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Ebook Edition

Matthias Arning

PETRA ROTH

Die Biographie

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Fotonachweis: Andreas Arnold (1), Wonge Bergmann (4), Christoph Boeckheler (2), Büro der OB (1), Deutsche Bank/Oswald (1), Jochen Günther (1), Bernd Kammerer (3), Alex Kraus (10), Privat (4), Martin Weis (2)

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ISBN 978-3-86489-500-5

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2012

Satz: Publikations Atelier, Dreieich

Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Printed in Germany

Inhalt

Vorwort
Im Namen der Bürger

1  Abgang mit Ansage – schöne Sommertage in Polen

2  Starke Frauen

3  Politische Beheimatung – Petra Roths Grundlagen

4  An der Spitze der Stadtregierung

5  Im Deutschen Städtetag

6  11. März 2011, Fukushima

7  Petra Roths Vermächtnis

Nachgang

Bildteil

Dank

Literatur

Vorwort
Im Namen der Bürger

Auf dem Weg hinab vom Hotel Belvédère bleibt Peter Ramsauer für einen Augenblick stehen. Es ist bereits dunkel an diesem Abend Mitte Januar des Jahres 2012. Auf den vereisten Stufen des aus besseren Zeiten stammenden Grandhotels in Davos ist Vorsicht geboten.

»Die Frau Oberbürgermeisterin«, sagt der Bundesverkehrsminister beim Verlassen des Weltwirtschaftsforums, als ihm die blonde Frau in dem Lammfellmantel entgegenkommt.

»Der Herr Minister«, sagt die Oberbürgermeisterin, die auf dem Weg zum Empfang ihrer Stadt für internationale Gäste ist. Peter Ramsauer geht, Petra Roth kommt.

Sie hätte auch der Republik gutgetan. Das steht für Peter Ramsauer außer Frage. Vier Wochen nach Davos hat er sie ins Spiel gebracht. Als mögliche Nachfolgerin von Christian Wulff in Schloss Bellevue. Petra Roth hätte die erste Präsidentin der Bundesrepublik Deutschland, die erste Frau an der Spitze des Staates, werden sollen. Bereits 2004, als man schließlich den Ökonomen Horst Köhler zum Kandidaten für die Nachfolge von Johannes Rau auserkoren hatte, war Petra Roth im Gespräch. Für das Amt, von dem man grundsätzliche Akzentsetzungen erwartet, dem man Leitlinienkompetenz zuschreibt. Für die Union in den Südländern Bayern, Baden-Württemberg und Hessen, so heißt es Mitte Februar 2012, ist sie die Favoritin für die Nachfolge des zurückgetretenen Bundespräsidenten Christian Wulff. Nicht der Ostdeutsche Joachim Gauck, nicht der Klimaretter Klaus Töpfer, sondern die Frankfurterin Petra Roth. Eine einnehmende Repräsentantin, eine überaus glaubwürdige, integre Politikerin.

Die Krise um Wulff hat sich seit Mitte Dezember 2011 zwei quälend lange Monate hingezogen. Medien entblättern Detail um Detail über Wulffs Kreditaufnahmen und Urlaubsreisen, das Einfamilienhaus in der Nähe von Hannover, den Zuschuss der Schwiegermutter. In dieser Zeit entstehen überall in der Republik Freundeskreise, die sich rechtzeitig und wohlüberlegt auf eine Zeit nach Wulff einstellen wollen und Petra Roth künftig in Schloss Bellevue sehen möchten. Sie treten dafür ein, die langjährige Präsidentin des Deutschen Städtetages in das Bundespräsidentenamt zu holen. Im Jahr sieben nach dem Einzug Angela Merkels ins Bundeskanzleramt soll mit Petra Roth erstmals eine Frau an die Spitze des Staates treten. Viele sehnen sich nach einer Politikerin, die einen Reinigungsprozess einleitet, die dafür steht, dass Politik kein schmutziges Geschäft sein muss. Einer Politikerin, die den Beweis liefert, dass sich Politik mit der Bereitschaft, sich für etwas Konkretes und Gutes rigoros einsetzen zu wollen, durchaus lohnen kann und akzeptanzfähig ist. Nach einer Politikerin, über die die Kanzlerin selbst sagt, »sie hat eine zukunftsweisende und kluge Stadtpolitik betrieben«. Nach einer Politikerin, deren Durchsetzungswillen man besser nicht unterschätzen sollte, »der sich hinter ihrem beherrschten und gewandten Auftreten verbirgt«, wie Hessens früherer Ministerpräsident Roland Koch beobachtete. Nach einer exponierten Politikerin, die »gern in ihrem Amt lebt«, wie ihr Weggefährte, der einstige Bundesminister für Forschung und Technologie, Heinz Riesenhuber, festhält.

Politik ist nichts für Leute, die einen Job machen wollen. Politik, das macht Petra Roth als Sozialbezirksvorsteherin, als hessische Landtagsabgeordnete, als Parteichefin der CDU in Frankfurt am Main, als Vorsteherin der Stadtverordnetenversammlung und schließlich als Oberbürgermeisterin deutlich, Politik ist etwas für Profis. Weil sich »Profi« von Professionalität ableitet und seinen Bedeutungsstamm in »professione« hat. Professione ist nur ein anderes Wort für Hingabe.

Die schwarz-gelbe Regierungskoalition in Berlin entschied sich am 20. Februar 2012 gegen Petra Roth. Beinahe wäre das Bündnis zwischen Union und FDP an der Präsidentenfrage gescheitert. Kanzlerin Merkel soll erbost gewesen sein, heißt es am Tag danach, weil die Freidemokraten sich öffentlich gegen Petra Roth, gegen Klaus Töpfer, aber für den anderthalb Jahre zuvor in Konkurrenz zu Christian Wulff als Bewerber gescheiterten Joachim Gauck entschieden haben. Dabei hatten die Koalitionäre zuvor eigentlich verabredet, sich zunächst intern zu verständigen, um dann mit SPD und Grünen über einen gemeinsamen Kandidaten zu sprechen.

Bald erfährt die interessierte Öffentlichkeit: Die FDP-Regenten wollten Roth nicht, weil damit die Vorzeichen für die nächste Bundestagswahl 2013 auf Schwarz-Grün gestellt worden wären. In der Republik gilt Petra Roth als Steuerfrau einer seit 2006 solide arbeitenden Koalition der CDU mit den Grünen, die die Bündnispartner selbst als Modell für künftige Koalitionsüberlegungen empfehlen: »Jenseits der ideologischen Differenzen lässt sich mit den Grünen unaufgeregt und verlässlich Politik machen«, sagt sie selbst über ihre Erfahrungen mit diesem Bündnis.

Während die Regierungskoalitionäre in Berlin am Sonntagnachmittag vor Rosenmontag 2012 beraten, befindet sich Petra Roth auf der Ehrentribüne auf dem Römerberg in Frankfurt am Main und nimmt über drei Stunden hinweg die Parade der Narren mit 247 Motivwagen und Tanzgruppen ab. Sie lässt sich von »den Kamerunern« aus dem Frankfurter Gallusviertel so kräftig umarmen, dass die linke Hälfte ihres Gesichts anschließend nahezu eingeschwärzt ist. Die Müllmänner von der Frankfurter Entsorgungsgesellschaft FES sagen laut servus: »17 Jahre Arbeit und Brot«, ist auf ihrem Motivwagen zu lesen, »dank unserer lieben Oberbürgermeisterin Petra Roth, die FES sagt Dankeschön, wir lassen sie nur ungern gehn.«

Ein schöner Nachmittag, die Stimmung ist gut. »Das Volk« verabschiedet sich von ihrem Stadtoberhaupt. Es hätte Petra Roth gern behalten, doch die Chefin, wie viele Frankfurter Petra Roth liebevoll nennen, tritt Mitte 2012 ab.

Nach siebzehn Jahren. Auf dem Höhepunkt ihrer Beliebtheit. Schöner kann es für sie wohl nicht mehr werden.

»Präschtisch, wie se widder aussieht,

Escht gut, wie se präsediert,

Trefflisch, wie se Frankfurt steuert,

Riesisch, wie se es erneuert,

Astrein, wie se’s kommendiert!«

Diese Verse mögen vielen durch den Kopf gegangen sein, die der Dichter und Satiriker Robert Gernhardt als »unsortierte Gedanken eines Frankfurter Bürgers« zu Papier gebracht hat.

Am Abend dieses Fastnachtstags ist klar: Joachim Gauck zieht in Schloss Bellevue ein. Die Regierungskoalition in Berlin hat sich auf diesen Kandidaten verständigt. Am 18. März, gerade vier Wochen später, gehört Petra Roth zur Bundesversammlung, die Joachim Gauck mit großer Mehrheit zum neuen Staatsoberhaupt wählt.

Lieber hätte sie gegen Klaus Töpfer den kürzeren gezogen. Mit Töpfer weiß sie sich auf einer Wellenlänge. Bei Töpfer hätte sie gewusst, der kümmert sich um das Klima und nimmt sich des demographischen Wandels an. Themen, die auch ihr genuin wichtig sind.

Petra Roth – diese Frau ist ein Phänomen. Etwas, was es eigentlich gar nicht gibt: eine Politikern und glaubwürdig. Eine Frau in einer Männerclique. Eine Liberale in einer konservativen Partei. Offen für Neues und gleichzeitig tief verwurzelt. Sie macht eine gute Figur beim Empfang für die norwegische Prinzessin Mette-Marit ebenso wie beim Plausch mit den Marktfrauen in der Frankfurter Kleinmarkthalle. Sie ist bodenständig geblieben und repräsentiert doch stilsicher ihre Stadt bei Begegnungen mit Prominenten und Wirtschaftsführern. Sie hat kein Abitur und jongliert doch sicher mit hochkomplexen Themen. Sie hat den Frankfurtern das Gefühl gegeben, dass sie sich kümmert, dass diese Stadt Heimat bietet, dass sie selbstbewusste Bürger verdient hat.

»Ich als Stadt Frankfurt«, sagt sie dann. Und sie sagt es immer wieder. Es klingt eigentlich etwas seltsam. Petra Roth allerdings lebt das. 24 Stunden Frankfurt am Tag. Seit siebzehn Jahren. Auf einmal soll das vorbei sein?

Wer ist diese Frau? Was treibt sie an? Auf welchen Fundamenten hat sie sich eingerichtet? An welchen Leitmotiven orientiert sie sich? Wie hat sie es geschafft, sich durchzusetzen in Zeiten, in denen Frauen in der Politik allenfalls im Damenprogramm vorkamen?

Allesamt Fragen, denen ich in den folgenden Abschnitten dieses Buches nachgehen werde. Von einem Ausgangspunkt, der mittlerweile vier Jahrzehnte zurückreicht: der Rückkehr der jungen Petra Roth nach Frankfurt am Main.

Dieses Buch ist eine politische Biographie. Es wäre ohne die Beobachtungen des vergangenen Jahrzehnts in Frankfurt am Main wie an vielen anderen Ecken der Welt nicht möglich gewesen: In dieser Zeit begleitete ich Petra Roth zunächst als Journalist und Frankfurt-Chef für die Tageszeitung Frankfurter Rundschau, später als ihr persönlicher Referent.

Das Buch umfasst im Anschluss an dieses Vorwort sieben Kapitel. Sie spannen von ihrem Entschluss aus, ihre Amtszeit um ein Jahr zu verkürzen (Kapitel 1), einen Bogen von den Anfängen Petra Roths in Bremen (Kapitel 2) über ihr Engagement auf dem Flügel der Sozialpolitiker in der CDU (Kapitel 3), ihr kommunalpolitisches Wirken in Frankfurt am Main (Kapitel 4), ihr Eintreten für die Belange der Kommunen im Deutschen Städtetag (Kapitel 5), ihre kommunalpolitische und kulturelle Erbschaft (Kapitel 6) bis hin zu ihrer Entwicklung als ein Vorbild moderner Gefühlspolitik (Kapitel 7).

Die Grundlage dieses Buches bilden ausführliche Gespräche mit Petra Roth und vielen ihrer langjährigen Gefährten. Ihnen allen danke ich für die Offenheit und die Zeit, die sie sich für meine Fragen genommen haben.

Frankfurt am Main, im April 2012

1  Abgang mit Ansage – schöne Sommertage in Polen

Über den Sommerurlaub 2011 mit »der Prinzessin« hat sich Petra Roth schon Monate zuvor Gedanken gemacht. Sie suchten auf Landkarten gemeinsam Orientierung in dem unbekannten Terrain, suchten Adressen für Unterkünfte, machten sich mit Hilfe von Reiseführern kundig, wie es wohl in den ländlichen Regionen aussieht. Die Stadt Krakau, die kannten sie. Schließlich setzten sich die Oberbürgermeisterin und die Vorsitzende des Kulturausschusses für diese seit 1991 bestehende Städtepartnerschaft zwischen Frankfurt und Krakau ein. Sie wollten sich gut vorbereiten auf das, was auf sie zukommen könnte. Denn diese Rundreise durch Polen würde doch etwas ganz Besonderes sein: zwei Frauen reiferen Alters, die eine 73, die andere 67 Jahre alt, unterwegs mit dem eigenen Auto in einem für sie bis dahin nahezu unbekannten Land. Lange vor der Abreise in Richtung Stettin kommt Petra Roth immer wieder auf die bevorstehende Tour »mit der guten Freundin« zu sprechen. Petra Roth und Alexandra Prinzessin von Hannover kennen sich ihr halbes Leben lang. Über die CDU. Durch soziale Anliegen fanden beide in die Politik. Vier Jahrzehnte liegt das zurück.

Als die Tour losgeht, ist »die Prinzessin« gerade seit drei Monaten keine Stadtverordnete mehr. Nach mehr als zwei Jahrzehnten. Seitdem fehlt Petra Roth eine kulturpolitisch feste Größe. »Die Prinzessin« konnte unwirsch werden, wenn wieder mal einer aus der Kommunalpolitik auf die Idee kam, haushaltspolitischen Turbulenzen mit Einsparungen bei der Kultur entgegensteuern zu wollen. Auf »Ada«, wie Petra Roth die Weggefährtin freundschaftlich nennt, ist Verlass.

Seit dem Sommerurlaub 2011 grübelte Petra Roth über das Ende ihrer Amtszeit. 2013, das könnte ein bedeutendes Wahljahr werden. Im Bund stehen Wahlen an, in Hessen, in Frankfurt am Main. Petra Roth dachte hartnäckig darüber nach: Es könnte ihrer Partei guttun, wenn es gelänge, die Direktwahl des neuen Oberbürgermeisters für Frankfurt am Main von den anderen beiden Urnengängen zu trennen. Denn erfahrungsgemäß setzen sich bei Wahlen Trends fest. Positiv wie negativ. Für den Bewerber oder die Bewerberin der CDU würde es bestimmt von Vorteil sein, früher an den Start zu gehen. Denn vom Herbst des Jahres 2011 aus betrachtet, konnte man keine Wette auf Wahlerfolge der Union eingehen: in Berlin nicht und in Wiesbaden auch nicht, da die Partei den radikalen Modernisierungsschub von Bundeskanzlerin Angela Merkel etwa in der Energiepolitik nach wie vor nicht zu verkraften schien. Die Konservativen in den eigenen Reihen blieben überaus skeptisch. Vor allem aber, weil ein anderer Koalitionspartner als die Freidemokraten weit und breit nicht in Sicht zu kommen schien. Mit dieser FDP aber wollte man für Berlin wie für Wiesbaden, längst bevor man in Nordrhein-Westfalen Neuwahlen angesetzt hat, besser nicht auf Sieg setzen.

Sich in den Dienst der eigenen Partei zu stellen, so wie es sich Petra Roth schließlich im Herbst des Jahres 2011 vornimmt, musste in den vier Jahrzehnten zuvor nicht unbedingt das erste sein, was ihr in den Sinn kam. Denn leicht haben sie es der Frau in jungen Jahren in der eigenen Partei nicht gemacht. Petra Roth sah sich oft mit einer Riege stockkonservativer Honoratioren konfrontiert. Sie strebten in Frankfurt am Main nach Macht, träumten von den längst vergangenen Zeiten satter Mehrheiten in den siebziger und achtziger Jahren unter dem Oberbürgermeister Walter Wallmann, der die sozialdemokratische Hegemonie durchbrechen konnte. Sie wollten selbst aber nicht in die erste Reihe treten, wenn ihnen eine Wahl als reichlich aussichtslos erschien. Keiner mochte Mitte der neunziger Jahre der CDU nach dem Machtverlust und dem Wiederaufleben der SPD ernsthaft Chancen einräumen, eine erstmals angesetzte Direktwahl für das Amt des Stadtoberhaupts für sich und den eigenen Bewerber entscheiden zu können.

Niemand zweifelte daran: Eine Clique in Fraktion und Partei schob Petra Roth 1995 vor – in einen der CDU selbst als wenig aussichtsreich geltenden Kampf gegen den Amtsinhaber und Routinier Andreas von Schoeler von der SPD. Petra Roth gab sich lieber keinen falschen Vorstellungen hin: Oft, das vertraute sie 1995 der Wochenzeitung Die Zeit in einem Gespräch an, seien es »Männer gewesen, die es ganz geschickt fanden, die Petra Roth in dieses oder jenes Amt zu setzen«.

Lange ließ sie das nicht mit sich machen. Von einem »Frauenbonus« in der Partei und den schier unermüdlichen Zuschreibungen der lokalen Medien, eine überaus attraktive Frau zu sein, wollte und will sie partout nichts hören. Denn wirklich voran bringe einen das nicht, sagt sie, sicher gerate es nicht zum Nachteil. Gutes Aussehen sei alles andere als ein Selbstläufer, in der Politik bekomme man nichts geschenkt, da »muss man kämpfen«, hebt Petra Roth immer wieder hervor, kämpfen, um etwas erreichen zu können. Alsbald setzte Petra Roth, angetrieben von einem schier unglaublichen Optimismus, selbst die Pflöcke. So sollte es schließlich auch bei ihrem Abgang sein – Regie führte sie selbst.

Aus dem Gedanken, der sich im Herbst des Jahres 2011 allmählich entfaltete, entwickelte sich schließlich die Idee, das Amt als Oberhaupt der Stadt Frankfurt am Main bereits nach siebzehn Jahren aufzugeben. Siebzehn Jahre. Eigentlich lief ihre Amtszeit bis Ende Juni 2013. Schließlich hatten es die Bürger genau so gewollt, als sie sich bei der Direktwahl 2007 wieder für Petra Roth als Frankfurts führende Repräsentantin, als engagierte Streiterin für eine weltoffene Stadtplanung, als Wegbereiterin guter Ideen, als Fürsprecherin der Integration und als Vermittlerin kultureller Impulse entschieden haben. Es würde die längste Amtszeit eines Stadtoberhaupts nach dem Zweiten Weltkrieg in Frankfurt am Main werden.

Am 1. November sollte es so weit sein, sollte die Öffentlichkeit davon erfahren, sollte alle Welt wissen, welche Idee bei Petra Roth gereift ist, seit sie mit »der Prinzessin« an der Ostsee und in Masuren gewesen war. Wenige Wochen nach der Verkündung ihres zunächst so einsam erscheinenden Beschlusses, der Frankfurt für einen Augenblick in eine Schockstarre versetzte, steht bei ihr bereits außer Frage: Die Idee ist gut gewesen. Es ist ein Aufbruch zur Freiheit. »Völlig richtig« ist sie aus freien Stücken nach vorne gegangen, sie traf ihre ureigene Entscheidung und hat so zähe Monate als »lahme Ente«, als »lame duck« vermieden, wie die Amerikaner die letzte Phase einer dem Ende entgegengehenden Regierungszeit eines Präsidenten nennen.

Nur gut, sagt Petra Roth später einmal während des zu Beginn des Jahres 2012 aufziehenden Wahlkampfs um die Besetzung des exponiertesten Amts, das Frankfurt zu vergeben hat, nur gut, dass sie sich das erspart hat.

1. November, erste Runde

An diesem Dienstag, 1. November 2011, ist Roths Dienstzimmer gut besucht. 25 zur CDU gehörende Frauen und Männer aus der Stadtregierung und dem Kreisvorstand der Partei hat die Chefin in den zweiten Stock des Rathauses gebeten, um über kommunalpolitische Weichenstellungen zu sprechen. Sie sollen zuerst erfahren, dass Petra Roth sich zurückzieht und es eine vorgezogene Direktwahl des neuen Stadtoberhaupts geben würde.

Für die frühere Abstimmung kann die CDU einen Kandidaten nach ihrem Wunsch aufbieten: Boris Rhein, den jungen Parteichef in Frankfurt und Innenminister in Wiesbaden. Von den Grünen aus dürfte ihm keine ernsthafte Konkurrenz erwachsen – die von Petra Roth als Umweltdezernentin geschätzte Manuela Rottmann, an die sich lange Zeit parteiintern große Erwartungen knüpften, weil die junge Frau als politisches Talent gilt, steht als Bewerberin für das Amt des Stadtoberhaupts nicht zur Verfügung.

Petra Roth spinnt einen Leitfaden für dieses Gespräch mit der Führungsmannschaft ihrer Partei. Sie hat sich gut vorbereitet, Notizen gemacht. Bei öffentlichen Auftritten orientiert sie sich meist nur an Stichworten, hält sich selten an einem Manuskript fest, variiert ihr Thema immer wieder, nimmt Impulse auf, verarbeitet Eindrücke, die sie seit dem Betreten eines Raumes aufgenommen hat. Heute nicht. Heute ist nicht Alltag.

Dieser 1. November des Jahres 2011 ist ein ganz besonderer Tag. Petra Roth spannt einen Bogen. Sie spricht zunächst von der Wahl neuer Dezernenten ihrer Stadtregierung, die ihre Partei längst mit den Grünen verabredet hat. Insgesamt fünf Dezernenten sollen neu in den Magistrat gewählt werden oder aber in eine zweite Amtszeit starten. Zwei Grüne, drei Schwarze. Da darf nichts schiefgehen. Bloß nicht. Nur zu gut erinnern sich alle, die in Frankfurt mit kommunaler Politik zu tun haben, an die »vier Schweine«. Gemeint sind damit Stadtverordnete, die vor Jahren in Zeiten von Rot-Grün sich dem Willen der damaligen Koalition widersetzten und den Grünen Lutz Sikorski bei seiner Wahl in den Magistrat als Umweltdezernenten durchfallen ließen. So etwas sollte sich nicht wiederholen dürfen, darüber waren sich die schwarz-grünen Koalitionäre Ende 2011 einig.

Die Spitzen der Koalition ließen daran keinen Zweifel aufkommen, denn sie wussten um die Verschleißerscheinungen, die dieses schwarz-grüne Bündnis allmählich zeigte. Furios waren sie fünf Jahre zuvor in die erste Phase schwarz-grünen Zusammenwirkens gestartet, um der Republik zu zeigen: Es geht. Schwarze und Grüne, die sich lange Jahrzehnte ihre grundlegenden Übereinstimmungen gerade in ethischen Fragen nicht eingestehen wollten, würden in Frankfurt den Beweis antreten, aus dieser Stadt eine Green City machen und das Gebot der Energieeffizienz realisieren zu können.

Doch die zweite Wahlzeit 2011 begann weniger schwungvoll, die Koalition wirkte flügellahm. Die Verhandlungen über eine Neuauflage dieses Bündnisses tat dazu ein Übriges: Die Konservativen unter den CDU-Leuten betonten den Eindruck, die Grünen hätten ihre Partei über den Tisch gezogen, zu viele ihrer Themen durchgesetzt, sich aber vor allem bei der Besetzung des Magistrats zentraler Posten bemächtigt. Die Wahl der neuen Dezernenten unterstrich diese Sicht der Dinge: Die Grünen besetzten mit der früheren Landtagsabgeordneten Sarah Sorge das Bildungsdezernat neu und übernahmen mit dem ehemaligen Fraktionschef Olaf Cunitz das prestigeträchtige Planungsdezernat von der CDU.

Der Frankfurter Magistrat würde seine beiden profilierten Frauen an der Spitze verlieren: die Grüne Jutta Ebeling, die Bürgermeisterin, und Petra Roth, die Oberbürgermeisterin. Sie galten als Garanten der schwarz-grünen Koalition.

Gerade sechs Wochen nach dem 1. November, der zu diesem Zeitpunkt längst in die Geschichte der Stadt eingegangen ist, bestimmt die CDU Boris Rhein als ihren Kandidaten für den vorgezogenen Wahlgang der Frankfurter am 11. März 2012. Mit überwältigender Mehrheit. Ein wirklich guter Start in eine kurze, modern gestaltete Kampagne der Wählerwerbung, die nach den Winterferien schnell Fahrt aufnehmen sollte. Viele Frankfurter empfanden den Wahlkampf als langweilig, weil sich die Kandidaten nur an wenigen Punkten wirklich reiben und der Fluglärm, der von der neuen Landebahn des Frankfurter Flughafens ausgeht, zu dem alles andere überlagernden Wahlkampfthema wird.

Am frühen Abend des 11. März steht fest: Rhein muss in die Stichwahl. Gegen den Sozialdemokraten Peter Feldmann. Damit hatte keiner gerechnet, dass der Sozialpolitiker sich gegen den Innenminister so wacker schlagen würde. Die CDU schlägt Alarm, für die Stichwahl müssten sämtliche Potentiale mobilisiert werden. Denn wenn sich Linke, Flughafenausbaugegner und linke Grüne für Feldmann entschieden, würde es für Rhein nicht reichen.

Es reichte nicht. Der vierzig Jahre alte Innenminister musste sich geschlagen geben. In der Nacht des 25. März triumphiert Feldmann.

Viele Wähler hätten gern noch einmal bei Petra Roth ihr Kreuzchen gemacht. Petra Roth selbst hätte auch gern als Stadtoberhaupt weitergemacht. Und sie hätte sich auch eine weitere Amtszeit zugetraut. Denn »ich habe immer noch genügend Kraft, um all die Probleme anzugehen, mit denen man es als Stadtoberhaupt zu tun hat«, sagt sie. Und nicht nur sie ist überzeugt davon: »Ich hätte die Wahl gewonnen.«

Aber die Hessische Gemeindeordnung stand mit ihren Regularien einer Wiederwahl entgegen, da Petra Roth dann die Altersgrenze überschritten hätte. In Paragraph 39 Absatz 3 ist festgeschrieben, dass Kandidaten nicht älter als 67 Jahre sein dürfen. An diesem Limit reibt sie sich ständig: Die Altersgrenze für Stadtoberhäupter hält sie für unzeitgemäß, zumal ein solches Limit für Bundeskanzler und Bundespräsidenten nicht gilt. Wie alt Konrad Adenauer als Bonner Regierungschef gewesen ist, darüber will Petra Roth in diesem Zusammenhang gar nicht reden. Gleichzeitig haben die Verfassungsgeber in Hessen später versäumt, den direkt gewählten Oberbürgermeister mit mehr Rechten auszustatten: »Es kann nicht sein, dass der Bürger seinen Oberbürgermeister wählt, und dessen Stimme hat im Magistrat genauso viel Gewicht wie die eines indirekt gewählten Stadtrats.« Um zügig Entscheidungen treffen zu können, hätte Petra Roth gern mehr Macht gehabt.

Immer wieder dienstags

Dass sich CDU-Stadträte dienstags morgens in dem modernen, überaus geschmackvoll gestalteten Dienstzimmer Petra Roths einfinden, ist alles andere als ungewöhnlich. Jeden Dienstag, neun Uhr, kommen die Dezernenten mit der Oberbürgermeisterin an dem großflächigen, stets mit frischen Blumengestecken der Saison geschmückten Tisch zu aktuellen kommunalpolitischen Beratungen zusammen. Woche für Woche im Dienstzimmer. Früher gab es dort die dunkle Holztäfelung, mittlerweile ist sie verschwunden, es dominiert Weiß, das den großen Raum noch größer macht. Wirft Petra Roth von ihrem dem Bauhausstil nachempfundenen Schreibtisch aus einen Blick nach rechts, bleibt der Blick an einem Gemälde von Gerhard Richter hängen. Aus Richters Frühzeit, abstrakt, kräftige Farben, schwungvoll gemalt, eine dynamische Komposition. Es ist eine Leihgabe des Museums für Moderne Kunst in Frankfurt.

Dienstags gibt es im Dienstzimmer Schnittchen, die hübsch dekoriert auf einer großen Silberplatte in der Mitte des Tisches angerichtet sind. Besser gesagt: Es handelt sich um halbe Brötchen, belegt mit Schweinemett und ein paar Zwiebeln, mit in gleichmäßige Scheiben geschnittenen, hartgekochten Eiern oder schlichtem Scheibenkäse mit gesund anmutender Verzierung durch Kiwischeiben und Weintrauben. Dazu bietet »die Chefin« der Stadtregierung Kaffee, Tee oder heißes Wasser an. Sie selbst bevorzugt heißes Wasser, nicht erst, seit sich ihr früherer Bremer Kollege Henning Scherf werbend für dieses vitalisierend wirkende Getränk einsetzte. Heißes Wasser steht für den Augenblick, in dem sie zurückschaltet.

Man kommt im Dienstzimmer Petra Roths zusammen, vorausgesetzt, die Oberbürgermeisterin ist im Rathaus präsent und nicht unterwegs auf einer Dienstreise. In diesen Fällen ist das Dienstzimmer für die Stadträte ihrer Partei tabu.

Es gibt eine feste Sitzungsordnung an diesen Dienstagmorgen. Von der unmittelbaren Linken der Chefin aus lässt sich die Rangordnung innerhalb des Magistrats beschreiben. Neben Petra Roth sitzt der Stadtkämmerer, neben ihm der CDU-Fraktionschef, daneben der Kulturdezernent, ihm folgen die Sozialdezernentin, der Wirtschaftsdezernent, schließlich der Planungsdezernent, der nach einer weiteren Rundung des Tisches bereits wieder ganz nahe bei der Oberbürgermeisterin sitzt.

Diese Dienstage bieten die wichtigsten Möglichkeiten politischer Beratung. Die Themen gibt Petra Roth vor. »In dieser Reihenfolge«, sagt sie dann, wolle sie beispielsweise über den Verkauf der Wohnungen der Nassauischen Heimstätte vom Land Hessen sprechen, über das Konzept für die bessere Erschließung der Innenstadt und über den Stand der Dinge beim Neubau des Höchster Krankenhauses.

Zuallererst darf sich Uwe Becker als Kämmerer angesprochen fühlen. Er sagt, über die Zukunft der Nassauischen Heimstätte ließe sich noch nicht reden, weil es augenblicklich für eine Entscheidung zu früh sei.

Über den Finanzverwalter ist im Herbst 2011 eine heftige Welle hinweggegangen. Junge Stadtverordnete der CDU, zu diesem Zeitpunkt zumeist erst ein paar Monate im Parlament, probten den Aufstand: Was das Land Hessen mit seiner Schuldenbremse vorgemacht habe, wolle man jetzt auch in der Stadt angehen – keine neuen Schulden, geben sie als Leitmotiv aus. Die Opposition vermutet, dass die Jungen »Beckers Kopf« wollen. Der Mann, den seine eigenen Parteifreunde immer wieder wegen seines nachhaltigen Wirtschaftens rühmen, verschafft sich mit der Einrichtung einer Kommission, in der führende Kräfte der Koalitionsparteien von CDU und Grünen Sparpotentiale identifizieren sollen, ein bisschen Luft. Bei einer Absprache zwischen den Koalitionären über Einsparungen ließe sich damit rechnen, dass kritische Einwände allein bei ihm als Kämmerer abgeladen würden. Aber selbst dann – die Mittelständler in der Fraktion haben mit ihren Vorgaben, unbedingt sparen zu müssen, auf Becker gezielt und ihn empfindlich getroffen. Als Bewerber für die Nachfolge Petra Roths ist Uwe Becker seit Oktober 2011 nicht mehr im Gespräch.

Dienstzimmer mit Aussicht

Tritt Petra Roth aus ihrem Dienstzimmer auf den im Sandstein der Fassade des Rathauses gehaltenen Balkon hinaus, steht sie quasi direkt vor der Paulskirche. Ein Anblick, der Ehrfurcht einflößt. Die Paulskirche ist das wohl berühmteste Bauwerk der Stadt. Die Paulskirche, so steht es gleich am Eingang zur Rotunde zu lesen, ist »Symbol demokratischer Freiheit und nationaler Einheit«. Ein Ort, der ein bisschen Demut verlangt. Dabei ist die Paulskirche an sich alles andere als festlich. Und doch fällt einem hierzulande die »Paulskirche« ein, wenn man »Demokratie« zu bestimmen sucht. In dieser Hinsicht ist die Paulskirche eine robuste Brücke in die Gegenwart. Für Petra Roth bietet sie die Möglichkeit der Selbstvergewisserung. Selbst wenn demokratische Verfahren gelegentlich ermüdend wirken und den letzten Nerv rauben können, geht es stets um alles – den Einsatz für die wohl beste aller politischen Welten.

Die Paulskirche ist heute ein Ort der Erinnerung an das Jahrhundert der Gewalt wie des Vordenkens für die Zeit der Zivilgesellschaft. Alle wichtigen Reden in diesem Zusammenhang werden in der Paulskirche gehalten, für wirkungsmächtige Positionsbestimmungen gibt es neben dem Bundestag allein diesen Ort. Das gilt für den 9. November nicht anders als für den 3. Oktober, zur Verleihung des Goethepreises nicht anders als zu den Traditionen verknüpfenden Römerberggesprächen in Erinnerung an das Aufbegehren der »1848er«.

Nicht ohne Grund hat 1998, zum Jahrestag der revolutionären Erhebungen gleichsam, der Vordenker der gänzlich unheroischen Risikogesellschaft zum Auftakt der Römerberggespräche mit großer Begeisterung seine Überlegungen zum Bürgersein vorgetragen: Der Soziologe Ulrich Beck sprach in der Paulskirche im Namen der Freiheit über die Möglichkeiten der Demokratie in Zeiten der Globalisierung. Ganz im Sinne Petra Roths warb er für ein »weltgesellschaftliches Europa«, das sich den Menschen näherbringen lässt darüber, dass man ihnen verständlich macht, dass »nicht Nationalität, sondern nur Bürgerrechte zu einer politischen Identität führen«.

Becks Diktum ist so recht nach dem Geschmack Petra Roths. 1848 – das ist das Erbe der Bürgerrechte, die sich mit Frankfurt verbinden. Umso bedeutender würde es für ein aufgeschlossenes Stadtoberhaupt sein, eine internationale Bürgergesellschaft auf die Bürgerrechte gründen zu können. Der 150. Jahrestag der Ideen von 1848 sollte ein ganz besonderer sein: Von Frankfurt am Main aus setzte sich ein Revolutionszug mit allerlei Prominenz zu Stätten des früheren Aufstands im Südwesten der Republik in Bewegung, um am Ende am Hambacher Schloss zu landen. Auf dem vorläufigen Höhepunkt bundesrepublikanischer Geschichte bemühte sich die noch junge Demokratie darum, angesichts der Wiedervereinigung zweier deutscher Staaten gemeinsame Impulse zu entdecken. Ulrich Becks Publikum in der Paulskirche zeigte sich ob des Engagements des rhetorisch brillanten Analytikers dankbar: Er hatte an diesem heißen Tag Anfang Juni in der Paulskirche eine überaus konzentrierte Atmosphäre geschaffen, in der man erahnen konnte, wie anspruchsvoll die Beratungen der Politiker von 1848 gewesen sein mochten.

Die Paulskirche ist ein Gebäude in der Innenstadt. Sie entstand von 1789 an als Ersatz für die mittelalterliche Barfüßerkirche. Dieses Gotteshaus, das als Hauptkirche der Protestanten ein Zentrum der Auseinandersetzung zwischen Lutheranern und Calvinisten gewesen ist, war baufällig geworden. Stadtbaumeister Johann Andreas Liebhardt schlug vor, die Barfüßerkirche durch einen ovalen Hallenbau mit einem Kuppeldach und einem Turm an der westlichen Seite der Kirche zu ersetzen. Während Jakobiner und Girondisten, so wie es die Legende will, in Paris die Bastille stürmten, begann man in Frankfurt mit den Arbeiten an der neuen Kirche, die aus rotem Mainsandstein errichtet werden sollte. Knappe Mittel und fortwährende Koalitionskriege sorgten dafür, dass es mit dem Bau ausgesprochen langsam voranging, das Gebäude erst nach fast vier Jahrzehnten fertig wurde. 1833 legten die Lutheraner fest, die Kirche nach dem Heiligen Paulus, dem Apostel, zu benennen.

Als Gotteshaus spielt die Paulskirche heute im bundesrepublikanischen Bewusstsein überhaupt keine Rolle. Die Paulskirche ist gleichwohl ein bedeutender Ort der Gegenwart, an dem man zu den Jahrestagen des 20. Juli des Widerstands gegen Hitler gedenkt. Aber auch ein Ort, an dem die Handwerkskammer junge Meister ehrt und der Börsenverein des Deutschen Buchhandels jedes Jahr am Sonntag der Buchmesse seinen Friedenspreis vergibt. 1998, als die Römerberggespräche es schafften, mit Ulrich Beck, Richard Sennett und Daniel Cohn-Bendit die Sehnsüchte der Demokraten zu bündeln, ging diese international renommierte Auszeichnung an den Schriftsteller Martin Walser. An der Stelle, an der der Theoretiker der Risikogesellschaft über den Reiz der Bürgergesellschaft für eine gefestigt wirkende Republik gesprochen hatte, klagte Walser Monate später über die Schwere der Last, die sich für ihn mit »der moralischen Keule« verbinde, die man in Deutschland im Zusammenhang mit Auschwitz schwinge.

Da dachten viele, dass die Paulskirche so etwas eigentlich nicht verdient habe. Petra Roth auch. Walser konnte nichts über die Erinnerungskultur in Frankfurt wissen, gar nichts, sonst, setzte Petra Roth seiner Rede entgegen, würde er so etwas an diesem Ort nicht sagen können. Nicht in ihrer Paulskirche, in die Frankfurter sonntags zu außergewöhnlichen Anlässen wie beispielsweise der Verleihung des Ludwig-Börne-Preises gehen. Bevor diese Auszeichnung oben im Saal der Paulskirche vergeben wird, kommt Petra Roth unten im Erdgeschoss im Inneren der Rotunde mit dem Preisträger und den Stiftern des Preises zusammen. Das wartende Publikum schaut sich derweil das Wandgemälde »Der Zug der Volksvertreter« an, das Johannes Grützke für den Rundgang der Kirche entworfen hat: Angesichts dieses Kunstwerks können sich Heutige durchaus vorstellen, wie die Abgeordneten damals zusammenkamen. Im Namen der Demokratie und des Aufbruchs. Im März 1848.

Grützkes Werk vom Anfang der 1990er Jahre verleiht den Parlamentariern, die den ermordeten Revolutionär Robert Blum auf ihren Händen tragen, eine erstaunliche Dynamik. Unter den unerschrockenen Bürgern findet sich Heinrich Freiherr von Gagern, der spätere Präsident der Frankfurter Nationalversammlung. Der Sympathisant des »Reformvereins« wohnte in der Großen Bockenheimer Straße 29, die heutzutage auch »Fressgass« heißt. Mit Männern wie dem Freiherrn oder auch aktuellen Protagonisten und wiederkehrenden Gästen der Paulskirche wie beispielsweise Wolfgang Schäuble verknüpft Petra Roth den Eindruck einer gewissen Begeisterung, die sich unbedingt mit den Angelegenheiten, die in der Paulskirche verhandelt werden, verbinden sollten: Gagern und der heutige Finanzminister machen Politik aus Leidenschaft. Ohne diese Ressource lässt sich Politik nicht gestalten, sagt Petra Roth. Diese Einsicht gehört zu ihren Grundüberzeugungen. Politik ist in der Sicht Petra Roths zu Beginn des 21. Jahrhunderts vielleicht sogar mehr denn je auf gute Ideen angewiesen.

In diesem Sinne gehört die Paulskirche zu Frankfurts ganz besonderen Orten. Als Erinnerungsstätte ist sie für Petra Roth eine Verpflichtung, weil Politik an dieser Stelle stets auch die Frage mitzudenken hat, was Demokratie eigentlich ist. In der Paulskirche lassen sich neue Dimensionen dessen erschließen, was man gemeinhin Herausforderung nennt. Denn zum Wesen der Demokratie, davon ist Petra Roth fest überzeugt, gehört der ständige Wandel, weil sich eine Stadtgesellschaft wie die Frankfurter in rasantem Tempo verändert. Die Antwort auf diesen Prozess findet sich nicht allein dort, wo Politik glaubt, unterschiedliche Interessen und Ansprüche vermitteln zu sollen. Für Petra Roth muss es eine über den Tag hinausgehende Perspektive geben, um nach reichlichem Nachdenken sagen zu können: »Frankfurt hat Zukunft.« Gleichzeitig ist dieser Erinnerungsort selbst auch Geschichte, die sich nach wie vor mit der Entstehung der Nationalstaaten in Europa verbindet. Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts setzt mit der Industrialisierung und der Ausweitung der Handelsbeziehungen eine erste Phase der Globalisierung ein, die mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ein jähes Ende findet. Insofern hat sich für Petra Roth die Fragestellung erweitert: Was ist Demokratie eigentlich, und was meint Bürgerrecht heute?

Im Jahr nach den intensiven Debatten über Walsers Rede erhielt übrigens der Historiker Fritz Stern in der Paulskirche den Friedenspreis. »Ich musste mich fragen«, notiert er in seinen Erinnerungen Fünf Deutschland und ein Leben später, »ob ich die Ehre nicht Walser verdankte, ob man mich nicht als eine Art Gegengift gegen ihn ausgesucht hatte.« Man habe ihm versichert, dass es nicht so gewesen sei. Auf jeden Fall aber sei mit der Auszeichnung »Unruhe in mein Leben« gekommen. In den Vorbereitungen auf seine Dankesrede habe er beobachten können, wie sich Neugier darauf entwickelt habe, ob er denn wohl etwas über Walsers Äußerungen und den erbitterten Streit mit dem damaligen Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, sagen werde.

Am Tag des Ereignisses selbst erinnert sich Fritz Stern daran, dass es bei ihm schon eine gewisse Aufregung gegeben habe. Das Stadtoberhaupt konnte sie ihm nehmen. Im Augenblick der Unruhe habe ihm Petra Roth, »die liebenswürdige CDU-Oberbürgermeisterin Frankfurts«, eine Freude bereitet. Sie sei in ihrer Rede bei der Preisverleihung auf seine Hoffnungen für und seine Sorgen um das neue Deutschland eingegangen und habe dann eine Antwort zitiert, »die ich einmal auf den berühmten Proust-Fragebogen gegeben hatte, der, von Magazin-Herausgebern sehr geschätzt, nach den persönlichen Wertvorstellungen und Erfahrungen fragt; meine Lieblingstätigkeit hatte ich darin als ›Wandern mit Einfällen‹ angegeben.«

Er selbst habe in diesem Augenblick an Erkundungen in Sils Maria gedacht, setzte Stern hinzu, Petra Roth aber »deutete das sehr großzügig so, als sei ich sehr häufig auf Achse«.

Auf der schattigen Seite der Braubachstraße

Das Dienstzimmer der Frankfurter Stadtoberhäupter ist nicht immer auf dieser eher schattigen Seite des Römers zur Paulskirche gewesen. Walter Kolb, Frankfurts erstes Stadtoberhaupt nach dem Krieg, hatte es auf den Flügel des Rathauses zur Braubachstraße hin verlegt, weil es ihm auf der gegenüberliegenden Seite des Römers zum Main hin gewandt zu heiß wurde. Der auch für seine Körperfülle bekannte Sozialdemokrat, mit dem sich die Phase des Wiederaufbaus einer von Brandbomben des Zweiten Weltkriegs schwer beschädigten Stadt verbindet, richtete sich in dem etwa siebzig Quadratmeter großen Raum zur Paulskirche hin ein. Seitdem findet sich dort der Amtssitz der Oberbürgermeister.

Petra Roth hat das Dienstzimmer nach ihrer dritten Wiederwahl Anfang 2007 neu gestalten lassen: modern, minimalistisch, und – wie immer – stilsicher. Hinter fünf Meter hohen Schrankwänden ließ der bekannte Frankfurter Architekt Christoph Mäckler Akten und Stadtpläne verschwinden. Ein kleiner Raum findet sich hinter einer dieser Türen. Durch ihn gelangt man auf den Balkon des Stadtoberhaupts. Dorthin bittet Petra Roth bei gutem Wetter ihre Gäste. In dem kleinen Raum bietet sich für seltene Augenblicke die Möglichkeit, auf einer Couch ein bisschen Ruhe zu finden. Von diesem Zimmerchen aus gibt es einen Zugang zu einem Wandelgang, über den sich »die OB« einen weitgehend unbemerkten Zugang von ihrem Büro aus zur Paulskirche eröffnen kann.

An diesem 1. November sitzt Petra Roth in der Mitte des massiven Tisches, eingerahmt von zwei jungen Männern: Uwe Becker und Boris Rhein. Beide hatten nie einen Zweifel daran aufkommen lassen, dass sie Roth beerben wollten. Zu attraktiv erschien ihnen dieses Amt, das Roth erst zu richtiger Blüte gebracht hat. Nun erspart sie ihrer Partei wie der gesamten Stadt einen monatelangen Schaukampf, von dem sie dachte: So ein Ringen um die Macht bietet den Stoff, aus dem Zerreißproben für die Partei sind. Schließlich wären zwei Flügel der CDU aufeinander geprallt: die ständig um ihren Einfluss ringenden Kolpingleute gegen die wirkungsmächtigeren Mittelständler. Auf wessen Seite sich Petra Roth verortet, ist klar: Sie zählt sich zum Sozialflügel, für den auch Becker steht. Rhein hingegen ist ein Mann der Mittelstandsvereinigung, ein eher der Wirtschaft nahestehender Kreis.

1. November, zweite Runde

Eine Stunde nach dem Treffen der Dezernenten dienstags morgens versammeln sich die Stadträte der schwarz-grünen Koalition. Das ist auch an diesem im kleinsten Kreis gut vorbereiteten Dienstag so. Bevor die Presse um elf Uhr informiert wird, erlangen zunächst die Koalitionäre Kenntnis von dem Entschluss, der im kleinen Kreis von Vertrauten seit der Rückkehr von der Reise nach Polen allmählich gereift ist. Um Punkt elf Uhr läuft dann folgende Mitteilung über das städtische Presse- und Informationsamt:

 

 Dienstag, 01. November 2011

OB Roth verzichtet auf letztes Jahr ihrer dritten Amtszeit

(pia) Oberbürgermeisterin Petra Roth verzichtet auf das letzte Jahr ihrer dritten Amtszeit an der Spitze der Frankfurter Stadtregierung. Mit ihrer am Dienstag im Römer bekanntgemachten Entscheidung will die CDU-Politikerin bereits 2012 den Generationenwechsel an der Spitze der Stadtregierung möglich machen.

Roth regiert seit 1995 mehr als sechzehn Jahre in Frankfurt am Main. Sie setzte sich in drei Direktwahlen mit großer Wählerzustimmung erfolgreich durch. Mit ihrem Wirken verbindet sich die Rückeroberung des Mainufers als Lebensraum, die Bebauung der Altstadt, der Ausbau des Flughafens, der Verbleib und der Neubau der Europäischen Zentralbank, der Wandel der Goethe-Universität zur Stiftungsuniversität und der Ausbau des Campus Westend, die Idee für den Kulturcampus, die Fortschreibung des Hochhausrahmenplans und das Entstehen des Europaviertels.

Petra Roth steht für gelungene Integration, für den interreligiösen Dialog, für Wirtschaftswachstum, für eine wirtschaftsfreundliche Politik, die sich mit der Senkung des Hebesatzes für die Gewerbesteuer verbindet, für die sichere und damit attraktive Metropole, für das Gebot der Nachhaltigkeit als einer Kernkompetenz, die aus dem christlichen Schöpfungsgedanken erwächst. Mit Petra Roth hat sich Frankfurt am Main zu einer liberalen und toleranten internationalen Bürgerstadt entwickelt, die für Bürger Heimat ist und Kindern gute Möglichkeiten für einen erfolgreichen Bildungsweg bietet.

Als ihren Nachfolger empfiehlt Petra Roth ihren Parteifreund und früheren Frankfurter Stadtrat Boris Rhein als aussichtsreichen Bewerber. Rhein ist im Augenblick Hessens Innenminister und Vorsitzender der Frankfurter CDU. »Boris Rhein hat das Zeug, das exponierte Amt des Frankfurter Oberbürgermeisters mit Tatkraft, Ideen und Durchsetzungsvermögen auszufüllen«, sagte Petra Roth.

 

FSV