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Alfred Bekker

Zwergenkinder #3 und 4: Doppelband

Abenteuer aus dem Zwischenland der Elben





BookRix GmbH & Co. KG
81371 München

Zwergenkinder #3+4

von Alfred Bekker

 

Der Umfang dieses Buchs entspricht 330 Taschenbuchseiten.

 

Dieses Buch enthält die beiden Romane:

Alfred Bekker: Die Dracheninsel der Zwerge

Alfred Bekker: Der Kristall der Zwerge

 

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

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© dieser Ausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

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DIE DRACHENINSEL DER ZWERGE

Zwergenkinder 3

von Alfred Bekker

 

Auf der Suche nach sieben magischen Gegenständen, mit denen Tomli, Arro und Olba ihre Welt vor dem Untergang retten können, reisen die drei durch unbekannte Länder und begegnen dabei vielen Gefahren. Die Zwergenkinder Tomli, Arro und Olba machen sich auf zur fernen Vulkaninsel Rugala. Inmitten von Lavaströmen und Geysiren leben dort Drachen, deren Schuppen magische Eigenschaften besitzen. Eine davon müssen ihnen die Gefährten entwenden. Doch nicht nur der Weg nach Rugala ist weit und beschwerlich – die Drachen verbrennen mit ihrem Feuer jeden, der sich ihnen nähert …

 

 

Schlangenköpfe und Zwergenmagie

Das Schiff schaukelte ohne Unterlass.

Tomli hielt sich mit beiden Händen an der Reling fest und murmelte eine magische Formel gegen die Seekrankheit, die ihn peinigte. Er stammte aus Ara-Duun, einer zum Großteil unterirdisch gelegenen Zwergenstadt inmitten der heißen Wüste der Sandlande. Das Meer war ihm daher völlig fremd. Er konnte sich einfach nicht daran gewöhnen, keinen festen Boden unter den Füßen zu haben.

Er blinzelte. Die Sonne brannte vom Himmel, dennoch blähte ein kräftiger Wind die Segel der „Sturmbezwinger“. Die Rufe der Seeleute vermischten sich mit dem Brausen und Pfeifen des Windes. Gischt spritzte Tomli ins Gesicht. Wenn wir nur endlich am Ziel wären!, ging es ihm durch den Kopf.

Tomli war der Lehrling eines Zwergenzauberers. Mit den Fingerspitzen berührte er den Zauberstab, den er sich hinter den Gürtel gesteckt hatte, und bekämpfte die erneut aufkommende Übelkeit wieder mit Magie. Diese Magie konnte zwar nicht dafür sorgen, dass er sich jemals auf einem Schiff richtig wohlfühlen würde, aber immerhin vertrieb sie die Seekrankheit zumindest zeitweise ein wenig. Die Wirkung war auf jeden Fall besser als die der Heilkräuter, die ihm sein elbischer Gefährte Lirandil empfohlen hatte.

Auf einmal spürte Tomli, dass da noch etwas war.

Jemand!, durchfuhr es ihn siedend heiß. Irgendein Wesen, und es befand sich ebenso in der Luft, die er atmete, als auch in dem salzigen Meerwasser mit den hohen Wellen. Tomli spürte, dass es da war, auch wenn er es noch nicht sehen oder hören konnte.

Die Gewässer am Kap von Hiros, wo sich das Südmeer und das Pereanische Meer trafen, waren bekannt für geisterhafte Erscheinungen aller Art. Hier bildeten sich viele Strudel, und die Elementargeister waren in ständiger Aufruhr. Im Hafen von Teban hatte man Tomli und seine Gefährten vor diesen Gewässern gewarnt.

Eine Welle hob sich plötzlich höher als die anderen empor. Darauf bildete sich eine Schaumkrone, obwohl das Meer am Kap von Hiros sehr tief war, sodass sich die Welle unmöglich brechen konnte.

Eine Wassersäule entstand, die sich hoch in den Himmel schraubte, und ein ohrenbetäubendes Brausen übertönte jeden anderen Laut. Es klang wie eine Mischung aus einem tosenden Sturm und dem Fauchen eines wilden Tieres. Die aufgeregten Rufe der Seeleute gingen darin unter.

Tomli rief nach seinem Zaubermeister Saradul, der unter Deck war, denn auch ihm setzte die Seekrankheit schwer zu. Doch Tomli rief ihn nicht mit seiner Stimme, sondern mit der Kraft seines Geistes. „Meister hilf mir!“, sandte er einen Gedanken, den er magisch verstärkte, damit Meister Saradul ihn auch verstand.

Die Wassersäule nahm eine neue Form an und bildete einen gewaltigen Schlangenkopf. Das Wasser, aus dem er bestand, musste mit Magie aufgeladen sein, denn es verhielt sich gegen alle Naturgesetze und wirkte fast wie aus Glas. Jener unheimliche Geist, den Tomli zuvor schon dunkel erahnt hatte, formte das Wasser offenbar ganz so, wie es ihm beliebte.

Die Seeleute versuchten, das Schiff von dieser unheimlichen Kreatur fortzulenken, die sich immer weiter aus den Wellen reckte. Aber das Segel flatterte nur hin und her. Nicht nur das Wasser, auch die Winde wurden von der fremden Magie beeinflusst, denn sie bliesen gleichzeitig aus unterschiedlichen Richtungen. Der Steuermann war vollkommen hilflos.

Das Maul des aus Wasser geformten Geschöpfs öffnete sich. Es war so groß, dass die „Sturmbezwinger“ vom Kiel bis zur Mastspitze darin Platz gehabt hätte.

Zähne aus erstarrtem Wasser bildeten sich, und Augen leuchteten so grell auf, als würde man geradewegs in die Sonne sehen, sodass Tomli schützend die Hand hob, um nicht geblendet zu werden. Das Schiff drehte sich seitwärts, so als wäre es in einen Strudel geraten. Ein Sog entstand, denn das Wesen zog immer mehr Wasser zu sich heran, das seinen Körper anwachsen ließ. Arme bildeten sich und Dutzende von Hälsen, an deren Enden sich ebenfalls schlangenähnliche Köpfe befanden, nur waren sie kleiner als das eigentliche Haupt des Wassermonsters.

Das Schiff trudelte unaufhaltsam auf das immer gewaltiger werdende Wesen zu und drehte sich dabei immer schneller. Der Mast ächzte. Es war beinahe unmöglich, an Deck nicht den Halt zu verlieren. Tomli klammerte sich an die Reling. Aus den Augenwinkeln bekam er mit, wie der Zentaur Ambaros mit seinem pferdeartigen Unterkörper übers Deck rutschte. Für dieses Mischwesen aus Pferd und Mensch war es natürlich besonders schwierig, sich unter diesen Umständen auf den Beinen zu halten. Die Hufe fanden so gut wie keinen Widerstand auf den nassen, glitschigen Planken.

Für einen Augenblick hatte Tomli das Gefühl, dass sich der Schiffsboden unter ihm senkte. Und tatsächlich rutschte das Schiff in ein tiefes Wellental, umgeben von einer Wasserwand, die die Mastspitze überragte. Von oben stieß das Maul der gewaltigen Kreatur herab, während sich die kleineren Köpfe von allen Seiten nach dem Schiff streckten.

Tomli griff nach dem Zauberstab. Der aus verschiedenen Richtungen gleichzeitig brausende Wind zerrte so heftig an ihm, dass er sich, nur mit einer Hand, nicht an der Reling festhalten konnte, und so rutschte er seitlich über die Planken.

Er hielt den Zauberstab empor und rief eine magische Formel, die im ohrenbetäubenden Getöse allerdings kaum zu hören war. Doch darauf kam es nicht an, einzig und allein die Stärke des Gedankens war entscheidend, das hatte Tomli während seiner Ausbildung zum Zauberlehrling von Meister Saradul gelernt.

Er nahm all seine Kräfte zusammen und konzentrierte sie auf den Stab. Aus dem schoss ein Lichtstrahl aus gebündelter Magie. Schwarzes und weißes Licht mischte sich auf eigenartige Weise und traf den großen Kopf des Wesens, der daraufhin aufglühte und sich verformte.

Die Geräusche veränderten sich. Aus dem Tosen und Fauchen wurde ein Laut, der so tief war, dass man ihn im Magen spürte. Tomli war ganz benommen und hatte das Gefühl, einen Schlag abbekommen zu haben.

Währenddessen zerfloss der Kopf des Wesens. Hell wie die Sonne leuchtende Tropfen regneten herab. Wo sie auf die Planken trafen, hinterließen sie dunkle Brandflecken, nachdem sie zu gewöhnlichem Wasser zerflossen waren.

Tomli wiederholte die Formel. Es war ein Schutzzauber – einfach, aber wirksam. Allerdings hatte der Zwergenjunge Zweifel daran, ob er mit diesem einfachen magischen Mittel das Geschöpf tatsächlich abwehren konnte. „Meister Saradul, so greift doch ein! Empfangt Ihr denn meine Gedanken nicht?“, sandte Tomli eine verzweifelte Botschaft.

Ein weiteres Mal ließ er einen Strahl geballter magischer Kraft aus dem Ende des Zauberstabs schießen. Der Stab selbst glühte auf und wirkte schon nach wenigen Augenblicken so, als würde das messingfarbene Metall, aus dem er bestand, jeden Moment schmelzen.

Aus den Augenwinkeln bemerkte der Zwergenjunge den rothaarigen Halbelben Olfalas, der zu Boden geworfen worden war, sich aber nun aufraffte und zu seinem Bogen griff, den er auf dem Rücken getragen hatte, dort, wo sich auch der Köcher mit den Pfeilen befand.

Er schoss einen der Pfeile ab und bewegte dazu die Lippen. Offenbar wandte er Elbenmagie an, denn der Pfeil glühte auf und nahm eine den Naturgesetzen völlig widersprechende Flugbahn. Er durchdrang insgesamt fünf Köpfe des Wesens und zog seine Bahn schließlich so, dass er auch den immer massiger werdenden Körper traf.

Die getroffenen Köpfe verformten sich kurz, während sie aufglühten, nahmen dann aber wieder ihre ehemalige Gestalt an.

Tomli konnte die Wut des Wesens spüren. Es war kein richtiger Gedanke, der ihn erreichte, sondern nur dieses fremde Gefühl. All die Köpfe gehörten zu einem einzigen Geschöpf, erkannte der junge Zwerg.

Noch einmal nahm er seine magischen Kräfte zusammen, wollte bereits erneut die Formel rufen. Die Wasserwände, die das Schiff umgaben, drohten über der „Sturmbezwinger“ zusammenzubrechen, und das hätte unweigerlich das Ende für alle an Bord bedeutet. Wer konnte sie noch retten, wenn diese Fluten sie erst einmal in die Tiefe rissen?

Mit unnatürlicher Langsamkeit bewegte sich das Wasser, so als wäre es durch die Magie auf einmal zähflüssig geworden. „Nimm diesen Zauber!“, erreichte Tomli auf einmal ein Gedanke seines Lehrmeisters Saradul. „Sprich mir nach!“

Und Tomli rief die Worte, die Meister Saradul auf geistiger Ebene an ihn übertrug und wahrscheinlich unter Deck mitsprach.

Diesmal zischte ein wasserblauer Strahl aus dem Zauberstab, und ein zweiter bohrte sich von unten durch die Deckplanken des Schiffes, durchdrang das fest vernutete Holz, ohne es zu beschädigen. Beide Strahlen vereinigten sich, leuchteten dabei hell auf und trafen den schlangenartigen Kopf des Wesens, der sich inzwischen neu gebildet und seine alte Form wieder angenommen hatte.

Ein Schrei gellte.

Bei dem Sturmgetöse wunderte sich Tomli im ersten Moment, dass er ihn überhaupt vernahm, bis ihm bewusst wurde, dass er mit Gedankenkraft ausgestoßen wurde. Er war nicht für die Ohren bestimmt, sondern für die Seele.

Diesmal war die magische Kraft, die dem Geschöpf entgegengesetzt wurde, offenbar stark genug, um es niederzuzwingen. Der Hauptkopf zerfloss. Das Wasser, aus dem er bestanden hatte, sprühte durch die Luft, glühte allerdings nicht auf und brannte sich nicht in die Planken, wie es bei dem Zauber gewesen war, den Tomli angewandt hatte. Dafür bildeten sich daraus Formen, die entfernt an kleine Schlangen, Würmer oder Greifarme eines Oktopus erinnerten, sich dann aber wieder auflösten und auseinanderflossen.

Ein Ruck ging durch das Schiff. Tomli umklammerte mit der einen Hand seinen Zauberstab und griff mit der anderen nach einem herumhängenden Tau, fand daran aber keinen Halt. Er rutschte zur anderen Seite der „Sturmbezwinger“ und hielt sich dort an der Reling fest. Für einen Moment hatte er das Gefühl, doppelt so schwer zu sein wie gewöhnlich.

Das Schiff wurde angehoben. Das Wasser stieg und drückte es empor, während im gleichen Maße die Wasserwände, die es umgaben, schrumpften und sich die Schlangenköpfe zurückzogen.

Die „Sturmbezwinger“ machte einen Satz, dann knallte sie auf die aufgewühlte Wasseroberfläche. Der Quermast mit dem Segel kam herab, und Tomli wurde unter dem Segeltuch begraben. Er konnte nichts mehr sehen, spürte nur, wie das Schiff völlig steuerlos auf den Wellen tanzte, im Moment nichts weiter als ein Spielball höherer Kräfte. Wasser spritzte über die Reling und tränkte das Segeltuch.

Wieder spürte Tomli die Anwesenheit des Wesens, das offenbar im Wasser selbst existierte und es nach seinem Belieben zu formen vermochte. Diesmal allerdings war es nicht nur ein Gefühl, sondern eine sehr viel klarere Botschaft, die ihn erreichte, so konzentriert, dass sie in seinen Gedanken deutliche Worte bildete. „Fort! Fort von hier! Fahrt nicht weiter, oder es wird euer Verderben sein!“



An Bord der 'Sturmbezwinger'

Die „Sturmbezwinger“ trieb im noch immer starken Wellengang.

Tomli kroch unter dem herabgefallenen Segel hervor und kämpfte sich auf die Beine. Er steckte den Zauberstab ein und hielt sich dann mit beiden Händen an der Reling fest. Gischt spritze ihm ins Gesicht, woraufhin er regelrecht zusammenzuckte und zitterte, denn von den Tropfen ging eine Kälte aus, wie der Zwergenjunge sie nie zuvor verspürt hatte. Nicht einmal im dunkelsten Höhlengang der Zwergenstadt Ara-Duun hatte er derart gefroren. Man musste nichts von Magie verstehen, um zu ahnen, dass diese Kälte nicht natürlichen Ursprungs war. „Flieht fort von hier!“, raunte die Gedankenstimme des Wasserwesens, die er schon zuvor vernommen hatte, doch diesmal war sie noch drängender.

„Lass dich nicht irre machen, Tomli!“, rief Meister Saradul, der Zwergenmagier, der inzwischen unter Deck hervorgekommen war.

Unter dem Segel strampelte sich nun auch der Zentaur Ambaros frei, und Olfalas half ihm, sich von dem nassen Tuch zu befreien.

„Bleibt besser am Boden, bis sich die See beruhigt hat, werter Ambaros“, riet Lirandil dem Zentaur. Der grauhaarige Fährtensucher aus dem Volk der Elben hatte das ganze Chaos mit einer selbst für ihn ungewöhnlichen Ruhe hingenommen.

Nun wandte er sich an Olfalas, seinen Schüler. „Siehst du die magischen Wesen?“ Er streckte die Hand aus und deutete zum Mast. Für menschliche Augen wären die winzigen, scheinbar lebendig gewordenen Tropfen, die sich darauf befanden, gar nicht zu sehen gewesen, und schon gar nicht die krakenähnlichen Beine, die sie ausgebildet hatten und mit denen sie wie kleine Spinnen empor zur Mastspitze eilten, um von dort aus mit einem weiten Satz zurück ins Meer zu springen. Es waren unzählige dieser kleinen Wesen, manche nicht größer als ein Stecknadelkopf – aber für die scharfen Augen eines Elben war es keine Schwierigkeit, jede Einzelheit dieser winzigen Geschöpfe zu erkennen, selbst ihre Gesichter und den Ausdruck darin.

„In meiner Heimat sind Wassergeister eine Plage, seit man zurückdenken kann“, sagte Olfalas. „Mein Vater erzählt, dass sie dort bereits lange, bevor die ersten Elben dort siedelten, ihr Unwesen trieben.“

Olfalas stammte aus Meerland, dem fernsten Teil des Elbenreichs. Sein Vater war Herzog Asagorn, ein hoch gewachsener Elb mit spitzen Ohren und schräg gestellten Augen. Seine Mutter hingegen war eine Menschenfrau mit feuerrotem Haar; sie hatte Herzog Asagorn auf einer seiner Seereisen kennengelernt.

Olfalas war also ein Halbelb, der von seinem Vater die spitzen Ohren und von seiner Mutter das feuerrote Haar geerbt hatte. Lirandil, der weise Fährtensucher der Elben, unterrichtete ihn in seiner Kunst, die vom Aussterben bedroht war. Er war selbst für einen fast unsterblichen Elben schon sehr alt, obwohl man ihm das nicht ansah. Er hatte bereits gelebt, als die Elben vor vielen Zeitaltern noch in ihrer Alten Heimat, im fernen Athranor, gesiedelt hatten.

Niemand unter den Elben war so weit gereist und hatte so viele verschiedene ferne Länder gesehen wie Lirandil. Zudem gehörte er zu den wenigen, die die alte Kunst der elbischen Fährtensucher, eine Spur aufzunehmen und bis an ihr Ende zu verfolgen, noch auf klassische Weise beherrschte. Lirandil hatte sich zwar immer wieder darum bemüht, sein einzigartiges Können des Spurenlesens an jüngere Elben weiterzugeben, aber nur wenige unter den Angehörigen des sogenannten Lichtvolkes waren bereit, die Mühen auf sich zu nehmen, die damit verbunden waren.

Mit Olfalas war Lirandil allerdings im Großen und Ganzen zufrieden.

„Es muss ein sehr starker Wassergeist sein“, stellte Lirandil fest. „So stark, wie sie nur in den Legenden der Alten Zeit von Athranor beschrieben werden.“

„Die Wassergeister vor der meerländischen Küste formen sogar noch größere Ungeheuer“, wandte Olfalas ein. „Eines dieser Monstren habe ich selbst gesehen, als ich auf dem Schiff meines Vaters mitfuhr. Es wagte sich allerdings nicht bis an die Küste, sondern blieb weiter draußen auf dem Meer.“

„Und wie ich annehme, mied es euer Schiff“, vermutete Lirandil.

„Ja, das trifft zu.“

„Siehst du, mein Schüler. Das ist der Unterschied zu diesem Wassergeist. Seine innere Stärke kann man nicht an der Größe der Ungeheuer erkennen, die er formt, sondern an anderen Dingen, etwa daran, wie weit sein Einfluss reicht. Ich spüre, dass er bereits weit entfernt ist, und doch formte seine Kraft noch die Tropfen am Mast.“

Bis zu diesem Punkt lauschte Tomli dem Gespräch zwischen Lirandil und seinem Schüler, dann wurde er abgelenkt. Gomling, ein Mensch und der bärtige Kapitän der „Sturmbezwinger“, trieb seine Mannschaft mit durchdringender Stimme an, damit sie das Schiff klar zur Weiterfahrt machte. Die langen Ruder wurden ausgefahren. Es musste verhindert werden, dass die „Sturmbezwinger“ weiter abtrieb.

Gut drei Wochen waren vergangen, seit Tomli und seine Gefährten im Hafen von Cosan das Schiff bestiegen hatten, und in dieser Zeit hatte Tomli immer wieder gehört, wie sich die Seeleute über die tückischen Strömungen vor Kap Hiros unterhalten hatten. Offenbar hatten sie schon manches Schiff hinaus auf das Südmeer getrieben, bis in jenes Gebiet, wo das Wasser angeblich kochte und Blasen giftiger Dämpfe an die Oberfläche stiegen. Die machten es zumindest für Menschen unmöglich, weiter in jenes Meer vorzudringen.

Die Seeleute hatten sich aber auch Geschichten über Wesen erzählt, die mit ihren übernatürlichen Kräften Schiffe ins Verderben zogen. Schiffe, von denen man nie wieder etwas gehört hatte.Gerade erst zwei Tage zuvor, als die „Sturmbezwinger“ im Hafen von Hiros gelegen hatte, um Proviant und frisches Wasser an Bord zu nehmen, war Tomli mit den anderen auf dem Markt gewesen, wo die Menschen von grauenhaften Wesen berichtet hatten, die draußen im Südmeer ihr Unwesen trieben und sich manchmal sogar der Küste so weit näherten, dass man sie als düstere Schatten am Horizont sehen konnte.

Jeden Tag wurden von den Türmen von Hiros dressierte Vögel in die Ferne geschickt. Es waren Adler, die nur im Nordwesten von Rhagardan lebten. Sie waren nicht nur besonders groß – manche maßen von der Schnabelspitze bis zum Ende der Schwanzfedern mehr als vier Schritte –, sondern galten zudem als die gelehrigsten Greifvögel überhaupt, und ihre Augen waren so scharf wie die der Elben.

Wenn sich einer der unheimlichen Geister des Meeres näherte, sahen diese Adler ihn als Erste und warnten die Bewohner der Hafenstadt, dann durfte kein Schiff den Hafen von Hiros mehr verlassen.

Als sich Tomli und seine Gefährten in Hiros befanden, waren die großen Seetore der Hafeneinfahrt allerdings offen gewesen, und so waren sie davon ausgegangen, dass derzeit keine Gefahr bestand. Offenbar war das sich nähernde Unheil selbst den scharfen Augen der Vögel entgangen.

Tomli entdeckte seinen Freund Arro unter einem Wust von dicken Tauen aus der Takelage. Der stämmige Zwergenjunge versuchte verzweifelt, sich daraus zu befreien. Die riesige Streitaxt, die er in einem Futteral auf dem Rücken trug, war ihm dabei sehr hinderlich, und sein Helm war verrutscht.

„Warte, ich helfe dir“, bot Tomli an.

„Du brauchst keine Angst zu haben, dass Ubraks Streitaxt verloren geht“, ächzte Arro, der für einen Zwergenjungen seines Alters über enorme Körperkräfte verfügte, da er das Handwerk eines Schmieds erlernte. Allerdings bewegte er sich sehr ungestüm, sodass ihm die Axt aus dem Futteral fiel.

„Vorsicht, Vorsicht!“, rief Tomli.

„Ubraks Streitaxt ist nicht so empfindlich, dass sie gleich entzweigeht, wenn sie mal zu Boden fällt“, versicherte Arro. „Und ihre Magie wird sie deswegen sicherlich auch nicht verlieren. Also mach dir mal keine Sorgen.“

„Trotzdem“, beschwerte sich Tomli. „Es war schwierig genug, diese Axt in unseren Besitz zu bekommen.“

„Ich bin kein Trottel, Tomli!“

„Dazu sage ich jetzt mal nichts“, murmelte der Zauberlehrling.

„Und unser Vorfahr Ubrak war wohl mindestens ein so guter Schmied wie ich!“ Arro stieß das dicke Seil so wütend von sich, als wäre es eine Riesenschlange. Und tatsächlich bewegte es sich schlangenartig, als es zu Boden fiel.

Tomli sprang einen Schritt zurück. Er riss den Zauberstab hervor, rief eine Formel und ließ einen Lichtstrahl hervorschießen, der zischend das Seil traf, das die spritzende Gischt mit Wasser getränkt hatte.

Der Großteil dieses Wassers verdampfte nun, stieg als graue, wabernde Nebelwolke auf, die Arme und Gesichter bildete, ehe sie sich auflöste. Einige wenige Tropfen krabbelten auf ihren winzigen Beinen davon und entflohen über die Reling ins Meer.

Das Seil war völlig verkohlt und bewegte sich nicht mehr, und die Schiffsplanken darunter wiesen einen großen Rußfleck auf.

„Du musst deine Kräfte besser dosieren!“, rief Meister Saradul mahnend. Und im selben Moment schoss auch er einen Strahl ab, der haarscharf an Tomli vorbeizischte. Im Gegensatz zu dem magischen Feuerwerk, das Tomli soeben veranstaltet hatte, wirkte dieser Strahl eher schwach. Er war auf ein anderes Seil gerichtet, das sich unbemerkt und wie ein Greifarm um den Griff von Ubraks Streitaxt gelegt hatte. Tomli hatte es überhaupt nicht bemerkt.

Meister Saraduls Zauber war allerdings um einiges effektiver als der seines Schülers. Kein Rußfleck entstand, das Seil verkohlte nicht, nur ein wenig Dampf stieg auf, und Tomli spürte den ärgerlichen Gedanken des Wassergeistes wie einen fernen Ruf. Der Wassergeist war im Moment wohl tatsächlich weit weg und sein Einfluss dementsprechend kläglich.

„Siehst du, so macht man das, Schüler“, sagte Saradul mit einem zufriedenen, listigen Lächeln.

„Ja, Meister Saradul“, antwortete Tomli bedrückt.

Meister Saradul kratzte sich in seinem dichten Bart, dann rückte er sich den Helm zurecht. Seinen Zauberstab hatte der stämmige Zwerg gar nicht benutzt, der Strahl war geradewegs aus seinen Fingerspitzen gedrungen. Allerdings war der Stab auch nicht die Quelle seiner magischen Kraft, sondern nur ein Hilfsmittel, um sie zu konzentrieren, doch dieses Hilfsmittel brauchte ein erfahrenes Mitglied der Zaubermeisterbruderschaft der Zwergenstadt Ara-Duun nicht unbedingt.

Tomli hingegen hatte noch immer Schwierigkeiten, seine Kräfte zu dosieren, was schon so manches Mal für Chaos und Durcheinander gesorgt hatte. Ein Zauber, der mit zu viel Magie gewirkt wurde, konnte verheerende Folgen haben und bewirkte mitunter etwas ganz anderes als beabsichtigt war. Das richtige Maß zu finden war gar nicht so einfach. Vor allem dann, wenn man ohne Vorwarnung angegriffen wurde, wie soeben von dem Wassergeist.

Die Seeleute hatten ihre Tätigkeiten unterbrochen und starrten auf die Zwerge. Gomling, der Kapitän der „Sturmbezwinger“, trieb sie jedoch mit barschen Worten wieder zur Arbeit an. „An die Ruderriemen, ihr Glotzaugen!“, rief er. „Und wieder hoch mit Quermast und Segel! Sonst treibt es uns so schnell hinaus in das Südmeer, dass wir Jahre brauchen, um zurückzukehren. Oder, schlimmer noch, wir landen in der kochenden Meereshölle!“

Die Männer gehorchten. Das Meer hatte sich inzwischen deutlich beruhigt, und das viel schneller als nach einem gewöhnlichen Sturm. Der Wassergeist schien sich tatsächlich zurückgezogen zu haben. Tomli versuchte, ihn mithilfe seiner magischen Kräfte zu erspüren, jedoch vergebens. Vielleicht hatte der Wassergeist ja auf längere Sicht das Weite gesucht und war durch Tomlis übermäßig starken Einsatz von Magie so eingeschüchtert, dass er so schnell nicht noch einmal angreifen würde.

Kapitän Gomling stand breitbeinig an Deck und stemmte die Fäuste in die Hüften, während er hinaus aufs Meer blickte. Er war ein hoch gewachsener, breitschultriger Mann mit rabenschwarzem Haar, das unter einem knallroten Kopftuch hervorquoll, und einem dichten Bart. Er trug kniehohe Lederstiefel, eine dunkelblaue Stoffhose, ein Hemd in der gleichen Farbe und darüber eine braune Lederweste. An seinem breiten Gürtel mit der großen Silberschnalle hingen ein langes Messer und ein Beutel, in dem sich Münzen aus aller Herren Länder befanden. Sie klimperten bei jedem Schritt, den Gomling tat, sodass man immer schon von Weitem hörte, wenn er sich näherte.

Er stammte aus Ashkor, der Hauptstadt des Seereichs, und transportierte mit seiner „Sturmbezwinger“ Handelswaren und Passagiere rund um den Kontinent des Zwischenlandes. Vom Hof des Elbenkönigs Daron in Elbenhaven bis nach Cosanien hatte er wohl schon jeden größeren Hafen irgendwann einmal angelaufen.

„Meine Männer sind so viel Magie nicht gewohnt“, erklärte er mit rauer Stimme. „Und ehrlich gesagt, wenn ich gewusst hätte, dass ich es mit Zauberern zu tun habe, hätte ich Euch vielleicht gar nicht an Bord genommen.“

„Ihr solltet eigentlich froh sein, dass einige unter uns über Zauberkräfte verfügen“, erwiderte Saradul, während er an den Zöpfen herumzupfte, zu denen er seinen Bart geflochten hatte. Seine Augen wurden schmal, und sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Tomli kannte seinen Lehrmeister gut genug, um zu wissen, dass er gerade sehr ungemütlich zu werden drohte. „Wäre es Euch vielleicht lieber, dieses Monstrum aus dem Meer hätte Euer Schiff verschlungen? Ihr solltet uns dankbar sein, Käpt’n Gomling!“

Der Kapitän trat mit dem Fuß auf eine der verrußten Stellen. Das Holz war jedoch derart verkohlt, dass ein Stück herausbrach und ins Innere des Schiffes fiel. Lautes Wiehern war daraufhin von dort zu hören, denn Lirandil und Olfalas hatten ihre Elbenpferde unter Deck in den Laderäumen untergebracht, die auch für den Transport von Tieren eingerichtet waren.

„Dafür soll ich auch noch dankbar sein?“, maulte Gomling. Er wandte sich an Tomli und Arro. Nacheinander musterte er die Zwergenjungen von oben bis unten und fuhr dann fort: „Mag sein, dass Eure Magie uns gerettet hat – aber die Frage ist doch, ob wir überhaupt in Gefahr geraten wären, wenn ich Euch Zwerge und Elben nicht an Bord gehabt hätte!“

„Wollt Ihr etwa behaupten, dass wir diesen Wassergeist herbeigerufen hätten?“, ereiferte sich Meister Saradul, und sein Gesicht lief dabei dunkelrot an. „Genauso gut könnte ich Euch den Vorwurf machen, dass Ihr diese Gewässer nicht gemieden und uns nicht in einem weiten Bogen nach Rugala gebracht habt!“

„Ihr seid also nicht nur ein Zauber-, sondern auch ein Segelmeister?“, fragte Gomling herausfordernd, während sich seine Gesichtsfarbe der von Meister Saradul anglich. „Verzauselter alter Zopfbart!“

Tomli wollte eingreifen, aber ihm fiel nichts ein, was die beiden hätte beschwichtigen können.

Arro der Starke, wie sich der Lehrling des Zwergenschmieds Yxli gern nennen ließ, schien genauso ratlos. Er bückte sich und nahm Ubraks Streitaxt an sich. Diese magische Waffe war einfach zu wertvoll, um sie auch nur einen Augenblick länger als unbedingt nötig aus der Hand zu geben.

„Was weiß ich, wieso diese Kreatur uns angegriffen hat!“, rief Gomling mit weit ausholender Geste. „Tatsache ist, dass ich die Gewässer zwischen Kap Hiros und Rugala schon seit vielen Jahren befahre und nie irgendwelche Schwierigkeiten mit übernatürlichen Erscheinungen oder anderen geisterhaften Bedrohungen hatte, vor denen sich die Menschen in Hiros so fürchten!“

„Der Angriff des Wassergeistes hatte nicht das Geringste mit unserer Anwesenheit an Bord der 'Sturmbezwinger' zu tun!“, gab sich Saradul überzeugt.

„Die Gefahr dürfte jedenfalls vorläufig gebannt sein“, mischte sich Lirandil ein. Seine Stimme klang ruhig und besonnen, wie es seiner Art entsprach, und sie hatte auf Meister Saradul und Kapitän Gomling eine mäßigende Wirkung. Tomli überlegte, ob Lirandil möglicherweise heimlich irgendeine Form von Elbenmagie angewandt hatte. „Der Wassergeist dürfte mit so viel magischer Gegenwehr nicht gerechnet haben“, vermutete Lirandil. „Wahrscheinlich ist er jetzt erst mal eingeschüchtert.“

Kapitän Gomling runzelte die Stirn und kniff ein Auge zu, während er den Elb mit dem anderen misstrauisch musterte. „Ich sollte Euch alle über Bord werfen lassen“, grummelte er, „aber dafür habe ich ein viel zu gutes Herz.“

Er wandte sich an Ambaros. Der Zentaur hatte sich gerade auf unsicheren Beinen erhoben, nachdem die „Sturmbezwinger“ nun nicht mehr so stark schaukelte.

„Ich hätte einem alten Freund eben keinen Gefallen tun und irgendwelches Zaubergesindel an Bord nehmen sollen, das nichts als üble Flüche und Geisterkreaturen anlockt“, brummte Gomling. Dann entschied er: „Ich bringe Euch nach Rugala, wie ich es versprochen habe, Ambaros. Du brauchst also nicht vor Angst einen Zentaurenapfel auf das Deck meines Schiffes fallen zu lassen. Aber unsere Freundschaft ist damit beendet.“

„Aber, Gomling, ich …“

„Spar dir dein Gewieher, und lass mich zufrieden! Und vor allem betrete nie wieder die Planken eines Schiffs, auf dem ich Käpt’n bin!“

„Ihr tut Ambaros unrecht“, mischte sich Lirandil erneut ein. „Und uns ebenfalls. Wie gesagt, der Wassergeist wird es sich zweimal überlegen, bevor er sich dem Schiff noch einmal nähert. Und Ihr habt ja gesehen, dass wir in der Lage sind, eine derartige Gefahr abzuwehren. Ihr und Eure Leute aber wäret ihm rettungslos ausgeliefert gewesen, hätten wir uns nicht an Bord befunden.“

Doch Gomling machte eine verächtliche Handbewegung. „Wärt Ihr nicht an Bord gewesen, wären wir niemals in diese Lage geraten“, beschwerte er sich noch einmal und ging dann davon, um seinen Männern bei der Bergung des Segels zu helfen.

Inzwischen hatten die restlichen Seeleute die Ruderriemen an den dafür vorgesehenen Halterungen befestigt und ausgefahren. Der Steuermann rief von seinem Platz aus seine Befehle, und kräftige Ruderschläge sorgten dafür, dass das Schiff nicht noch weiter abtrieb.

Tomli sah in die Ferne.

Am Horizont war eine dunstige Nebelwand aufgetaucht.

Irgendwo dort im Nordwesten musste Rugala liegen, das Ziel der Gefährten. Nur dort gab es eine ganz besondere Art von Drachen, deren Schuppen aus magischem Dunkelmetall waren. Eine solche Schuppe gehörte zu den sieben Dingen, die sie finden mussten, um das Unheil aufzuhalten, das sich in den tiefsten Höhlengewölben unter der Zwergenstadt Ara-Duun auftat und nicht nur Rhagardan und das Zwischenland, sondern letztlich die ganze Welt bedrohte. Ein Weltenriss, der sich immer weiter öffnete und am Ende alles vernichten würde, wenn es nicht gelang, ihn mit starker Magie wieder zu schließen.

Tomli hoffte, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis das Schiff die Meeresstraße zwischen Hiros und Rugala durchquert hatte.



Das magische Buch

Tomli stieg durch eine Luke ins Innere des Schiffs. Er wollte nach Olba sehen. Sie war wie er selbst und Arro eines der drei Zwergenkinder, die laut einer Prophezeiung des Orakels von Shonda dazu ausersehen waren, die sieben magischen Gegenstände zu finden und gegen das Unheil einzusetzen.

Tomli, Arro und Olba waren die letzten Nachfahren des legendären Zwergenschmieds Ubrak, der vor vielen Zeitaltern durch ein misslungenes magisches Experiment den Weltenriss verursacht hatte. Dieser Riss war in der Zeit, die inzwischen vergangen war, immer größer geworden, und mittlerweile war die Gefahr, der man so lange keine Beachtung geschenkt hatte, derart bedrängend geworden, dass man nicht länger die Augen davor verschließen konnte.

Selbst die Elben im fernen Elbiana hatten die Bedrohung bereits mittels ihrer Magie erspürt, und so hatte der Elbenkönig Daron den Fährtensucher Lirandil und seinen Schüler Olfalas in den Süden entsandt, um eine Möglichkeit zu finden, den Riss zu schließen.

Zwei der magischen Gegenstände, die dafür gebraucht wurden, waren schon gefunden worden: Ubraks Dunkelmetall-Amulett hatten sie einem Troll in Obhut gegeben, damit es sicher aufbewahrt war, und Ubraks legendäre Streitaxt hatten sie in Cosanien gefunden; Arro trug sie seitdem ständig bei sich.

Von Cosanien aus waren sie dann mit diesem Schiff nach Westen aufgebrochen. Kapitän Gomling war ihnen von dem Zentauren Ambaros empfohlen worden, der als Händler ständig von Elbiana im Norden zu den Sandlanden von Rhagardan im Süden und zurück reiste. Wenn jemand wusste, welche Kapitäne fähig und vertrauenswürdig waren und einem hinsichtlich des Preises für die Passage nicht übers Ohr hauten, dann zweifellos er.

Bisher hatte es auch keinerlei Schwierigkeiten mit Gomling und der Mannschaft der „Sturmbezwinger“ gegeben. Selbst für den Transport der Elbenpferde war das Schiff bestens eingerichtet.

Zudem war die „Sturmbezwinger“ eines der wenigen Schiffe, die regelmäßig die Insel Rugala anfuhren. Die meisten segelten nämlich nur bis Hiros und machten dann bei der Weiterfahrt nach Tagora, Perea oder zu den Küstenstädten der Südwestlande einen großen Bogen um diese verwunschene Insel. Das lag nicht nur an den schwierigen Strömungen und Winden, die dort herrschten, sondern vor allem an den geisterhaften Erscheinungen, für die dieses Seegebiet berüchtigt war.


Tomli erreichte den ersten Laderaum und zwängte sich zwischen großen, fest verschnürten Kisten hindurch bis zu einer freien Fläche, wo mehrere Decken auf dem Boden lagen. Es war ein einfaches Lager ohne Luxus. Hier lag, in eine Satteldecke eingerollt, die eigentlich Lirandils Pferdedecke war, das Zwergenmädchen Olba.

Alle drei Zwergenkinder und auch Meister Saradul hatten die ganze letzte Zeit über sehr unter der Seekrankheit gelitten, was daran lag, dass ihr Volk vorwiegend unterirdisch lebte und ihnen allein beim Anblick des Meeres mulmig im Magen wurde. Bei besonders sensiblen Zwergen war das schon so, wenn sie die größtenteils unterirdisch gelegene Zwergenstadt Ara-Duun verließen und sich zu weit in die endlos erscheinende Wüste begaben.

Normalerweise gewöhnte sich ein Zwerg aber mit der Zeit sowohl an die Weite der Wüste (die Tomli nie Schwierigkeiten bereitet hatte) als auch an das Meer -

zumindest einigermaßen, denn auch Tomli und Arro hatten bei hohem Seegang immer wieder zu leiden. Bei Olba war es jedoch besonders schlimm.

„Wie geht es dir?“, fragte Tomli.

„Schlecht“, antwortete sie. „Ich hoffe, dass wir bald die Küste von Rugala erreichen, damit ich wieder festen Boden unter die Füße kriege.“ Sie hatte ein rundes, sonst sehr freundlich dreinschauendes Gesicht, und für gewöhnlich hatte sie ihr langes, helles Haar zu Zöpfen geflochten, die dann unter ihrem Zwergenhelm hervorschauten. Aber in den letzten Tagen war ihr so übel gewesen, dass sie sich nicht dazu hatte aufraffen können, ihr Haar zu flechten, und so trug sie es offen.

„Eigentlich müsstest du es doch voraussehen“, meinte Tomli.

„Was?“

„Na, ob wir bald die Küste von Rugala erreichen oder uns die Strömungen dieses Seegebiets hinaus in das Südmeer oder vielleicht sogar bis in die Kochende See treiben.“

„Ja, oder bis nach Athranor, die alte Heimat der Elben“, sagte sie, und Spott lag in ihrer Stimme. „Das sind doch alles nur Geschichten, Tomli. Wahrscheinlich gibt es weder das eine noch das andere.“

„Athranor hat es gegeben, Lirandil kann das bezeugen. Und was die Kochende See betrifft …“

„… erzählen die Seeleute in Hiros viel davon, damit sich niemand anderes traut, diese Gewässer zu befahren, sodass sie keine Konkurrenz zu fürchten brauchen“, unterbrach sie den Zwergenjungen. „Dazu passt auch das Theater mit den dressierten Adlern, die angeblich vor Geistererscheinungen warnen.“

„Der Wassergeist, der uns gerade angegriffen hat, war auf jeden Fall nicht irgendeiner Geschichte entsprungen“, hielt Tomli dagegen. „Er hätte das Schiff um ein Haar vernichtet.“

„Und nun wunderst du dich sicher, weshalb ich das nichts vorausgesehen habe.“

So direkt hatte Tomli das nicht sagen wollen, aber genau diese Frage beschäftigte ihn schon eine Weile. Olba verfügte über die Gabe, Dinge vorauszusehen, die sich in kurzer Zeit sehr wahrscheinlich ereignen würden. Ein magisches Talent, das äußerst praktisch war, wenn es darum ging, einer Gefahr rechtzeitig aus dem Weg zu gehen. Aber in diesem Fall schien es völlig versagt zu haben.

„Die Wahrheit ist: Ich habe tatsächlich nichts gesehen, Tomli“, gestand sie ein.

„Gar nichts?“, fragte der Zwergenjunge voller Unglauben und runzelte die Stirn. „Aber sonst siehst du doch stets etwas.“

„Die zweite Wahrheit ist: Es ist so, seit wir den Hafen von Hiros verlassen haben. Seitdem scheine ich meine Fähigkeit verloren zu haben. Da ist nichts mehr, kein Bild aus der Zukunft, das mich plötzlich bedrängt. Ich kann noch nicht einmal vorhersagen, welche ungenießbaren Dinge uns der Schiffskoch zum Frühstück anbieten wird oder ob gleich die Sonne zwischen den Wolken hindurchkommt. Nichts. Vorhin hat sich eine Spinne an ihrem Faden auf mich herabgelassen, und ich habe mich tatsächlich erschreckt. Normalerweise hätte ich das vorhergesehen und wäre zur Seite gerückt.“

„Was meinst du, woran das liegt?“, fragte Tomli.

„Muss wohl mit der Seekrankheit zusammenhängen.“

„Hast du auch nicht die Kraft dieses Wassergeistes gespürt?“

„Nein.“

„Und seine bedrängenden Gedanken empfangen?“

„Auch nicht. Tut mir leid. Meister Saradul muss sie gespürt haben, denn er ist, wie von einer Höhlentarantel gestochen, aufgesprungen und hat einen Strahl aus geballter magischer Kraft geradewegs durch die Planken geschickt.“ Sie deutete nach oben. Nicht einmal ein Rußfleck war dort zu sehen, so gut hatte der Zwergenzauberer seine Kräfte dosiert. Tombli hoffte, das irgendwann auch einmal so gut zu beherrschen.

„Wir Zwerge sind keine Geschöpfe des Meeres“, meinte Olba. „Daran muss es wohl liegen.“

„Es gibt aber Überlieferungen, denen zufolge wir nicht immer unter der Erde lebten und früher sogar selbst zur See gefahren sind“, gab Tomli zu bedenken. „Damals, als …“

„… als wir Zwerge von Ara-Duun noch nicht der Verschüttete Stamm waren und genau wie die Elben in Athranor lebten“, fiel sie ihm ins Wort. „Ach, Tomli. Ich weiß nicht, ob man wirklich alles glauben sollte, was so überliefert ist. Und selbst, wenn es stimmt, ist es so lange her, dass es heute keine Bedeutung mehr hat.“

Sie richtete sich mühsam auf, hielt sich aber gleich darauf den Bauch, weil ihr offenbar schlecht wurde. Trotzdem versuchte sie zu lächeln, doch es gelang ihr nicht wirklich.

„Dein Meister Saradul hat mir mit seiner Magie leider nicht helfen können“, sagte sie. „Und du ja auch nicht. Selbst die Heilkunst der Elben hat bei mir versagt. Von dem Trank, den Lirandil mir aufgebrüht hat, ist mir sogar noch schlechter geworden.“

„Es ist ein Trank für Elben, nicht für Zwerge“, nahm Tomli an, dem es ja auch nicht besser ergangen war.

Olba seufzte. „Ich kann nur hoffen, dass meine Fähigkeit der Voraussicht zurückkehrt, sobald ich mich wieder an Land befinde. In Hiros ist es mir gleich besser gegangen, erinnerst du dich?“

„Ja.“

Olba hatte sich in Hiros gut erholt, aber als die „Sturmbezwinger" dann wieder hinaus aufs Meer gefahren war und sie das unruhige Seegebiet erreichten, in dem sich die Strömungen des Südmeers und des Pereanischen Meeres kreuzten, hatte die Seekrankheit das Zwergenmädchen umso schlimmer gepackt.

„Notfalls müsst ihr die Drachenschuppe ohne meine Hilfe holen“, befürchtete Olba.

„Das wird selbst mit deiner Hilfe noch schwer genug“, war Tomli überzeugt. „Jedenfalls kann ich mir nicht vorstellen, dass sich irgendein Drache eine Schuppe so einfach wegnehmen lässt. Da wären deine Fähigkeiten schon ganz nützlich.“

Neben Olbas Schlafstatt lag ein aufgeschlagenes Buch. Es war aus Rostgoldplatten gefertigt und das Werk des Zwergenmagiers Heblon. Meister Saradul ließ es normalerweise niemals aus den Augen. Diese magische Schrift war einfach zu wertvoll, denn sie enthielt all das Wissen, das Meister Heblon zusammengetragen hatte.

Saradul hatte wohl darin gelesen und war in die sich ständig verändernden metallenen Seiten vertieft gewesen, als der Wassergeist angegriffen hatte. Andauernd erschienen auf den Rostgoldseiten neue Schriftzeichen und Bilder, und es bedurfte schon eines starken, magisch talentierten Geistes, um das Buch lesen zu können. Selbst die goldene Oberfläche der Seiten und des Einbandes wurde nur unter Anwendung von Magie sichtbar, ansonsten schien Heblons Buch aus rostigen Metallplatten zu bestehen, die mit einer Bindung aus Drahtringen zusammengehalten wurden.

Der Rucksack, in dem Saradul dieses Buch normalerweise mit sich herumschleppte, lag am Boden. Das Buch hatte zwar ein beträchtliches Gewicht, aber das machte dem Zaubermeister offenbar nichts aus. „Schließlich bin ich ja ein Zwerg und kein schwächlicher Mensch“, pflegte er zu sagen.

Der Text auf der Seite, die er aufgeschlagen und magisch bearbeitet hatte, als er gestört worden war, handelte über die Drachen von Rugala und ihre aus magischem Dunkelmetall bestehenden Schuppen. Die Bilder, die sich immer wieder auf der Oberfläche der Rostgoldseiten formten und bisweilen daraus hervortraten wie Reliefs, bewegten sich sogar.

Die rugalischen Drachen waren riesenhafte Geschöpfe von stämmigem Körperbau, die sich auf säulenartigen Beinen fortbewegten. Sie konnten Feuer speien, und am Ende ihres Schwanzes, den sie wie eine Keule einsetzten, befand sich eine Knochenkugel. Ein einziger Schlag damit genügte, um ein ganzes Haus dem Erdboden gleichzumachen.

Der Körper dieser Drachen war von plattenähnlichen Schuppen bedeckt, die aus purem Dunkelmetall bestanden. Die Drachenhaut, die dazwischen feurig hindurchschimmerte, ließ die Geschöpfe wirken, als glühten sie aus dem Inneren heraus.

Tomli berührte das Rostgoldbuch mit den Fingerspitzen. Offensichtlich wirkte immer noch die Magie von Meister Saradul in dem Metall, denn kleine Lichtblitze tanzten darüber hinweg.

Einige der Kolonnen von Schriftzeichen traten deutlicher hervor, verwandelten sich ebenfalls in Bilder, und auf einem davon richtete sich ein rugalischer Riesendrache auf die Hinterbeine auf. Im Hintergrund war der Wachturm einer Burg zu sehen, sodass auf den ersten Blick die gewaltige Größe dieses Geschöpfes zu erkennen war.


Der Drache wandte sein echsenhaftes Gesicht in Tomlis Richtung. Sein Kopf erhob sich bereits eine Handbreit über der Rostgoldseite. Er hatte längst den metallenen Glanz verloren und die natürliche Färbung des Drachen angenommen, als würde er jeden Moment zum Leben erwachen.

Tomli, der sich vor dem Buch niedergekniet hatte, zuckte zurück.

Der Umgang mit dem Buch des Heblon war für ihn zwar nichts Neues mehr, aber die Lebendigkeit der Abbildungen jagte ihm noch immer einen leichten Schrecken ein. So stark hatte Tomli die Magie des Buches auch noch nie zu spüren bekommen.

Aus dem Maul des Drachens züngelte auf einmal ein Feuerstoß. Tomli spürte die Hitze, und der Geruch von Schwefel hing in der Luft.

„He, stell keinen Unsinn damit an!“, rief Olba.

Tomli wandte sich ihr zu. „Du hast auch das hier nicht vorhergesehen, nicht wahr?“

„Erinnere mich nicht andauernd an meine Schwäche. Es ist furchtbar. Ich wusste bisher gar nicht, wie sehr ich mich daran gewöhnt habe, gewisse Dinge vorauszuahnen.“

Auch sie starrte fasziniert auf die metallenen Seiten, aus denen sich eine weitere Gestalt erhob, die vollkommen aus Wasser bestand. Der rugalische Drache fauchte sie wütend an.

Das Wasserwesen veränderte sein Äußeres, nahm menschliche Gestalt an und streckte die Arme mit den langfingrigen Händen nach dem Drachen aus.

Der öffnete sein Maul und ließ einen gewaltigen Feuerstoß aus seinem Rachen schießen, der die Gestalt des Wassermenschen für einen Augenblick vollkommen einhüllte. Die Farbe des Feuers war zuerst grünlich und nahm dann einen kalten Blauton an.

Der Wassermensch war innerhalb der Flammen nur noch als flirrender Umriss zu erkennen. Aus seinen Händen schoss etwas Helles hervor, ein Wasserstrahl, der von grellem Licht umflort wurde. Zischend wurde das Drachenfeuer gelöscht. Der Strahl hatte sogar noch die Kraft, den Drachen ein ganzes Stück zurückzutreiben. Das riesenhaft erscheinende Geschöpf brüllte auf. Aus seinem Maul drang nur noch eine schwache Stichflamme, gefolgt von einer schwarzen Rußwolke.

Der Wassermensch war etwas kleiner geworden, und Tomli erkannte sofort, dass das nichts mit der bildlichen Darstellung in Heblons Buch zu tun hatte. Der Wassermensch hatte einen Teil seiner Masse abgegeben und war dadurch geschrumpft.

Der Drache fauchte, da traf ein weiterer Wasserstrahl sein Maul. Eine Wolke aus weißem Dampf quoll zwischen seinen Zähnen hervor. Er schlug mit der gewaltigen Knochenkeule an seinem Schwanzende um sich und traf den Wassermenschen, der inzwischen nicht einmal mehr halb so groß war wie zu Beginn des Kampfes.

Er versuchte erst gar nicht, dem Schlag auszuweichen, die Knochenkeule fuhr durch ihn hindurch, und seine Gestalt zerfloss zu einer Pfütze, die sich zu einem schlangenähnlichen Körper wieder zusammenfand und sich aufrichtete.

Dann bildete sich erneut ein menschlicher Körper. Nur der Kopf behielt zunächst ein schlangenähnliches Aussehen. Er glich dem Gesicht des Wassergeistes, der das Schiff angegriffen hatte.

Das Wesen riss das Maul weit auf, wandte den Kopf, und Tomli hatte das Gefühl, als sähe es ihn geradewegs an. Dort, wo man die Augen vermutet hätte, leuchtete es auf magische Weise.

Das Wesen stieß ein lautes Zischen aus, und erschrocken riss Tomli seinen Zauberstab hervor.

Es sind nur Gedanken, ging es dem Zwergenjungen im nächsten Moment durch den Sinn. In Wahrheit ist gar nichts zu hören!

Auf einmal aber wurde er von einem grellen Blitz geblendet. Weißes Licht umgab ihn, hüllte ihn völlig ein. Er schloss die Augen, doch das Licht leuchtete sogar durch seine Lider.

Ein brennender Schmerz durchflutete den Zwergenjungen vom Kopf bis zu den Zehenspitzen und lähmte ihn. Das galt nicht nur für seinen Körper, sondern auch für seine Gedanken. Die Zeit selbst schien für ihn stillzustehen.