Der neue Landdoktor 7 – Du bist mein Retter!

Der neue Landdoktor –7–

Du bist mein Retter!

Nicht nur deswegen liebe ich dich so

Roman von Tessa Hofreiter

»Zur Jugendherberge geht es dort entlang.« Kerstin Richter deutete auf das Hinweisschild am Ortseingang von Bergmoosbach. Sie saß ganz vorn im Bus und achtete auf den Weg.

»Schon gesehen.« Heinz Bodekind, der den Bus steuerte, nickte und ging langsam vom Gas.

»So, meine Lieben, wir sind gleich da!«, rief Kerstin und drehte sich zu den Mädchen des Schwabinger Fußballclubs um.

Die jungen Fußballerinnen, alle zwischen dreizehn und fünfzehn Jahre alt, die es sich auf den Sitzen bequem gemacht hatten, sahen ihre Trainerin nicht gerade begeistert an. Einige hatten noch Kopfhörer auf, die in ihren Smartphones steckten und die sie nur widerwillig abnahmen.

»Hier in dieser Einöde sollen wir drei Tage bleiben?«, wunderte sich ein Mädchen mit langen blonden Zöpfen. Gelangweilt schaute es aus dem Fenster und betrachtete das Dorf, das sich in einem hügeligen Tal am Fuße der Allgäuer Alpen vor ihnen ausbreitete.

»Ich habe euch doch gesagt, dass wir aufs Land fahren.«

»Schon, aber nicht ans Ende der Welt«, murrten einige Mädchen und setzten ihre Kopfhörer wieder auf.

»Das wird schon«, raunte Heinz Bodekind Kerstin zu und lenkte den Bus in die Seitenstraße, die sich in sanften Serpentinen einen Hügel hinaufschlängelte.

»Ich hoffe es«, seufzte Kerstin und lehnte sich wieder in ihren Sitz. Sie bewunderte die Ruhe, die Herr Bodekind stets bewahrte. Er hatte den Bus der Mädchenfußballmannschaft schon gefahren, als sie selbst vor beinahe zwanzig Jahren dort spielte. Inzwischen war er Anfang sechzig und hatte die Leitung seines Busunternehmens an seinen Sohn abgegeben. Die Mädchen aber fuhr er immer noch selbst, und Kerstin hatte ihn vor einiger Zeit sogar zum Mannschaftsbetreuer ernannt, der zusammen mit ihr auf der Trainerbank sitzen durfte.

Kerstin hatte der Begegnung mit den Bergmoosbacher Mädchen gleich zugestimmt, als Anna Bergmann sie vor einigen Wochen anregte. Anna hatte früher mit ihr in derselben Mannschaft gespielt und sich vor einigen Jahren als Hebamme in Bergmoosbach niedergelassen. Kerstin freute sich auf das Wiedersehen mit ihr und auch auf Matthias Bremer, den Trainer der Bergmoosbacherinnen. Matthias und sie hatten zusammen die Sportschule besucht, sich dann aber aus den Augen verloren. Sie war gespannt, was aus dem damals so schüchternen jungen Mann geworden war.

»Auch noch so ein altes Waldhaus«, stöhnten einige Mädchen, als Heinz schließlich vor der Jugendherberge anhielt.

»Dann bin ich auf jeden Fall richtig, ein alter Mann und ein alter Kasten«, erklärte Heinz und stellte den Motor des Busses ab.

»Sehr witzig, Herr Bodekind«, murrten die Mädchen und schauten auf den ehemaligen Bauernhof, den die Gemeinde schon seit langem als Jugendherberge nutzte.

Auf Kerstin machte das aus dunklem Holz erbaute Haus mit seinen zwei Stockwerken, den weißen Sprossenfenstern und den hellgrünen Dachziegeln einen freundlichen Eindruck. Es lag umgeben von Tannen mitten auf einer Wiese, hatte einen Spielplatz mit Klettergerüst und Schaukeln und einen Grillplatz.

»Jetzt seht euch doch erst einmal um«, beruhigte sie die Mädchen, während sie ihren Rucksack aus dem Gepäckfach über ihrem Sitz nahm.

»Wozu? Hier gibt es nur Wald und Wiesen«, meldete sich das blonde Mädchen mit den Zöpfen wieder zu Wort.

»Bitte, Lizzy, nörgle nicht an allem herum. Ich bin sicher, die Bergmoosbacher Mädchen werden euch schon etwas bieten.«

»Was denn? Sollen wir ihre Kühe auf den Weiden besichtigen oder die Auswahl in ihrem Tante-Emma-Laden bewundern?«

»Lizzy hat recht, mir ist jetzt schon total langweilig«, schloss sich ein rothaariges Mädchen mit rundem Gesicht und Sommersprossen an.

»Danke, Inka«, sagte Lizzy und nickte.

»Okay, Leute, steigen wir aus.« Kerstin zählte innerlich bis zehn, zog den weißen Pulli glatt, den sie über ihrer Jeans trug, schlüpfte mit einem Arm unter die beiden Trageriemen des Rucksacks und verließ den Bus.

Nach und nach folgten ihr die Mädchen, auch wenn sie sich weiterhin genervt zeigten. Schließlich standen sie alle mit ihren Rucksäcken über den Schultern neben ihr auf dem Parkplatz.

»Keine Menschenseele weit und breit«, seufzte Lizzy.

»Wir sehen uns erst einmal unsere Zimmer an«, schlug Kerstin vor.

»Das Madl wird immer dünner«, murmelte Heinz besorgt, der noch hinter dem Steuer des Busses saß.

Die hellblaue Regenjacke mit der Kapuze war der kleinen schmalen Frau zu groß, beinahe verloren sah sie darin aus, dabei hatte sie ihr vor ein paar Wochen noch gepasst, wie sich Heinz erinnerte. Auch das schwarze Haar hatte seinen seidigen Glanz verloren, und ihre dunklen Augen versprühten nicht mehr dengleichen Glanz wie noch vor einigen Monaten. Vielleicht braucht sie nur wieder eine Auszeit, so wie damals vor zwei Jahren, als er sie zufällig in der Stadt traf und sie ihm erzählte, dass sie für ein Vierteljahr verreisen würde. Als er sie dann später nach ihrer Rückkehr wiedersah, schien sie vollkommen erholt.

»Es wird schon nichts sein«, beruhigte er sich, während er durch den Bus lief und alles einsammelte, was die Mädchen liegen gelassen hatten.

»Willkommen in Bergmoosbach, Frau Richter, Madls.« Margot Wendelstein, die Herbergsmutter, stand in dem weiten Eingangsbereich und begrüßte die Schwabinger Fußballerinnen.

Margot war eine stattliche Frau mit dunklen kurzen Locken. Das grüne Dirndl spannte ein wenig in der Taille, aber das schien sie nicht zu stören. Sie war bester Laune, und ihr Lächeln stimmte sogar die missmutigen Mädchen ein wenig freundlicher.

»Auf den ersten Blick ist es ja ganz nett hier«, stellte Inka fest, und die anderen Mädchen nickten dazu.

Helle Dielen und helle Wände, eine schöne alte Holztreppe, die in die anderen Stockwerke hinaufführte, und ein Empfangstresen aus gemasertem Kiefernholz, hinter dem Fotografien der Gegend und einige Kinderzeichnungen hingen.

»Jetzt richtet euch erst einmal ein.« Margot verstellte den Eingang zum Aufenthaltsraum, als eines der Mädchen auf die geschlossene Tür zusteuerte.

»Wo sind unsere Zimmer?«, erkundigte sich Kerstin.

»Ihr seid an diesem Wochenende die einzigen Gäste, ihr habt den ganzen ersten Stock für euch. Es gibt dort auch zwei Einzelzimmer, eines für Sie und eines für den netten Herrn«, sagte Margot, als Heinz mit einer Reisetasche hereinkam.

»Herr Bodekind, unser Fahrer, Frau Wendelstein«, machte Kerstin die beiden miteinander bekannt.

»Guten Tag, Frau Wendelstein.« Heinz reichte Margot die Hand und betrachtete sie mit einem charmanten Lächeln.

Sie gefällt ihm, dachte Kerstin.

»Wer übernachtet mit wem im Zimmer?«, fragte Lizzy und baute sich vor den anderen Mädchen auf.

»Du hast wohl das Kommando?«

»Sie ist unsere Mannschaftskapitänin und unsere Torkönigin«, antwortete Inka der Herbergsmutter.

»Mei, die unsrige hat auch schon einige Tore geschossen. Sie kommt aus einem großen Verein«, erzählte Margot stolz.

»Aha, woher denn? Vielleicht aus Kaufbeuren oder Ottbeuren oder einer anderen niedlichen kleinen Stadt?«, fragte Lizzy, sichtlich überzeugt davon, dass sie keine Überraschung erwartete.

»Geh, in Toronto hat sie gespielt«, erwiderte Margot und sah in die Runde.

»Toronto, tatsächlich«, murmelte Lizzy und musste erst einmal schlucken. »Sehen wir uns die Zimmer an, Leute!«, rief sie und lief die Treppe hinauf.

»Echt Toronto?«, hakte Inka bei Margot nach.

»Ja, unsere Emilia ist dort geboren.«

»Interessant«, sagte Inka beeindruckt und eilte an Heinz vorbei, der schon auf halber Treppe hinauf in den ersten Stock war.

»In unserem Alter geht es ein wenig gemächlicher vorwärts«, seufzte er, als Inka ihn beinahe umrannte und er gerade noch zur Seite ausweichen konnte.

»Deshalb haben wir auch mehr Gespür für die Feinheiten«, erwiderte Margot, die den kleinen Vorfall beobachtet hatte.

»Was ich als sehr angenehm empfinde, Frau Wendelstein.«

»In einer Viertelstunde gibt es Kaffee und Kuchen für alle, in gemütlicher Atmosphäre, ganz ohne Hetze.«

»Ich werde es den anderen ausrichten.«

»Mei, so ein sympathisches Mannsbild«, flüsterte Margot und schaute Heinz noch eine Weile nach.

So wie der Empfangsbereich waren auch die Zimmer im ersten Stock mit hellen Kiefernmöbeln eingerichtet. In den drei Gemeinschaftsräumen standen Stockbetten, und in den Einzelzimmern, die beide ein eigenes Bad hatten, war das Bett so breit, dass auch zwei Personen bequem darin Platz finden konnten. Dunkelblaue Bettwäsche und hellblaue Gardinen sorgten für ein wenig Farbe.

Nachdem Heinz den Mädchen verkündet hatte, dass ihre Herbergsmutter mit Kuchen auf sie wartete, beeilten sie sich, ihre Sachen auszuräumen. Als aktive Sportlerinnen mussten sie keine Kalorien zählen, und Kuchen stand bei ihnen besonders hoch im Kurs.

*

»Leute, das müsst ihr euch ansehen!«, rief Lizzy, die wenig später als erste in den Aufenthaltsraum stürmte.

»Wow, das nenne ich einen Empfang«, erklärte Inka und blickte genauso erstaunt wie ihre Mannschaftskameradinnen auf die Mädchen des Bergmoosbacher Fußballvereins, die sie mit einem riesigen Willkommensbanner und Applaus begrüßten.

»Hallo, Anna!« Kerstin hatte ihre Jugendfreundin entdeckt, die inmitten der Mädchen stand. In Jeans und T-Shirt, das brünette Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, war sie ihr unter den Teenagern nicht gleich aufgefallen. »Ich freue mich, dich zu sehen, so einen Empfang haben wir gar nicht erwartet, danke«, sagte sie und umarmte Anna.

»Wenn wir schon einen Münchner Verein bei uns zu Gast haben, dann wollen wir dieses Treffen auch gebührend würdigen.«

»Schwabinger Verein«, wurde Anna von Lizzy verbessert.

»Klar, Leopoldstraße, Cafés und Clubs«, meldete sich ein Mädchen aus Bergmoosbach zu Wort.

»Und coole Boutiquen, die gibt es bei euch auf dem Land eher nicht«, entgegnete Lizzy und schaute auf das Mädchen mit den kurzen blonden Haaren, das ganz in Schwarz gekleidet war.

»Ich komme aus Hannover.«

»Das scheint dann wohl auch eine ziemlich farblose Gegend zu sein«, sagte Lizzy und rümpfte die Nase.

»Sind in Schwabing alle so arrogant wie du?«

»Lass es gut sein, Doro«, mischte sich ein großes schlankes Mädchen mit kastanienfarbenem Haar ein.

»Ich lasse mich aber nicht runterputzen, Emmi.«

»Aha, du bist die aus Toronto.« Lizzy hatte das Wappen auf Emilia Seefelds grünem T-Shirt entdeckt. Blau mit zwei weißen Balken und einem rotem Ahornblatt.

»Du kennst dich aus«, entgegnete Emilia.

»Wir haben gute Schulen in Schwabing.«

»Offensichtlich legt man dort aber nicht viel Wert auf gutes Benehmen. Hoffentlich spielt ihr wenigstens fair.«

»Werden wir sehen. Welche Position, Hannoveranerin?«, wandte Lizzy sich an Doro.

»Ich stehe im Tor«, erklärte Doro selbstbewusst. »Wer steht bei euch im Tor?«

»Ich«, antwortete Inka und stemmte die Arme angriffslustig in die Hüften.

»Am Sonntag auf dem Platz werden wir euch von unseren Qualitäten überzeugen«, sagte Doro.

»Große Chancen solltet ihr euch nicht ausrechnen«, entgegnete Inka.

»Mädchen, bitte, es geht um ein Freundschaftsspiel! Setzt euch hin und lernt euch erst einmal kennen«, bat Kerstin.

»Ein guter Vorschlag«, sagte Anna und sorgte dafür, dass an jedem Tisch Mädchen aus Bergmoosbach und aus Schwabing saßen. Sie hatte die Aufgabe einer zusätzlichen Betreuerin für die beiden Mannschaften übernommen, um Kerstin und Matthias in den nächsten Tagen ein wenig zu entlasten. »Margots Kuchen wird die Gemüter schnell beruhigen«, raunte sie Kerstin zu, als sie sich beide allein an einen Tisch setzten und die Mädchen sich über den selbst gebackenen Apfelstrudel mit Schlagsahne hermachten.

»Im Gegensatz zu meinen Mädchen finde ich die Ruhe und Abgeschiedenheit dieser Gegend sehr schön. Aber wo ist eigentlich Matthias?«, fragte Kerstin und schaute sich in dem Aufenthaltsraum mit seinen Kiefernholzmöbeln und weiß-blauen Gardinen um.

»Er gibt nachmittags Turnunterricht für die Vorschulkinder. Ich denke, er wird gleich da sein. Und nun erzähle mir ein bisschen von dir, wir haben uns eine Ewigkeit nicht gesehen. Ich war überrascht, als ich neulich wegen dieses Freundschaftsspiels in unserem alten Verein anrief und hörte, dass du jetzt dort Trainerin bist. Du warst doch diejenige, die immer betont hat, dass sie niemals zur Trainerin tauge.«

»Ich habe auch behauptet, dass ich nie Lehrerin werden könnte, aber offensichtlich lag ich da falsch«, antwortete Kerstin lachend.

»Wie lange trainierst du die Mannschaft schon?«

»Seit etwa einem Jahr. Die Schule, in der ich unterrichte, ist nur ein paar Straßen vom Fußballplatz entfernt, und einige Mädchen aus der Mannschaft waren damals schon bei mir im Sportunterricht. Sie wussten, dass ich eine Trainerlizenz besitze, und als ein neuer Trainer für die Mädchenmannschaft gesucht wurde, haben sie mich vorgeschlagen. Was ist mit dir, hast du schon mal daran gedacht, dich zur Trainerin ausbilden zu lassen?«

»Ich besuche gerade einen Lehrgang, aber behalte es bitte für dich. Außer Matthias weiß niemand davon«, sagte Anna leise.

»Ich schweige«, erklärte Kerstin mit verschwörerischer Miene. »Ich habe es übrigens nie bereut, dass ich diese Ausbildung gemacht habe, auch wenn es Arndt lieber wäre, ich würde die Vereinsarbeit einschränken.«

»Du sprichst von deinem Freund, diesem Autohausbesitzer, den du am Telefon erwähnt hast.«

»Das Autohaus Weißmüller hat nur Luxusmarken im Angebot, dementsprechend ist auch die Kundschaft. Arndt wird häufig zu Empfängen eingeladen, vorzugsweise an den Wochenenden. Er drängt mich jedes Mal, ihn zu begleiten. Wenn wir ein Spiel haben, geht das aber nicht.«

»Drängen klingt nicht gut.«