich um einen Mann handelt, und von der Spusi kam auch noch nichts, was uns weiterhelfen könnte.«

»Na großartig«, brummte Ben. »Da suchen wir ja erst mal sprichwörtlich nach der Nadel im Heuhaufen.«

»Solange wir nicht einmal einen Hinweis haben, um wen es sich handelt, auf jeden Fall«, bestätigte Katharina. »Ich werde gleich als Erstes die aktuellen Vermisstenmeldungen durchgehen, vielleicht gibt es da ja irgendwas Brauchbares.«

»Gut, mach das«, antwortete Ben. »Ich werde dann wohl mal unseren lieben Kriminalrat Mausner anrufen und ihm auch die Ostertage vermiesen. Vielleicht hat er von unserem neuen Fall aber auch schon in den Medien gelesen. Die Presse war ja gestern ziemlich üppig an der Brandstelle vertreten. Und da viele von denen uns beide kennen und wissen, von welchem Dezernat wir sind, haben sie sofort einen Mord gewittert und in der Zwischenzeit ihre eigenen Vermutungen zu Opfer und Täter angestellt. Hast du es auch schon gelesen?«

»Ja«, bestätigte Katharina und stellte dann missbilligend fest: »Mist aber auch, dass die sofort Lunte riechen, wenn irgendwo etwas passiert ist.«

»Na, in diesem Fall war das nicht schwer«, musste Ben über die so ungewollt passenden Worte seiner Kollegin schmunzeln, was dieser ein Lächeln entlockte.

10:23 Uhr

Er klappte den Laptop zu und widmete sich seinem Brötchen. Wie erwartet hatte sein ungeplantes Feuer mächtig für Schlagzeilen gesorgt und die Journalisten hochgescheucht. So hatten nahezu alle Online-Redaktionen der Region darüber berichtet. Im Radio hatten sie es ebenfalls gebracht. Die verschiedenen Redaktionen überschlugen sich mit Mutmaßungen zum Täter und dem Tathergang. Fast schien es so, als sei ein Wettkampf darüber ausgebrochen, wer die wildeste Spekulation aufstellen könnte. Morgen, nach den Feiertagen, würde es sicher auch noch in den gedruckten Zeitungsausgaben stehen. Vermutlich nicht nur im Lüneblick, der Zeitung für den gesamten Landkreis, sondern ebenso in den einschlägigen Hamburger Blättern und denen der niedersächsischen Hauptstadt Hannover. Eine Welle des Stolzes überrollte ihn. Er würde sie alle morgen kaufen. Natürlich war ihm klar gewesen, dass im Zuge der Löscharbeiten die Leiche gefunden werden würde. Kurz hatte es ihn nervös gemacht, doch nachdem er den Hergang noch einmal im Detail rekonstruiert hatte, war er beruhigt gewesen: Nichts würde auf ihn deuten. Selbst von seinem Treffen mit dem Toten, dessen Identität bisher nur ihm bekannt war, konnte niemand gewusst haben, da es völlig ungeplant zustande gekommen war. Er hatte ihn sozusagen am Straßenrand aufgegabelt. Er selbst war gerade von einem langen Spaziergang aus der Heide bei Egestorf zurückgefahren, als er an der Landstraße einen Rennradfahrer mit herausgestrecktem Daumen gesehen hatte. Es war bereits früher Abend gewesen. Die wenigen Autos vor ihm waren an dem Sportler vorbeigefahren. Aus einer spontanen Laune heraus und obwohl er so etwas sonst nie tat, hatte er selbst jedoch angehalten. Vielleicht sollte schon dieses zufällige Aufeinandertreffen so sein … Der Radfahrer hatte an der Straße gestanden, weil er einen platten Reifen, aber kein Flickzeug oder einen Ersatzmantel dabei hatte.

»Ich weiß auch nicht, wieso ich die Tasche mit den Ersatzteilen und dem Werkzeug zu Hause liegen gelassen habe, das ist mir noch nie passiert«, hatte der sehnige Mann ihm erklärt, nachdem er in sein Auto gestiegen war. »Und zu allem Überfluss ist der Akku von meinem Handy leer, sodass ich nicht mal meine Frau anrufen kann, damit sie mit unserem Geländewagen kommt und mich und mein Rad abholt. Jetzt muss ich es hier stehen lassen. Zum Glück hab ich mein Schloss dabei. Mich wie ein Vagabund an den Straßenrand stellen und den Daumen raushalten … Na ja, wenigstens haben Sie gleich gehalten. Danke übrigens. Ich werde mich natürlich erkenntlich zeigen«, hatte der Sportradler noch hinzugesetzt, während er missbilligend das Handschuhfach betrachtete, an dem die Klappe fehlte. »Schade nur, dass Ihr Kofferraum so klein ist, sonst hätten wir mein Rad auch mitnehmen können.« Dann hatte der Mann seinen Fahrradhelm abgesetzt, und in diesem Moment hatte er den Sportler erkannt. In den Augen des anderen hatte jedoch keinerlei Erkennen aufgeblitzt, und der Mann hatte auch sonst nichts dazu gesagt. Das hatte ihn extrem wütend gemacht, und in seinem Kopf hatte es plötzlich zu rauschen angefangen. So wie früher schon manchmal. Wie automatisch hatte er daraufhin den alten Wagen zur Lichtung in die Nähe des Waldbades Westergellersen gesteuert. Das schien ihm die passende Stätte für eine kleine Wiedersehensfeier.

Die Radfahrerkleidung hatte sofort Feuer gefangen. Natürlich hatte der Mann versucht, das Feuer an sich zu löschen, doch bei dem Polyestertrikot war das nahezu unmöglich. Zunächst hatte der Sportler mit der flachen Hand auf die entflammten Stellen eingeschlagen. Diese hatten sich jedoch unbeirrt ausgebreitet, sodass der wie ein Tier schreiende Mann sich schließlich auf den Boden geworfen hatte, um sich hin und her zu wälzen und das Feuer auf diese Weise zu ersticken. Von Panik ergriffen hatten seine Augen ihn angefleht, ihm zu helfen. Dann hatte das Feuer den Sportler besiegt, trotzdem der Boden noch feucht vom Regen der letzten Tage gewesen war. Die Flammen hatten den Mann gefräßig verschlungen, genauso wie die nähere Umgebung, und bald war der lichterloh brennende Körper von einer Feuermauer eingekesselt gewesen.

Er selbst hatte nur dagestanden. Zugeschaut. Nicht geholfen. Hätte er es getan, hätte er den Mann sicher retten können. Zum Beispiel mit der alten Decke aus dem Stall, die eigentlich immer im Kofferraum lag für den Fall, dass etwas transportiert werden musste. Aber er hatte sich nicht gerührt. Er hatte einfach nur beobachtet, wie der Sportler in Flammen aufging, und er hatte es genossen. Es war ein unglaublich schönes Gefühl gewesen, in aller Ruhe dazustehen und zu betrachten, wie die Flammen langsam aber sicher den gesamten Mann in Besitz nahmen. Fast bedauerte er, dass er sich nicht zu erkennen gegeben hatte. Das hätte den Tod des anderen vielleicht noch etwas bedeutender gemacht. Aber vielleicht auch nicht. Wahrscheinlich war es noch viel grausamer, nicht zu wissen, warum man sterben musste, und dann war es gut so.

Er wollte dieses Gefühl noch einmal erleben. Diese Macht. Diese Genugtuung. Nachdem er den letzten Brötchenbissen hinuntergeschluckt hatte, holte er sein altes Zippo-Feuerzeug aus der Hosentasche und ließ es in seiner Hand kreisen. Mit der anderen Hand klappte er seinen Laptop wieder auf und suchte im Internet nach einer Telefonnummer in Bienenbüttel.

15:23 Uhr

Katharina parkte ihren Wagen in der Nähe des Waldstücks, in dem gestern die Leiche entdeckt worden war. Kurz zuvor war sie am Waldbad Westergellersen vorbeigekommen und hatte bei sich gedacht, wie makaber es doch war: Da war jemand in den Flammen elendig verbrannt, obwohl nur ein paar 100 Meter weiter jede Menge Wasser zum Löschen vorhanden war. Ob sie bald herausfinden würden, wer dieser jemand gewesen war? Die Durchsicht der Vermisstenmeldungen hatte sie in dieser Hinsicht kein Stück weitergebracht. Das lag unter anderem auch daran, dass die Gerichtsmedizinerin Frauke Bostel noch keine weiteren Aussagen zum Alter oder weiteren Merkmalen des Opfers hatte machen können, da die Leiche stark verkohlt war. Frühestens morgen früh würden sie ein erstes Gutachten oder zumindest erste Erkenntnisse auf dem Tisch haben. Auch die Spurensicherung hatte bis auf ein paar Reifenabdrücke nichts vermelden können. Zwar hatten die Kollegen alles Mögliche von der Brandstelle aufgesammelt und mitgenommen, doch bis klar war, worum es sich da handelte, geschweige denn, ob es bei der Identifizierung des Opfers helfen konnte, würde es ebenfalls noch dauern. Die Reifenspuren hingegen konnten auch schon älter sein und mussten nicht mit dem Brand in Verbindung stehen. Wenn sie es aber doch taten, dann war noch mindestens eine zweite Person an der Brandstelle gewesen, denn wer hätte sonst den Wagen wieder weggefahren? Hatte derjenige das spätere Brandopfer auf die Lichtung gebracht? Hatte dieser jemand das Opfer mutwillig in Brand gesteckt oder war das alles ein schrecklicher Unfall gewesen? Katharina hätte so gern jetzt schon Antworten parat gehabt. Wenigstens ein paar, die ihr eine Richtung wiesen. Die Kommissarin hasste diese Warterei, doch sie wusste, dass die Untersuchungen, gerade in einem Brandfall, ihre Zeit brauchten. Wenn sie heute, am Feiertag, bei den Kollegen drängelte, würde sie nichts erreichen, außer deren Verärgerung auf sich zu ziehen. Sie hatte schon gestern böse Blicke eingeheimst, als sie die Jungs von der Spusi gefragt hatte, ob sie auch die Fußabdrücke um die Brandstelle herum sichern könnten. Sie hatte dann jedoch selbst eingesehen, dass dies eine zeitaufwendige und wenig Erfolg versprechende Arbeit gewesen wäre, da die Feuerwehrleute zwangsläufig die meisten Spuren durch ihre Löscharbeiten zerstört hatten, und hatte ihre Aufforderung zurückgenommen. Dafür hatte sie dann jedoch beschlossen, heute noch einmal zum Tatort zu fahren, um sich erneut und in aller Ruhe ohne Ablenkung selbst einen Eindruck zu verschaffen. Möglicherweise würden ihr jetzt Dinge auffallen, die ihr gestern nicht wichtig erschienen waren.

Noch immer hing der Brandgeruch in der Luft, als Katharina sich dem Leichenfundort näherte. Ein nicht unwesentliches Stück des Waldes war vom Feuer zerstört worden. Kein Wunder, dachte Katharina. Sie selbst hatte die hohen Flammen und den Rauch gesehen, als sie mit Bene aus Hamburg gekommen war. Nur hatte sie da noch vermutet, dass es sich um ein Osterfeuer, wenn auch vielleicht um ein illegales, handelte. Ein kurzer Schauer lief ihr über den Rücken. Sie haderte schon die ganze Zeit mit sich, hatte jedoch versucht, das ungute Gefühl nicht hochkommen zu lassen. Hätte sie dorthin fahren müssen, als sie die Flammen bemerkt hatte? Hätte sie womöglich verhindern können, dass ein Mensch in den Flammen verbrannte? Vielleicht war das Opfer aber doch schon vorher tot gewesen, und der Täter hatte durch das Legen des Feuers die Spuren beseitigen wollen. Auch das war ein mögliches Szenario. Frauke Bostel hatte zwar bisher keine äußeren Verletzungsspuren an der verkohlten Leiche feststellen können und daher vorerst angegeben, dass der Mann an seinen Verbrennungen gestorben war, aber was, wenn der Mann zum Beispiel zuvor erstickt worden war? Würde man das jetzt überhaupt noch feststellen können? Katharina nahm sich fest vor, Frauke bei nächster Gelegenheit danach zu fragen.

Die Kommissarin verscheuchte weitere Gedanken dieser Art. Das brachte sie im Moment nicht voran. Sie brauchte jetzt einen klaren Kopf, um den Tatort zu begutachten und auf sich wirken zu lassen. Alles andere würde sie später klären.

Der gesamte Bereich, an dem es gebrannt hatte, war abgesperrt worden. Gerade als Katharina sich unter dem rot-weißen Flatterband hindurch bückte, begann ihr Handy zu klingeln. Schnell betrat sie den Sperrbereich, richtete sich auf und zog das Telefon aus der Tasche ihrer Lederjacke. Sie schaute auf das Display und sah, dass darauf ›Mama‹ stand. Katharina stöhnte innerlich auf. Ein Telefonat mit ihrer Mutter passte ihr in dieser Situation überhaupt nicht. Kurz entschlossen drückte sie den Anruf weg. Sie würde sie einfach später zurückrufen. Katharina ließ ihren Blick über die verbrannte und vom Löschen noch immer nasse Erde schweifen. Sie würde nicht jeden Quadratmeter absuchen können, dafür war die Fläche zu groß. Stattdessen schritt sie langsam ohne konkretes Muster den Bereich ab und ließ die Bilder auf sich wirken. Als sie die markierte Stelle erreichte, an der der verkohlte Leichnam gelegen hatte, scharrte sie gedankenverloren mit der Schuhspitze in der Erde. Erschrocken sah sie auf ihren Turnschuh, der bis vor ein paar Minuten noch weiß gewesen war. Na super, ärgerte sie sich, da hab ich ja richtig mitgedacht. Mit weißen Turnschuhen auf ein Brandfeld! Gestern hatte sie – da die Spurensicherung noch nicht fertig gewesen war – Überzieher aus Plastik über den Schuhen getragen. Heute hatte sie schlichtweg nicht nachgedacht. Während sie noch über sich selbst den Kopf schüttelte und sich fragte, ob die Waschmaschine das schaffen würde, sah sie in der aufgekratzten Erde etwas blitzen. Im nächsten Moment war es bereits wieder verschwunden. Mit einem weiteren Blick auf ihre verdreckte Schuhspitze wühlte sie damit erneut in der Erde. Jetzt ist es sowieso egal, dachte sie und sah es erneut aufblitzen. Katharina bückte sich und zog mit den Fingern den kleinen Gegenstand hervor, der ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Es war ein breiter dreckverkrusteter Ring. Sie kramte in ihrer Jackentasche nach einer der kleinen Plastiktüten, die sie fast immer bei sich trug, und ließ ihn hineingleiten. Von der Form und Größe her tippte sie auf einen Siegelring, wie ihn Männer oft trugen. Alles Weitere würde jedoch die Spurensicherung feststellen müssen. Katharina glaubte zwar nicht, dass an dem kleinen Stück Metall nach dem Feuer noch verwertbare Spuren wie DNS zu finden waren, doch das würde sie den Profis überlassen. Möglicherweise hatte der Ring dem Opfer gehört und würde sie zumindest bei der Identifizierung ein Stück voranbringen. Wenn sie den Kollegen erzählte, dass sie etwas entdeckt hatte, was sie selbst am Vortag trotz intensiver Suche offensichtlich übersehen hatten, würden sie sich sicher beeilen …

Als Katharina wieder im Auto saß und gerade das Waldbad passierte, fiel ihr der Anruf ihrer Mutter ein. Noch während ihre Hand zur Freisprechanlage wanderte, um dort die Nummer einzugeben, stockte Katharina in der Bewegung. Sie ließ ihre Hand zurück auf ihr Knie sinken. Sie hatte einfach keine Lust, jetzt mit ihrer Mutter zu telefonieren. Wahrscheinlich würde sie sie doch noch einmal überreden wollen, wenigstens heute am Ostermontag ihre Eltern in Hamburg-Pöseldorf zu besuchen. Danach stand Katharina jedoch so gar nicht der Sinn. Natürlich würde sie noch nicht einmal lügen müssen, wenn sie ihrer Mutter erklärte, dass sie heute arbeitete. Allerdings wusste sie jetzt schon, dass ihre Mutter es auch dieses Mal nicht verstehen würde. Ihre Mutter war eine Frau, die sich einzig über ihren Status als ›Dame des Hauses‹ definierte. Sie hatte Katharinas Vater zwar über den Beruf kennengelernt – sie war seine Sekretärin gewesen – doch schon nach kurzer Zeit hatten die beiden geheiratet, Katharina bekommen, und die frischgebackene Anne von Hagemann war seitdem in ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter aufgegangen. Zwar hatten sie nie wirklich miteinander darüber gesprochen, aber Katharina vermutete sehr stark, dass ihre Mutter vielleicht nicht gerade auf den Juniorchef höchstpersönlich, aber mindestens auf eine gute Partie in Form von einem der betuchten Klienten spekuliert hatte, als sie sich in der traditionsreichen Hamburger Kanzlei Friedrich von Hagemann auf den Job der neuen Sekretärin von Henning von Hagemann, dem einzigen Sohn des ›Alten Friedrich‹, wie der Senior überall genannt worden war, beworben hatte.

Für Katharina war es nie infrage gekommen, sich einfach einen reichen Mann zu angeln und es sich gut gehen zu lassen. Sie hatte für sich selbst einen anderen Weg gewählt, doch das hatte einen Kampf bedeutet, in der ihr eigener Vater der Gegner gewesen war und das Verhältnis von Katharina und ihrem Vater unweigerlich noch schlechter gemacht hatte, als es immer schon gewesen war. Henning von Hagemann war ein dominanter Mann, der nur seine eigene Meinung gelten ließ, dazu konservativ hanseatisch. Vor allem aber war er stur, und das Bild, das er nach außen präsentierte, war ihm wichtiger als alles andere. Darum passte Anne von Hagemann, die es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte, ihrem Mann in jeder Hinsicht den Rücken zu stärken, perfekt zu ihm. Katharina war anders als ihre Mutter, und sie war es aus Überzeugung. Sie hatte ihren eigenen Kopf und ließ sich keineswegs von ihrem Vater bevormunden. Schon als kleines Mädchen hatte sie ihm die Stirn geboten, was sich darin niederschlug, dass sie kranke, verletzte oder herrenlose Tiere zu Hause anschleppte, obwohl es ihr verboten war. Am Ende hatte Henning von Hagemann es seiner Tochter meist durchgehen lassen und die Pflege der Tiere erlaubt, solange es nicht sein eigenes Leben beeinträchtigte. Als es aber später um ihre Berufswahl gegangen war, hatte sie sich in den Augen ihres Vaters ganz bewusst gegen ihn aufgelehnt, was er ihr nie verziehen hatte. Henning von Hagemann hatte für seine Tochter eine Karriere in seiner Kanzlei geplant. Seinen Vater, den ›Alten Friedrich‹, hatte einige Jahre zuvor der Krebs dahingerafft, und nun war er selbst der Senior. Nach einem erfolgreichen Jurastudium, so der Plan von Henning von Hagemann, sollte Katharina in die Kanzlei einsteigen und die Familientradition weiterführen. Am besten gleich zusammen mit einem Ehemann, den sie beim Jurastudium kennengelernt hätte. Er hatte sich das alles genau nach seinem Geschmack zurechtgelegt. Doch der Vater hatte die Rechnung ohne die Tochter gemacht: Schon nach der Hälfte des zweiten Semesters hatte Katharina die Nase voll von den Rechtswissenschaften und vor allem vom Zukunftsentwurf ihres Vaters. Sie schmiss das Studium, um ihren eigenen Traum wahr zu machen, den sie in sich trug, seitdem sie als kleines Mädchen das erste Drei???-Buch gelesen hatte: Sie ging zur Polizei und schlug die Kommissarinnenlaufbahn ein. Ihr Vater hatte das nie akzeptiert. Selbst heute noch, nach fast 17 Jahren, machte er ihr jedes Mal einen Vorwurf aus ihrer Entscheidung, wenn sie sich trafen. Und ihre Mutter stand dann zwischen den Stühlen, hielt aber in der Regel zu Katharinas Vater, der sich dadurch nur noch bestätigt sah. Plötzlich musste Katharina in sich hineingrinsen. Wenn die beiden wüssten, dass sie mit einem Barmann zusammen war, würde wahrscheinlich die Welt für sie untergehen. Vielleicht sollte sie das nächste Mal, wenn sie um einen Besuch bei ihren Eltern nicht herumkam, Bene einfach mitnehmen. Schließlich fragte ihre Mutter immer wieder, ob es nicht einen Mann in Katharinas Leben gab, da sie noch immer auf wenigstens ein Enkelkind hoffte. Allerdings würde sie Bene mit einem solchen Zusammentreffen quasi bestrafen, und das hatte er nicht verdient, dachte Katharina noch immer schmunzelnd, als ihr Handy erneut läutete. Ein Blick auf das Display der Freisprechanlage zeigte ihr, dass es Bene war. Wenn man mit sich selbst vom Teufel spricht, dachte sie noch immer belustigt und nahm das Gespräch entgegen.

Gedicht

»Wie lange soll dies Wüten dauern?

Wie lange halten dieses Leibes Mauern?

Soll nicht der Zweifel mit irrer Hand

In dieses Haus, von Glut durchschwült,

Von Drang durchwühlt,

Von Leidenschaft wild durchglüht,

Den Brand

Schleudern, dass die Flamme aus dem Giebel sprüht?«

(Brand, Gerrit Engelke)

3. Kapitel: