Im Sonnenwinkel 52 – Ihr ganzes Glück war nur ihr Kind

Im Sonnenwinkel –52–

Ihr ganzes Glück war nur ihr Kind

Roman von Patricia Vandenberg

Angela Rösch blickte auf die Uhr. Es war schon weit nach Mitternacht. Ihr Mann war noch immer nicht daheim, obgleich das Konzert doch spätestens seit elf Uhr zu Ende war und er mit dem Wagen nur zehn Minuten bis zu ihrer Wohnung zu fahren hatte. Das war nun schon das vierte Mal innerhalb der letzten zwei Wochen.

Angela ahnte schon den Grund. Eine Unmutsfalte erschien auf ihrer glatten Stirn. Sollte sie sich das bieten lassen? Sie dachte nicht daran. Sie war fest entschlossen, ihm gehörig die Meinung zu sagen.

Sollte das verflixte siebente Jahr ihrer Ehe auch für sie eine Wendung bringen? Sie wollte es nicht begreifen. Sie waren doch immer glücklich gewesen, und langweilig konnte es bei ihnen gar nicht werden, da Wolfgang als Konzertmeister häufig auf Reisen war. Ob er ihr aber immer treu war? Sie war davon überzeugt gewesen, denn bis vor vierzehn Tagen hatte sie keinerlei Grund zur Klage gehabt.

Und dann hatte er diese Elke Wiedinger getroffen, seine Jugendfreundin, die ein paar Monate zuvor ihren Mann verloren hatte.

Unbefangen hatte er Angela von diesem Wiedersehen erzählt, und sie hatte Elke sogar zu sich zum Abendessen eingeladen.

Ja, sie war voller Mitgefühl gewesen, obgleich Elke wahrhaftig nicht wie eine trauernde Witwe aussah.

»Wir müssen uns ein bisschen um sie kümmern«, hatte Wolfgang gesagt. »Es wäre nett, wenn ihr Freundinnen würdet.«

Pustekuchen, dachte Angela jetzt. Eine schöne Freundschaft wäre das. Sie will mir meinen Mann wegschnappen. Aber ich werde es ihm zeigen, und er wird sich wundern! Wenn er in den nächsten zehn Minuten nicht kommt, packte ich die Koffer und fahre morgen mit Babsi zu Paps.

Wolfgang Rösch kam auch während der nächsten zwanzig Minuten nicht, und voller Zorn begann Angela ihr Vorhaben zu verwirklichen.

Babsi, ihr fünfjähriges Töchterchen, wurde durch die Geräusche, die dabei unvermeidlich waren, geweckt.

Sie stand in der Tür und sah ihre Mutter aus schläfrigen Augen an.

»Was machst du denn da, Mami?«, fragte sie.

»Ich packe die Koffer«, erwiderte Angela grimmig.

»Warum?«

»Weil wir morgen zu Opa fahren.«

Sie kam plötzlich wieder zu sich, denn an dem Kind brauchte sie ihren Groll wahrhaftig nicht auszulassen.

»Fährt Papi denn auch schon morgen weg?«, fragte Babsi.

»Wahrscheinlich. Schlaf jetzt, mein Kleines, wir werden sehr früh fahren.«

*

Als Konzertmeister eines großes Sinfonieorchesters war Wolfgang Rösch bewundernde Blicke von Frauen gewohnt. Er fühlte sich dagegen gefeit, obwohl man auch ihm eine gewisse Eitelkeit nicht absprechen konnte. Er war glücklich und zufrieden in seiner Ehe mit Angela, und er liebte vor allem sein Töchterchen abgöttisch.

Ein klein wenig anders war es allerdings doch geworden, als er Elke Wiedinger, seine Jugendliebe, wiedertraf. Elke zeigte so unendlich viel Verständnis für seinen Beruf, sie begeisterte sich an der Musik, sie besuchte jedes seiner Konzerte. Bei der Bewunderung, die sie ihm zollte, vergaß Wolfgang, dass Angela nur daheim blieb, weil sie Babsi nicht allein lassen wollte.

Was war auch schon dabei, wenn er nach einem Konzert noch ein Stündchen mit Elke beisammensaß? Sie waren gute Freunde, sie war eine charmante, sehr attraktive Frau, mit der man sich sehen lassen konnte.

Als sie an jenem Abend vor vierzehn Tagen plötzlich vor ihm stand, hätte er sie allerdings fast nicht wiedererkannt. Was war aus der kleinen, ein wenig farblosen Elke geworden, die einmal seine Tanzstundenpartnerin gewesen war!

Damals hatte er sich eigentlich aus Mitleid ihrer angenommen, weil sie gar so schüchtern war und nie so schick gekleidet wie die anderen jungen Mädchen. Hingebungsvoll hatte sie ihn angehimmelt, und weil er seine Geige damals schon mehr liebte als jede andere Unterhaltung, war es ihm recht gewesen, eine so anspruchsvolle Freundin zu haben.

Davon konnte jetzt nicht mehr die Rede sein, denn Elke war eine wirklich attraktive und sehr elegante Frau geworden. Wolfgang sah dennoch irgendwie das kleine Mädchen von ehemals in ihr, und sie verstand es auch, ihm begreiflich zu machen, dass sie trotz allem Reichtum, den ihr früh verstorbener Mann ihr hinterlassen hatte, todunglücklich sei.

Er verstand es als Kavalierspflicht, sich ihrer ein wenig anzunehmen. Was waren auch schon die paar Stunden im Anschluss an ein Konzert, die er mal mit ihr verbrachte.

An diesem Abend war es jedoch anders. Elke war wieder im Konzert gewesen, sie hatte wieder in der vordersten Reihe gesessen.

Und sie hatten sich dann am Bühnenausgang getroffen.

»Du warst fantastisch wie immer, Wolf«, sagte sie schmeichelnd. »Ich verstehe gar nicht, dass deine Frau nie ein Konzert besucht.«

»Wegen Babsi«, erwiderte er. »Sie lässt das Kind nicht gern allein in der Wohnung.«

War Angela ein Hausmütterchen? Nein, das konnte man wohl doch nicht sagen. Aber sie war eine sehr liebevolle, fürsorgliche Mutter.

»Gehen wir noch ein Glas Wein trinken?«, fragte er gedankenlos.

»Ich wollte dich bitten, mich heimzubringen, denn ich hatte Pech mit meinem Wagen. Du könntest dir dann gleich mal mein Haus anschauen, und ein Glas Wein kannst du auch bei mir trinken. Oder hast du Hemmungen?«, fragte sie mit leichtem Spott.

»Natürlich bringe ich dich heim«, sagte er. Er war zu höflich, um zu widersprechen. Angela würde das akzeptieren. Sie hatte bisher noch keine Bemerkung darüber verloren, dass er schon ein paarmal nach dem Konzert mit Elke ausgegangen war. Wäre sie eine spießige Frau, hätte sie ihm bestimmt schon eine Szene gemacht. Ja, er wollte das richtigstellen. Vielleicht musste er es Elke deutlich sagen, dass er zufrieden und glücklich mit seiner Frau war.

Sie sprach während der Fahrt nicht über Angela, sondern über ihren Mann. Bisher hatte sie dieses Thema vermieden. Er war der Meinung gewesen, dass es schmerzlich für sie sei.

Wolfgang Rösch war ein sensibler Künstler, ebenso wie als Mensch, er vermutete nie etwas Schlechtes in einem Menschen. Musik war etwas zu Beglückendes, wer Musik liebte, konnte zu nichts Bösem fähig sein. Von Elke hätte er das schon gar nicht gedacht. Er hatte sie ja gekannt, als sie jung und schüchtern war, so ganz anders, als die anderen Mädchen.

Er wusste nicht, dass sie damals unter Hemmungen litt, die in ihrem Elternhaus erzeugt wurden. Ein sehr strenger Vater, eine verbitterte Mutter, ein recht bescheidenes Zuhause. Wolfgang hatte es nie kennen gelernt. Er wusste auch nicht, dass Elke die Tanzschule nur

besuchen konnte, weil sie in den Morgenstunden Zeitungen austrug. Das

hatte sie nie gesagt, obgleich ihm vielleicht gerade das Achtung abgenötigt hätte.

Aber Elke wollte nicht als armes Mädchen gelten. Sie schämte sich ihres Elternhauses. Sie beneidete die anderen, denen es besserging, glühend. Sie wollte nichts anderes, als einmal über diesen stehen, die damals auf sie herabschauten. Sie hatte es erreicht.

»Max war mein Chef«, sagte sie. »Ich kam zu ihm als Sekretärin, und er verliebte sich Hals über Kopf in mich.«

Auch das entsprach nicht ganz der Wahrheit, denn sie war als Stenotypistin in die Großhandelsfirma gekommen, und es hatte einige Zeit gedauert, bis sie den schwerfälligen Max Wiedinger systematisch umgarnt hatte.

»Max betete mich an«, fuhr Elke fort, aber anstelle wehmutsvoller Worte über seinen Tod, wie Wolfgang sie erwartete, verblüffte sie ihn mit der Bemerkung, dass sie ihn dennoch nicht geheiratet hätte, wenn er, Wolfgang, sie nicht im Stich gelassen hätte.

»Ich habe dich doch nicht im Stich gelassen, Elke«, sagte er. »Ich musste studieren. Ich konnte an eine Bindung nicht denken.«

»Aber du hättest mir schreiben und ein bisschen Hoffnung lassen können«, sagte sie schmollend. »Hättest du mich geheiratet?«

Daran hatte er wahrhaftig nicht gedacht. Für ihn war das Studium viel wichtiger gewesen, und so tief waren seine Gefühle für Elke auch damals einfach nicht gewesen.

Und auch sie hatte nicht an eine Ehe mit dem Studenten gedacht, der von Haus aus nicht vermögend war. Sie wollte ja nicht Mauerblümchen bleiben. Sie wollte etwas darstellen. Sie wollte einen reichen Mann haben.

Jetzt lagen die Dinge anders. Wolfgang hatte nicht nur eine glänzende Position, er hatte auch eine Professur an der Hochschule für Musik. Außerdem war er nicht mehr der ungelenke Junge von damals, sondern ein ungewöhnlich interessanter Mann.

Von alldem wusste Wolfgang natürlich nichts. Für ihn war sie die bedauernswerte junge Witwe, die viel zu früh ihres liebevollen Mannes beraubt worden war. In manchen Dingen war Wolfgang Rösch noch immer weltfremd, obgleich er schon fast die ganze Welt bereist hatte.

Nun hielten sie vor dem Haus, einem prachtvollen Bau, der zwischen modernen Bungalows demonstrativ die Vornehmheit der Jahrhundertwende ausdrückte.

Elke hätte lieber in einem modernen Haus gewohnt, doch dieses verlieh ihrem einsamen Dasein, mit dem sie heftig kokettierte, ein ganz besonderes Flair.

»Fürchtest du dich nicht darin?«, fragte Wolfgang bestürzt, denn er hatte für so imposante Bauten nicht viel übrig.

»Einsam fühle ich mich«, sagte sie betont wehmütig, »aber es ist wunderschön drinnen. Du wirst es ja sehen.«

Das Haus war fantastisch eingerichtet. Echte Teppiche, wertvolle Gemälde und Plastiken, vornehme Stilmöbel. Wolfgang fand seine moderne Wohnung jedoch entschieden gemütlicher.

»Gefällt es dir nicht?«, fragte Elke.

»Doch, sehr schön«, erwiderte er gleichmütig, »aber ich kann mich nicht lange aufhalten, Elke, das verstehst du doch.«

»Einen Drink wirst du ja wohl annehmen«, sagte sie. »Ich werde dich überraschen.«

»Kein Mixgetränk, bitte, das bekommt mir nicht«, sagte er. »Ein Bier wäre mir sogar lieber als Wein.«

»Bier habe ich leider nicht im Haus, aber der Wein, den ich dir kredenze, wird dir schmecken. Entschuldige mich bitte einen Augenblick.«

Sie blieb ziemlich lange aus. Er schaute sich um, aber eine Fotografie von Max konnte er nirgends entdecken. Er konnte sich überhaupt keine Vorstellung von diesem Mann machen. Ob vielleicht doch sein Geld ausschlaggebend für Elke gewesen war? Nein, das passte nicht zu dem Mädchen von einst. Aber sie hatte sich sehr verändert. Sie hatte sich vom farblosen Entlein zum schönen Schwan gemausert, das musste er zugeben.

Warum auch nicht? Sie war eine Frau. Sie hatte begriffen, dass man etwas aus sich machen konnte.

Angela konnte eigentlich auch mehr für ihr Aussehen tun, ging es ihm durch den Sinn. Immer trägt sie diese schlichte Sportkleidung, und immer noch diesen Pagenschnitt wie zu der Zeit, als sie sich kennenlernten.

Dass ihm gerade dieser so gut gefallen hatte, wollte er nicht mehr wahrhaben.

Nun kam Elke zurück, mit kostbaren Gläsern und zwei Flaschen Wein.

»Gleich zwei?«, fragte Wolfgang ironisch. »Ein Glas, mehr nicht.«

Elke lächelte rätselhaft. »Es ist doch noch gar nicht so spät. So langsam wird sich Angela daran gewöhnen, dass du ab und zu mal länger ausbleibst, vielleicht bekommt sie dann Geschmack daran, dich auch ins Konzert zu begleiten.«

»Ach, so meinst du das«, sagte er naiv.

»Ja, so meine ich das. Wie lange seid ihr verheiratet, Wolf?«

»Sieben Jahre, das weißt du doch.«

»Na eben, sieben Jahre, und das siebte ist das kritische. Da ist es ganz gut, wenn man seine Frau mal ein bisschen eifersüchtig macht. Dann überwindet man die Krise eher.«

Von einer Krise hatte er in seiner Ehe eigentlich noch gar nichts gespürt, aber er hatte auch nicht darüber nachgedacht.

»Sie fühlt sich deiner anscheinend schon zu sicher«, fuhr Elke leichthin fort. »Sie weiß nicht, wie du von den Frauen angehimmelt wirst.«

»Ach, das ist doch Blödsinn. Das merke ich doch gar nicht.

»Aber ich habe es bemerkt, und ich habe mich schon gefragt, ob Angela darüber wohl nachdenkt. Ich mag sie wirklich gern, deine kleine Frau, in ihrer Bescheidenheit und Zurückhaltung, die deiner Stellung aber durchaus nicht angemessen ist. Sie stammt wohl aus kleinen Verhältnissen?«

Das tönte nun doch ein wenig zu anzüglich in seinen Ohren, denn obgleich Elke nie darüber gesprochen hatte, wusste er doch, dass sie selbst aus sehr bescheidenen Verhältnissen kam.

»Durchaus nicht«, erwiderte er. »Sie stammt sogar aus einer sehr vermögenden Familie, ihr Vater ist ein bedeutender Wissenschaftler.«

»War das ausschlaggebend für deine Entscheidung?«, fragte Elke spitz.

»Für welche Entscheidung?«, fragte Wolfgang verblüfft.

»Angela zu heiraten, was sonst?«

Eigentlich hätte er nun hellhörig sein müssen, aber er lag im Zwiespalt mit seinem Gewissen. Er dachte daran, dass Angela auf ihn warten würde.

»Es war eine Liebesheirat wie sie im Buche steht«, erwiderte er heiser.

»Dann trinken wir auf Angela, eure Ehe und weitere glückliche Jahre«,

sagte Elke mit größter Selbstbeherrschung.

»Ja, das ist lieb von dir«, sagte er. »Ich hoffe sehr, dass ihr euch besser kennenlernt und richtige Freundinnen werdet. Wir haben einen netten Bekanntenkreis, in dem du auch Abwechslung finden wirst. Ich möchte wirklich nicht, dass Angela auf falsche Gedanken kommt.«

»Du bist ja ein richtiger Pantoffelheld«, sagte sie neckisch, und damit traf sie ihn an einer empfindlichen Stelle, denn dies ging gegen seinen Stolz.

»Das ist lächerlich. Wenn man verheiratet ist, möchte man doch keine Differenzen haben, die völlig überflüssig sind.«

»Nun werde doch nicht gleich gereizt, Wolf«, besänftigte sie ihn scheinheilig. »Ich halte dich ja nicht hier fest.«

Sie konnte ruhig sein. Sie hielt einen guten Trumpf in der Hand, von dem er nicht die leiseste Ahnung hatte.

Er schalt sich aller misstrauischen Gedanken, als sie gar keinen Versuch mehr machte, ihn länger aufzuhalten. Elke war wirklich reizend und nur eine gute Freundin. Sicher hatte er manche Bemerkungen nur missverstanden.

Er war auch nicht misstrauisch, als sein Wagen nicht anspringen wollte. Er wurde jetzt nur in Erregung versetzt.

»Zum Teufel, was kann denn das sein. Er war doch erst in der Inspektion.«

Das wusste Elke, denn er hatte es ihr beim ersten Wiedersehen gesagt, weil er da mit dem Taxi heimfahren musste.

»Gerade da wird viel versiebt«, sagte sie. »Alles muss schnell gehen, damit sie viel Geld scheffeln können.«

»Aber meine Werkstatt ist sehr zuverlässig, und der Wagen ist doch auch bestens gelaufen. Was mache ich jetzt nur?«

Er raufte sich das Haar, denn in technischen Dingen war der Künstler total hilflos. Er hatte nicht die geringste Ahnung, dass man einen Wagen mit einem kleinen Handgriff außer Betrieb setzen konnte, und da Elke sich bestens auf diesen Abend vorbereitet hatte, war sie genau informiert gewesen, wie man das machen musste.

»Wir rufen ein Taxi«, sagte sie.

»Aber wenn ich ohne Wagen heimkomme, wird Angela fragen, wo er steht. Weißt du, sie macht ja alles. Ohne sie bin ich aufgeschmissen.«

»Ja, dann weiß ich auch nicht, was wir machen sollen«, sagte sie spöttisch. »Du hast ja förmlich Angst vor deiner Frau. Warst du denn noch nie eine Nacht weg?«

»Nein, wozu auch? Ich bin oft genug auf Reisen, und wenn ich hier bin, möchte ich auch möglichst viel daheim sein.«

»Dann kann ich mir ja direkt etwas darauf einbilden, dass du mir eine kurze Stunde gewidmet hast«, sagte sie.